Читать книгу Das nächste Opfer: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 16
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ОглавлениеEigentlich wollte Rose nicht Richtung Moor. Aber der Hund zog, und außerdem war Jan da. Er hatte sie nach Hause gefahren, um eine Tasche mit Kleidung und anderen notwendigen Dingen zu packen.
Ihre Mutter war noch nicht von der Arbeit zurück, was es in gewisser Weise leichter machte. Sie hatte keine Lust auf eine Konfrontation und ihre Enttäuschung. Wollte am liebsten so schnell wie möglich fort, wenigstens für ein paar Tage, bis Alltag und Schule und die Pläne für das Reihenhaus das Bild in ihrem Kopf verblassen ließen.
Nicht, dass sie viel über dieses Haus nachgedacht hatte. Vor allem die Tote spukte in ihrem Kopf herum. Tags sowohl als nachts.
In ihren Träumen sah sie den Fuß auf dem Waldboden und den roten Stoff des Kleides, zerrissen und fließend wie eine blutige Welle. Sie sah auch das farblose Haar, das zu einem dunklen Schmutzfleck verklebt war, und die Axt, deren Schaft in die Luft stand. Aber vor allem die Augen machten ihr Angst, weil sie von den letzten Sekunden der Toten erzählten und doch nicht ihr Geheimnis preisgaben, sodass sie halb wach wurde und Ruhe bei Jan suchte, seinem Atem lauschte und darüber nachdachte, wie wenig die Lebenden von den Toten trennte. Ein Brustkorb, der sich hob und senkte. Sauerstoff und Blut, die durch den Körper gepumpt wurden. Ein kleiner Seufzer im Schlaf. Eine zitternde Augenbraue, ein bebender Nasenflügel. In Wirklichkeit nicht viel.
Während sie gingen, dachte sie darüber nach. Svendsen raste wie wild davon, und Jan sah sich wie ein Bodyguard nach allen Seiten um, während sein Arm auf ihren Schultern ruhte und sie nach unten drückte. Aber lieber das, als alleine zu sein. Gerade jetzt konnte sie sich nicht vorstellen, jemals wieder alleine zu sein.
»Die Leute vom Wasserwerk sind unterwegs.«
Er schien richtig stolz auf seine Beobachtung. Rose konnte den orangefarbenen Wagen ganz weit vorn auf dem Weg erahnen. Da, wo die großen Pumpen des Wasserwerks lagen.
»Sie sind zu zweit«, sagte er hellwach und drückte ihre Schultern noch ein wenig fester. Sie machte sich frei und griff nach seiner Hand.
»Sie müssen schließlich ihrer Arbeit nachgehen. Es kann doch nicht alles plötzlich stillstehen ...«
Sie wollte hinzufügen: »Nur weil jemand eine Leiche im Moor gefunden hat«, aber es fiel ihr noch immer schwer, darüber zu reden. Allein daran zu denken. Sich zu erinnern. Sich von der Angst durchdringen zu lassen, die sie seit dem Ereignis begleitete und der sie mit Vernunft zu Leibe zu rücken versuchte. Es war nur natürlich, sagte sie sich. Ein Schock. Mit der Zeit würde sich das geben. Aber die Lust, woanders hinzuziehen, hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie wollte nicht länger den niedergebrannten Stall der Nachbarn vor Augen haben und den süßlichen Gestank von verbranntem Fleisch riechen; sie wollte nicht Zeugin sein der ewigen Jagd ihrer Mutter nach allem, was hässlich und grausam war. Nach Unglücksfällen und Tod.
Doch als sie nach Hause gekommen waren, hatte Svendsen um einen Gang gebettelt und Jan mit der Stimme eines Psychologen gesagt, dass es keine schlechte Idee sei, den Hund bestimmen zu lassen und einen Spaziergang ins Moor zu machen. »Sonst kommst du nie darüber weg«, hatte er verkündet. Und es war dumm, das wusste sie. Das Moor war ideal für den Hund. Sie durfte nicht zulassen, dass ihr schrecklicher Fund sie das ganze Leben lang in Angst und Schrecken versetzte.
»Im Sommer kann man hier die Nachtigallen hören«, erklärte ihr Jan, während sie gingen.
Sie sah ihn überrascht an.
»Woher weißt du das?«
Er wusste die seltsamsten Dinge. Alles Mögliche, vor allem über die Natur und unbrauchbare statistische Erhebungen.
»Aus dem Internet.«
Sie kicherte.
»Hast du wirklich im Internet nach dem Kasted-Moor gesucht?«
Er zuckte mit den Schultern. Das Internet war sein Hobby. Er konnte stundenlang vor dem Computer sitzen, und ihre Mutter hielt ihn bestimmt für einen Langweiler.
»Früher hat man hier Torf gestochen, und jedes Anwesen hatte sein eigenes kleines Stück Torfmoor«, sagte er. »Bestimmt hat man nicht zum ersten Mal eine Leiche hier gefunden.«
»Eine Moorleiche? Von ganz früher?«, fragte sie.
Plötzlich klang er begeistert.
»Früher brachte man den Göttern Menschenopfer in der Hoffnung auf eine gute Ernte oder Jagd. Aber natürlich gab es damals auch Mörder.«
Sie stellte sich das Moor voller toter, rastloser Seelen vor, die eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Sie stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite.
»Ich dachte, dieser Spaziergang sollte mich beruhigen.«
Sie hatten sich dem Ende des Wegs genähert, wo der kleine Schuppen des Wasserwerks lag und der Bach vorbeifloss. Ein Mann mit einem Hund war stehen geblieben und sprach mit zwei Männern von den Stadtwerken Århus. Sie erkannte den Hund wieder. Er hieß Kris und war ein reinrassiger Pudel, für den Svendsen mit seinem Mischlingshintergrund nur Verachtung übrig hatte. Beide Hunde begannen auch prompt zu bellen, sobald sie in Hörweite voneinander waren.
»Da haben wir ja die glückliche Finderin.«
Die Worte kamen von Kris’ Herrchen. Sie hatte keine Ahnung, wie der Mann hieß. Sie kannte nur die Namen der Hunde von den Leuten, denen sie auf ihren Spaziergängen begegnete.
»Treibt es dich zum Tatort zurück?«
Es war freundlich gemeint, weshalb sie zu lächeln versuchte, während sie Svendsen kurz hielt und Jans Arm um ihre Schulter spürte.
»Es bringt nichts, Angst zu haben«, sagte sie tapfer.
Die beiden Männer vom Wasserwerk standen neben dem Lieferwagen; der eine hatte ein Walkie-Talkie in der Hand, aus dem eine Stimme schnarrte. Rose nahm an, dass er zu dem Werk Kontakt hielt, das am Waldrand lag, von wo sie gerade kamen.
»Hast du sie gefunden?«, fragte der andere Mann neugierig. Er hatte dunkle Locken und trug eine Brille mit dicken Gläsern und einem schwarzen Gestell, das sein ganzes Gesicht nach unten zu ziehen schien.
Rose nickte, sagte aber nichts. Eigentlich würde sie am liebsten umkehren, aber jetzt beschnupperten sich die Hunde und wedelten mit dem Schwanz.
Der Mann mit dem Walkie-Talkie sagte leise irgendetwas von einer Pumpe Nummer neun in sein Gerät. Freundliche blaue Augen streiften die ihren. Sie spürte, wie sie wie zufällig über ihren Körper wanderten, und wurde rot.
»Das muss schrecklich gewesen sein«, sagte der Mann mit der Brille und schüttelte die schwarzen Locken. »Irgendjemand hat erzählt, dass der Hund sie zuerst entdeckt hat.«
Der Mann mit dem Pudel nickte wissend, als sei er über alles bestens informiert. Rose fragte sich plötzlich, was geredet wurde und inwieweit sich die Geschichte mit der Zeit verändern würde.
»Es waren zwei Hunde«, erklärte er. »Der Hund der Toten war auch dabei, nicht wahr?«
Sie nickte wieder. Sie wollte Jan weiterziehen und sagen, dass sie gehen sollten, aber er sah sich interessiert die Pumpe an, die nichts anderes als ein grauer Betonklotz mit einer Kuppel aus grünen Glasfasern war, in die jemand ein Herz und ein paar Initialen geritzt hatte.
»Hier hat es im Sommer doch Probleme gegeben, als wir das Wasser abkochen mussten, nicht?«
Rose wusste, dass er auf die Periode anspielte, wo man Kolibakterien im Trinkwasser von Århus gefunden hatte. Seitdem war der Wasserturm an der Ringgade stillgelegt, weil man der Ansicht war, dass die Bakterien durch das Loch hineingeraten waren, das für den Handysendemast gebohrt worden war. Die Theorie ging davon aus, dass der Taubendreck auf dem Dach für die Verunreinigungen verantwortlich war.
Der Mann mit den blauen Augen hatte sein Walkie-Talkie ausgeschaltet.
»Auf unseren Wasserturm haben keine Tauben geschissen«, sagte er gemütlich.
Das löste eine längere Diskussion darüber aus, ob die Tauben wirklich die Schuldigen waren oder die Kolibakterien möglicherweise von einem Krankenhaus aus ins Trinkwasser gelangt waren.
»Vielleicht war das biologische Kriegsführung«, meinte der Mann mit dem Pudel mit Verschwörerstimme.
Rose rollte heimlich die Augen zum Himmel. Jan hatte schon seltsame Interessen, aber wenigstens hatte er die Unterhaltung in eine andere Richtung gelenkt.
Es schien zu wirken. Auf geheimnisvolle Weise verwandelte sich das Moor von etwas Bedrohlichem in etwas Alltägliches. Und als sie umdrehten und nach Hause gingen, ließ Jan ihre Hand los, und sie ging frei und summend den Weg entlang, während Svendsen mit der Nase am Boden schnüffelte und seine üblichen Duftmarken verteilte. Und plötzlich tauchte das Reihenhaus wie eine Traumblase auf, die über ihrem Kopf in den Himmel stieg. Sie sah ein Schlafzimmer mit einer geblümten Bettdecke und Blumen in einer Vase, flatternde Gardinen und die Sonne, die ein Viereck auf dem Boden wärmte. Sie konnte die Geborgenheit fast spüren.
Als sie nach Hause kamen, packte sie ihre Sachen und schrieb einen Zettel für ihre Mutter, die noch nicht aufgetaucht war. Ein paar Bedenken machten sich bemerkbar, aber sie ignorierte sie. Das war neu für sie, dass sie zuerst an sich dachte, aber jetzt war das die einzige Möglichkeit. Sie musste hier weg, auch wenn sich ihr bei dem Gedanken an eine Zukunft ohne das Haus und ohne ihre Mutter der Hals zusammenschnürte.
Als sie sich auf den Beifahrersitz von Jans schwarzem Corolla setzte, fiel ihr die grüne Puch Maxi auf, die neben der Treppe zum Haus der Nachbarn stand. Der Motor des Toyota war bereits angesprungen, die Sicherheitsgurte angelegt, als oben im Nachbarhaus die Tür geöffnet wurde und ein junges Mädchen, das Roses Spiegelbild hätte sein können, mit einem Rucksack über der Schulter und einem Sturzhelm unter dem Arm schnell die Treppe hinuntergelaufen kam. Die langen Haare wurden an den Kopf gedrückt, als sie sich auf das Moped schwang, den Sturzhelm aufsetzte und unter dem Kinn zumachte. Dann startete das Moped mit einem aggressiven Laut, der kaum zu seiner Größe passte, und das Mädchen verschwand mit quietschenden Reifen den Weg hinunter.
»Jemand, den du kennst?«
Rose schüttelte den Kopf, war sich aber nicht sicher. Irgendetwas an dem Mädchen kam ihr bekannt vor.