Читать книгу Momente des Erkennens - Emma zur Nieden - Страница 15

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Stefanie wartete geduldig vor Hannahs Wohnungstür. Sie stand bereits eine Weile davor und dachte, sie hätte sich mit der Zeit vertan. Hannah hatte ihr über die Sprechanlage mitgeteilt, dass sie sich schnell anziehen müsse und Stefanie noch ein paar Minuten warten solle. Endlich betätigte Hannah den Türdrücker, und Stefanie betrat den Hausflur.

Es wunderte Stefanie, warum Hannah die Wohnungstür nicht geöffnet hatte, damit sie eintreten konnte. Hannah wusste immerhin, wer kam. Vielleicht hat sie schlechte Erfahrungen gemacht, vermutete Stefanie. Als Hannah die Tür öffnete, blieb Stefanie die Luft weg. Hannah sah atemberaubend aus. Ihre halblangen dunkelbraunen Haare waren nass vom Duschen. Sie trug ein Muskelshirt, das die kräftigen Oberarme mit ausgeprägten Muskelpartien zeigte. Es schien, als habe Hannah das Shirt in halbnassem Zustand angezogen. Es klebte verführerisch an ihrer Haut. Die Konturen ihrer Brüste waren nicht zu übersehen. Eine enganliegende Freizeithose komplettierte das Bild einer ziemlich sportlichen Frau, die supersexy aussah. Stefanie wurde plötzlich furchtbar warm.

„Komm rein“, lud Hannah die Freundin ein und umarmte sie. „Tut mir leid, dass du warten musstest.“

„Macht nichts.“ Stefanie lächelte. Die Hitze ließ überhaupt nicht mehr nach. „Ich bin sowieso zu früh dran.“

„Ich freue mich über jede Minute, die du bei mir bist.“ Diesen Satz begleitete Hannah mit einem ihrer betörenden blauen Blicke, der Stefanie regelmäßig erröten ließ. Dieses Mal färbten sich ihre Wangen mit einem zarten Rot.

„Konntest du dich ohne schlechtes Gewissen davonmachen?“, fragte Hannah mit einem Zwinkern in den Augen.

„Ich kann den ganzen Nachmittag bleiben“, erklärte Stefanie. „Wir haben uns heute Morgen gestritten, und Ruth hat es vorgezogen, in die Uni zu flüchten. Normalerweise ist sie in vergleichbaren Situationen nicht vor dem Abend daheim.“

„Weil du mir ein oder zwei Stunden helfen willst?“, fragte Hannah entsetzt. Es war ihr offensichtlich peinlich, dass der Haussegen zwischen Stefanie und ihrer Partnerin ihretwegen schief hing.

„Nicht nur deshalb“, versuchte Stefanie den eigentlichen Grund für den Streit zu verschleiern.

Aber Hannah konnte zwei und zwei zusammenzählen. Fragend sah sie Stefanie an. „Weil du mit uns zum Segeln fährst?“

Stefanie nickte. Tatsächlich war Ruth richtiggehend sauer gewesen, weil Stefanie nachmittags nicht da wäre. Stefanie hatte Ruth gemäß ihrem Plan heute Morgen davon in Kenntnis gesetzt, dass sie am Nachmittag zwei Stunden bei Hannah wäre. Wie erwartet war Ruth vor Wut explodiert. Schließlich hatte sie am Abend zuvor die Kröte mit den Herbstferien schlucken müssen.

Stefanie erinnerte sich an die Szene am Frühstückstisch. „Ich hätte mir gewünscht, dass wir einen kleinen Spaziergang machen und ein bisschen Hand in Hand am Baldeneysee entlang schlendern, wenn ich mit der Arbeit fertig bin.“ Ruth hatte aufgebracht geklungen, als Stefanie beim Frühstück ihre Pläne für den Tag offenbart hatte. Vorwurfsvoll redete sie weiter: „Außerdem wollten wir an den Entwürfen für die Einladungen arbeiten.“

„Das können wir doch am späten Nachmittag noch erledigen“, hatte Stefanie versucht, die Wogen zu glätten.

„Dann habe ich dazu keine Lust mehr“, hatte Ruth trotzig verlauten lassen und war mit einem lauten Türenknallen aus der Wohnung gerauscht.

„Wir hatten vereinbart, dass wir gemeinsam die Karten für unsere Verpartnerung gestalten. Diesen Termin hatten wir Monate im Voraus für heute vereinbart. Man kann nicht einfach seine Pläne ändern oder zwischendurch andere Dinge erledigen. Jedenfalls nicht aus Ruths Sicht.“ Die Ironie in Stefanies Stimme signalisierte, dass sie über den Streit mit Ruth ziemlich genervt war, während sie Hannah davon erzählte. Dass Ruth in die Uni gefahren war, hatte Stefanie lediglich vermutet, weil sie gesehen hatte, dass deren Arbeitstasche nicht bei der Garderobe stand, als Stefanie selbst das Haus verließ.

„Jedenfalls können wir an deinem Vortrag arbeiten, bis er perfekt ist“, schlussfolgerte Stefanie. „Ich rechne nicht damit, dass Ruth vor Mitternacht zu Hause ist.“

„Wie wär´s mit einem Cappuccino oder einem Espresso?“, fragte Hannah stirnrunzelnd.

„Am liebsten Espresso.“

„Sollst du haben. Es tut mir leid, dass ihr euch meinetwegen gestritten habt.“ Hannah sah Stefanie mitleidig an.

„Das muss es nicht. Die Wogen werden sich wieder glätten“, verkündete Stefanie zuversichtlich.

Hannah bereitete den Kaffee in der Küche zu und balancierte ein Tablett mit zwei gefüllten Tassen und einem Teller mit etwas Süßem. „Ich habe heute Morgen fix eine Ladung Muffins gebacken. Nervennahrung, wenn wir an den Feinheiten des Vortrags feilen. Die werden wir bestimmt brauchen.“

„Das glaube ich zwar nicht, wie ich dich kenne“, vermutete Stefanie. „Der Text ist sicher schon perfekt.“

„Wir werden sehen. Ich habe die Leinwand und den Beamer im Wohnzimmer aufgebaut.“ Hannah wies auf die technischen Geräte, die vor dem Fernseher aufgestellt waren. „Ich schlage vor, dass ich den Vortrag halte und du an den Stellen einhakst, an denen ich mich unklar, unpräzise, unlogisch oder komisch ausdrücke.“

„Das hört sich nach einem phänomenalen Plan an“, bestätigte Stefanie euphorisch. „Aber ich weiß nicht, ob ich genügend Ahnung habe.“

„Darüber mach dir mal keine Gedanken. Du musst lediglich deinen gesunden Menschenverstand einschalten“, schlug Hannah vor.

„Okay, los geht´s.“ Stefanie setzte sich auf der Couch in Position, richtete ihren Blick auf die Leinwand und wartete auf Hannahs Vortrag.

Stunden später rauchten beiden die Köpfe. Sie hatten konzentriert gearbeitet. An verschiedenen Stellen des Vortrags ging es allenfalls um Kleinigkeiten, die verändert werden mussten. Allerdings konnten sie gemeinsam in seltenen Fällen dicke Denkfehler ausmachen und ausmerzen. Am Ende trug Hannah noch einmal den Text im Ganzen vor. Nach der intensiven Arbeit war der Vortrag stimmig. Hannah war eine gewandte Moderatorin, die an den passenden Stellen Anekdoten einstreute und ihre Ausführungen auf diese Weise lebendiger gestaltete. Stefanie wusste mit Sicherheit, dass das Vorhaben ein voller Erfolg werden würde.

„Puh, das war anstrengend. Jetzt haben wir uns eine Belohnung verdient.“ Hannah räumte den leeren Muffinteller ab.

„Ich rufe eben zu Hause an.“ Hannah nickte und reichte Stefanie das Telefon. Schon mehrmals hatte sie am Nachmittag versucht, Ruth zu Hause zu erreichen. Da am anderen Ende niemand abhob, vermutete sie, dass Ruth noch in der Uni arbeitete. Das war nichts Ungewöhnliches, wenn sie sich gestritten hatten. Stefanie beschloss, Ruth eine Weile schmoren zu lassen, bevor sie nach Hause zurückkehrte.

„Keiner zu Hause“, registrierte sie betrübt. Der Streit vom Morgen ging ihr näher, als sie sich hätte eingestehen wollen. Ruth war eine ungewöhnlich lange Zeit von zu Hause fort, ohne sich zu melden.

„Bleibst du noch zum Abendessen?“ Hannah sah fragend zu Stefanie herüber. Die nickte zustimmend.

„Was hältst du von einem frischen Basilikum-Pesto mit Nudeln?“, fragte Hannah. Sie sah voller Mitgefühl auf ihre Kollegin. Es war ihr anzusehen, dass sie sich um Stefanie sorgte, weil ihr der Streit mit der Partnerin zu schaffen machte. „Das geht schnell und schmeckt trotzdem lecker.“

„Hört sich toll an!“ Stefanie lächelte gequält.

„Kommst du mit in die Küche?“ Hannah schien die Freundin nicht allein lassen zu wollen.

„Ich kann helfen“, bot Stefanie an.

„Das wird nicht nötig sein. Das Pesto macht sich wie von selbst.“

„Das ist sooo lecker!“, urteilte Stefanie kauend. „Ein derart leckeres Basilikum-Pesto habe ich selten gegessen. Irgendein Gewürz gibt dem Gericht den besonderen Pfiff.“ Stefanie sah fragend zu Hannah.

„Der Trick ist, dass ich Minzblätter hinzufüge“, verriet Hannah. „Das ergibt die frische Note.“

„Das ist ein hervorragender Tipp. Werde ich auch mal versuchen.“ Stefanies Miene lockerte sich etwas auf.

„Hast du Lust auf einen Schluck Wein?“, fragte Hannah. „Ich war heute Morgen im Weinladen um die Ecke und habe einen fantastischen Pinot Grigio gekauft.“

„Lieber nicht. Wenn ich Auto fahre, trinke ich grundsätzlich nicht. Ich muss sowieso bald los.“ Seit dem frühen Abend hatte Stefanie eine gewisse Unruhe ergriffen. Es kam ihr merkwürdig vor, dass sie Ruth nicht zu Hause antraf. Auf ihrem Handy meldete sich nur die Mailbox. Sie verbot sich, Panik aufkommen zu lassen und nicht an das Schlimmste zu denken.

„Mit einem Probierschlückchen kannst du ruhig noch fahren.“

„Lieben Dank, Hannah! Am Steuer bin ich ziemlich konsequent. Alkohol und Autofahren kommen für mich nicht in Frage.“

„Äußerst lobenswert. Ich wollte noch ein bisschen gemütlich mit dir im Wohnzimmer sitzen und plaudern. Das muss nach einer dermaßen konzentrierten Arbeit einfach sein.“

„Ein Espresso trägt auch zur Gemütlichkeit bei.“ Stefanie lächelte kaum wahrnehmbar.

„Wird subito serviert. Setz dich ruhig schon mal ins Wohnzimmer.“ Hannah erhob sich, um in die Küche zu gehen. Sie kredenzte zwei Tassen Espresso auf dem Wohnzimmertisch. Stefanie hatte auf der bequemen Couch Platz genommen und sich die Lektüre angesehen, die auf dem Tisch lag.

„Du liest Gedichte?“, stellte Stefanie bewundernd fest. Sie nahm einen Schluck von dem Espresso. „Der schmeckt großartig.“

„Danke! Dafür kann ich nichts. Das sind die aromatischen Bohnen, die mir der Italiener verkauft, bei dem wir uns ab und an mittags treffen.“ Hannah sah zu dem Buch, das Stefanie in den Händen hielt.

„Ich mag Gedichte.“ Sie lehnte sich auf dem Sofa zurück. Ihre Augen nahmen einen verträumten Ausdruck an. „Manchmal sitze ich am Abend auf der Couch und lese ein Gedicht nach dem anderen. Hin und wieder rezitiere ich sogar.“

„Und Ulla Hahn ist deine Lieblingsdichterin?“, vermutete Stefanie und hielt den Gedichtband in die Höhe.

Hannah nickte. „Ich verehre die Texte von Ulla Hahn. Ich mag die Gedichte von Goethe aber auch.“ Hannah machte eine Pause. „Dafür bist du ja die Fachfrau.“

„Goethe ist eigentlich gar nicht mein Geschmack“, gab Stefanie zu und verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse.

„Nanu, ich dachte Germanistinnen müssen die Klassiker lieben.“

„Nicht zwangsläufig. Ich stehe eher auf zeitgenössische Literatur.“

Feuchtgebiete?“ Hannah grinste.

„Gehobene zeitgenössische Literatur“, präzisierte Stefanie.

„Was heißt das denn? Würdest du den Roman von Charlotte Roche nicht im Unterricht besprechen?“

„Leider muss ich als Deutschlehrerin Romane besprechen, die mir nicht gefallen. Feuchtgebiete würde ich höchstens im Unterricht behandeln, wenn das Buch auf dem Lehrplan steht. Dazu müsste man mich echt zwingen.“ Stefanie grinste. „Die Gedichte von Ulla Hahn jedenfalls gefallen mir. Und ihre Prosa ebenfalls. Kennst du Ein Mann im Haus?“

„Der Roman, in dem die Protagonistin den verheirateten Liebhaber in ihrer Behausung gefesselt gefangen hält?“

Stefanie nickte.

„Ich kenne es und finde es komplett abgedreht.“ Hannah runzelte die Stirn.

„Es ist eins meiner Lieblingsbücher. Weil es ziemlich bizarr ist, wirkt es fast paradox.“ Stefanies Blick ging in die Ferne. „Und Kafka liebe ich über alles.“

„Mir war nicht klar, dass du einen dergestalt schrägen Büchergeschmack hast.“ Hannah schmunzelte.

„Kennst du die Romane von Elfriede Jelinek – von wegen ´schräger Büchergeschmack`?“

„Die Österreicherin, die den Nobelpreis für Literatur bekommen hat?“

„Genau die. Ich liebe ihr Buch Die Klavierspielerin. Darüber habe ich meine Arbeit im Rahmen des Zweiten Staatsexamens geschrieben. Ich habe den Roman mit einem Deutsch-Leistungskurs gelesen.“

„Ich habe den Film gesehen. Noch schräger als der Roman von Hahn.“ Hannah verzog ihr Gesicht. „Was haben deine Schüler zu dem Buch gesagt?“

Stefanie musste beim Anblick von Hannahs Gesichtsausdruck laut loslachen. Hannah konnte sich nicht wehren und lachte mit.

„Darüber war die Meinung geteilt. Vor allem die männlichen Teilnehmer haben den Text verabscheut.“ Stefanie runzelte die Stirn. „Hast du gar nichts Sehenswertes an dem Film gefunden? Mir hat er nämlich sehr gefallen.“

„Wenigstens fand ich Isabelle Huppert in der Hauptrolle ganz gut“, gab Hannah zu.

Nach dem Austausch über Literatur saßen sie sich schweigend gegenüber und schauten sich ab und an versonnen in die Augen. Eine Ruhe breitete sich in Stefanie aus, die sie in der letzten Zeit selten genug spürte. Den Streit mit Ruth vom Morgen vergaß sie dabei ebenso wie ihre Angst, dass etwas Schreckliches passiert sein könnte.

Ohnehin vergaß sie in Hannahs Gegenwart häufig alle anderen Ereignisse und Anforderungen. In solchen Augenblicken verspürte sie eine unbändige Freude darüber, Zeit mit Hannah zu verbringen.

„Ich bin ziemlich froh und dankbar, dass du dir heute meinen Vortrag angehört hast“, sagte Hannah in die Stille hinein. „Wir haben zum Glück den einen oder anderen Denkfehler aufgedeckt, der ohne deine Hilfe den Text verunstaltet hätte.“

„Wenn überhaupt, war es eine Gemeinschaftsarbeit“, wiegelte Stefanie ab.

„Wir scheinen ein tolles Team zu sein.“ Hannah nahm einen Schluck des Espressos. „Apropos tolles Team. Kurz vor den Sommerferien veranstaltet mein ehemaliger Verein regelmäßig ein Beachvolleyballturnier. Es macht unheimlich Spaß, da mitzumachen. Bisher hatte ich stets Pech mit meinen Spielpartnerinnen. Wir sind spätestens in der zweiten Runde rausgeflogen. Könntest du dir vorstellen, mit mir zusammen ein Team zu bilden?“

„Mein letztes Beachturnier liegt bereits eine Weile hinter mir. Ich weiß nicht, ob ich noch einen Volleyball halten kann, deshalb solltest du dir nicht zu große Illusionen über unsere Chancen machen. Lust dazu hätte ich aber auf jeden Fall.“

„Wenn wir vorher miteinander trainieren, haben wir sicher eine Chance, vorn mit dabei zu sein.“ Hannah war gar nicht mehr zu bremsen. „Am Baldeneysee ist eine Beachanlage, die man von März bis Oktober bespielen kann. Wir könnten im Frühjahr mit dem Training beginnen. Und bis zum Sommer sind wir so weit, sie alle zu schlagen.“ Da war sie wieder, die kämpferische Hannah von damals. Ihre Augen funkelten.

„Das ist ein ambitionierter Plan“, versuchte Stefanie Hannahs Euphorie ein wenig zu bremsen. „Wir werden sehen, wie tauglich wir tatsächlich als Team sind.“

„Ich weiß, dass dein Ballgefühl sich nicht verflüchtigt hat. Und wenn du selbst bereits Beachvolleyball gespielt hast, bin ich sehr zuversichtlich, dass wir eine tadellose Figur machen.“

„Probieren wir es!“, stimmte Stefanie streitlustig zu.

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