Читать книгу Momente des Erkennens - Emma zur Nieden - Страница 9
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Dass Ruth nicht begeistert war, als Stefanie ihr mitteilte, dass sie am Samstagnachmittag mit einer Kollegin zum Inlineskaten verabredet war, wusste Stefanie schon vorher.
„Muss das am Wochenende sein?“, muffelte Ruth ungehalten.
„In der Woche habe ich keine Zeit dafür. Und Hannah erübrigt ihre Zeit und zeigt mir ein paar Tricks, damit ich im Sportunterricht nicht da stehe wie eine Ahnungslose“, suchte Stefanie nach einer plausiblen Erklärung. Außerdem bin ich bisher am Wochenende selten von deiner Seite gewichen und habe mir eine kleine Auszeit redlich verdient, dachte Stefanie, sprach es aber nicht aus.
Der Termin mit Hannah war ihr willkommen gewesen, denn Ruth und Stefanie waren eigentlich zum alljährlichen Grillen des Fachbereichs, in dem Ruth arbeitete, beim Dekan eingeladen. Stefanie mochte diese Veranstaltungen nicht. Vor allem, weil sie glaubte, schief angesehen zu werden. Stefanie hatte Ruth im Fachbereichsrat kennengelernt, in den sie als Studentin gewählt worden war, und kannte die meisten Gäste aus dem Studium. Sie waren zum Teil ihre Dozenten gewesen.
Ruth war keine der Professorinnen, die sie unterrichtet hatten. Natürlich wusste Stefanie, wer sie war, und sie fand sie „scharf“. Kurz vor ihrer Masterprüfung fingen die beiden an, miteinander auszugehen.
Zunächst war es für beide Frauen nur eine Affäre gewesen, die sie peinlichst genau geheim hielten. Niemand von Stefanies Kommilitoninnen wusste darüber Bescheid. Und natürlich sollten die Kolleginnen und Kollegen von Ruth erst recht nichts davon wissen.
Irgendwann – da absolvierte Stefanie schon seit einem halben Jahr den Vorbereitungsdienst – merkten die beiden Freundinnen, dass sie sich unaufhaltsam ineinander verliebten. Etwa ein Dreivierteljahr, nachdem sie ein Paar geworden waren, zog Stefanie zu Ruth in deren riesige Eigentumswohnung. Ruth hatte ihr extra ein eigenes Arbeitszimmer neben ihrem eigenen eingerichtet, damit sie genug Platz hatte, um ihre Unterrichtsvorbereitungen zu erledigen.
Und natürlich gab es eine Party, bei der sie ihre Verbindung offiziell bekannt gaben. Auf der Party waren neben Freundinnen, Freunden und Bekannten auch die Kolleginnen und Kollegen von Ruth eingeladen. Auf diese Weise konnten sie mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen und den gesamten Bekanntenkreis informieren.
Fortan wurde Ruth nie ohne Stefanie eingeladen, wenn es irgendwelche offiziellen Treffen von der Uni gab. Natürlich war das ein bedeutsames Zeichen. Schließlich waren die Partnerinnen und Ehefrauen der anderen Dozenten genauso dabei, manchmal fand Stefanie die Einladungen aber ziemlich lästig, zumal diese Zusammenkünfte überwiegend steif waren und sie das Gefühl hatte, als ehemalige Studentin angesehen zu werden und nicht als Ruths Partnerin. Vor allem war die Situation als ehemalige Studentin eben des Fachbereichs, in dem sie studiert hatte, insgesamt nicht unbedingt entspannend für sie. Deshalb war Stefanie froh über das Treffen mit Hannah, das sie Ruth als offiziellen – allerdings privaten – Fortbildungstermin verkaufen konnte.
„Du machst aber wenigstens den leckeren Salat?“, fragte Ruth vorwurfsvoll, als Stefanie ihr mitteilte, dass sie nicht mitkäme. „Die anderen haben danach gefragt.“
Stefanie bereitete zu diesen Grillpartys stets den Salat zu, der großen Anklang fand und dessen Schüssel nach kurzer Zeit geleert war. Es war ein Nudelsalat mit Farfalle, getrockneten Tomaten, frischen Kräutern und einer speziellen Vinaigrette.
„Den bereite ich morgen Früh zu“, versprach Stefanie.
Nach der Zubereitung des Salats und einem kleinen Mittagssnack, den Stefanie und Ruth samstags gemeinsam einnahmen, machte Stefanie sich auf den Weg zum Baldeneysee. Sie war froh, als sie das Haus verlassen konnte. Ruth hatte von früh bis spät genörgelt. Und das war nicht lustig gewesen.
Als Stefanie auf den Parkplatz fuhr, entdeckte sie Hannah und ergatterte einen Platz direkt neben dem Wagen der Freundin. Stefanie stieg aus und wurde stürmisch von Hannah umarmt.
„Schön, dich zu sehen!“, rief Hannah begeistert.
„Ganz meinerseits.“ Stefanie strahlte.
„Und ausgezeichnet, dass deine Frau dich am Wochenende entbehren kann.“
„Das hat sie nur mit Widerwillen zur Kenntnis genommen, weil heute ein Grillen bei ihrem Dekan mit Partnerin angesagt ist“, erklärte Stefanie und machte ein zerknirschtes Gesicht.
„Wir hätten unser Treffen doch auch verlegen können.“ Hannah hörte sich vorwurfsvoll an.
„Ich bin froh, dass ich diesem Termin entkommen konnte.“ Stefanie klang erleichtert. Sie grinste. „Das ist regelmäßig einer unserer Streitpunkte, weil Ruth unbedingt will, dass ich mitkomme, und ich mich jedes Mal drücken will.“
„Ich finde es klasse, wenn sie dich dabeihaben will und ihre Kolleginnen dich als die Frau an ihrer Seite akzeptieren.“
„Von außen betrachtet hast du Recht. Ich war an derselben Fakultät, an der Ruth arbeitet. Alle Professoren und Dozenten kennen mich als Studentin. Die Grillparty gleicht manchmal einem Spießrutenlauf. Zumindest empfinde ich es so.“
„Ruth war deine Professorin?“, wunderte sich Hannah, während sie ihre Inlinermontur anzog.
„Nein. Wir haben uns durch den Fachbereichsrat kennengelernt, in dem wir beide Mitglieder waren. Bei einer der Sitzungen hat es zwischen uns gefunkt.“ Stefanies Gesicht hatte einen verträumten Ausdruck angenommen, als ob sie an die Anfänge ihrer Verliebtheit zurückdachte.
„Ihr seid während deines Studiums ein Paar geworden?“
„Das stimmt“, bestätigte Stefanie. „Wir sind während meines Referendardienstes zusammengezogen. Zu diesem Zeitpunkt haben wir unsere Beziehung offiziell gemacht. Ruth liebt Partys. Und sie hat für alle Freundinnen und Freunde, Bekannte, Verwandte und Kolleginnen und Kollegen eine große Feier veranstaltet, um unsere Verbindung bekannt zu machen.“
„Und sie will eure Verpartnerung natürlich groß feiern?“, vermutete Hannah.
„Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen“, bestätigte Stefanie und zog einen Flunsch. „Obwohl ich es lieber privater haben würde. In aller Stille wäre mir lieber. Aber man muss Kompromisse machen.“ Stefanie seufzte und zuckte mit den Schultern.
„Und der Altersunterschied?“, sorgte sich Hannah.
„Ist nicht immens groß“, beruhigte Stefanie sie. „Ruth war damals die jüngste Professorin bundesweit. Ich glaube, ihr beide seid etwa in einem Alter.“
„Wie alt ist sie?“, wollte Hannah wissen.
„Neununddreißig. Sie wird nächstes Jahr vierzig.“
„Ich bin jünger.“ Hannah grinste breit.
„Du warst keine dreißig, als du an unsere Schule kamst.“
„Sechsundzwanzig. Ich war gerade mit dem Studium fertig. Und ihr wart meine netteste Gruppe“, konstatierte Hannah. „Ihr habt mir den Einstieg ins Lehrerinnendasein leichtgemacht.“ Hannah schaute versonnen auf den See, als würde diese Zeit vor ihrem geistigen Auge ablaufen.
„Danke für das Lob!“ Stefanie zurrte die Knieschoner fest.
„Bitte!“ Hannah lächelte. Stefanie tauchte in ihren Blick ein und auf Hannahs Wangen breitete sich eine dezente Röte aus. Ergo ist Hannah sechsunddreißig, dachte Stefanie. Und ich werde nächstes Jahr dreißig. Der altersmäßige Abstand ist wirklich geringer als bei Ruth und mir.
Stefanie stutzte. Was hatte der Altersunterschied zwischen ihr und Hannah hier zu suchen.
„Wir sollten uns auf den Weg machen“, schlug Hannah vor und löste sich aus Stefanies Blick. „Ich wollte dir den ein oder anderen Kniff zeigen. Ich schlage vor, dass wir den kleinen Anstieg wählen. Man kann nämlich außen vorbeiskaten. Das ist flach und keine Herausforderung für eine derart sportliche Person wie dich.“
„Und ich will natürlich unbedingt lernen, welche Technik man am besten bergauf verwendet. Vor allem interessiert mich, wie man gefahrlos wieder herunterkommt. Davor habe ich ein bisschen Bammel.“ Stefanie sah unglücklich aus.
„Musst du nicht. Ich bin ja dabei.“ Hannah lachte, als sie Stefanies übertrieben ängstliche Miene sah und versprach: „Ich halte dich, falls du mal abzustürzen drohst.“ Hannah suchte Stefanies Augen. Stefanie bückte sich und verschnürte ihre Skates, um dem intensiven Blick zu entgehen.
„Aber dazu wird es nicht kommen“, war Hannah überzeugt.
Nach der Tour rund um den See saßen Stefanie und Hannah auf der Tribüne am Zielturm, die bei Segel- und Ruderregatten stets beeindruckend voll war, und schleckten ein Eis. Ihre Inliner, die Knie- und Ellbogenschoner sowie die Helme hatten sie in ihren Autos verstaut.
„Das war großartig, Hannah!“, rief Stefanie begeistert aus. „Und hat irre Spaß gemacht.“ Sie schleckte an ihrem Magnum.
„Du bist ein Naturtalent“, lobte Hannah lächelnd. Sie löffelte ihr Erdbeereis aus einem kleinen Becher. „Wenn meine Fortbildungsteilnehmer nur halb so begabt wären wie du, könnten sie alle am Ende perfekt Inlinern.“
„Sind sie nicht? Ich dachte, es sind Sportlehrer?“, wunderte sich Stefanie.
„Manche sind trotzdem Bewegungsidioten“, ereiferte sich Hannah und blickte in die Ferne, als hätte sie einige von den weniger begabten Sportlehrern vor Augen. „Da fragt man sich manchmal, wie die durch ihr Sportstudium gekommen sind.“ Sie schüttelte den Kopf.
„Danke für dein Lob. Auch für zwei bis vier Ideen für eine Unterrichtseinheit würde ich einiges geben.“ Stefanie runzelte die Stirn, als plane sie im Geiste bereits die Unterrichtsreihe im Inlinern für ihre eigene Klasse.
„In welchen Gruppen willst du Inlinern einführen?“, wollte Hannah wissen.
„Ich dachte, in meiner eigenen Klasse könnte ich damit anfangen. Die Schülerinnen und Schüler sind wissbegierig und scheinen bewegungstechnisch Potenzial zu haben.“
„Ich kann dir dabei selbstverständlich behilflich sein. Wenn du Lust hast, können wir nachher zu mir fahren“, schlug Hannah vor. „Ich habe eine Reihe von Materialien anzubieten und den einen oder anderen Tipp auf Lager, wie man in eine Einheit einsteigt.“
„Hast du denn Zeit?“, fragte Stefanie, die nichts über Hannahs Privatleben wusste außer der Tatsache, dass sie geschieden war. Eine Frau wie Hannah musste einfach liiert sein.
„Es gibt derzeit niemanden, falls es das ist, was du das wissen wolltest.“ Hannah drehte den Kopf, um Stefanie direkt anzusehen. Das Blau ihrer Augen strahlte Stefanie blitzend entgegen.
„Dermaßen plump sollte es nicht klingen.“ Stefanie schoss die rote Farbe in die Wangen. Sie spürte die Hitze überdeutlich in ihrem Gesicht, die sie nach dem Skaten inzwischen wieder losgeworden war. „Ich dachte, du hättest vielleicht andere Pläne.“
„Habe ich nicht. Und es würde mir großen Spaß machen, den Nachmittag mit dir zu verbringen.“ Hannahs blaue Augen leuchteten, als sie Stefanie über ihren Arm strich.
„Mir auch.“ Verlegen blickte Stefanie auf ihr Eis. Ihr Herzschlag hatte sich enorm beschleunigt, und eine Gänsehaut zeigte sich auf ihrem rechten Arm. Eine Erinnerung blitzte in Stefanies Gedanken daran auf, dass Hannah ihr schon einmal eine Gänsehaut beschert hatte – vor zehn Jahren, als sie neben ihr im Bus nach Berlin gesessen und ihre Hand auf Stefanies Unterarm gelegen hatte.
Stefanie und Hannah saßen auf der Couch in Hannahs geräumigem Wohnbereich. Auf dem Tisch standen die Utensilien für eine Kaffeetafel. Um sie herum waren jede Menge Ordner ausgebreitet, in denen sich eine große Anzahl von Unterrichtsreihen zum Thema Inlineskaten befand. Hannah hatte für sämtliche Jahrgänge zahlreiche Varianten entwickelt.
Stefanie tippte fleißig Notizen in Hannahs Laptop. Wenn sie nachher die wichtigsten Informationen notiert haben würde, würde sie sich die Datei als E-Mail-Anhang schicken. Das elektronische Zeitalter bot in dieser Hinsicht einige Vorteile. In der Schule war es manchmal allerdings schwierig, darauf zu achten, dass die Kids nicht dauernd mit ihren Handys herumspielten, sondern dem Unterricht folgten. Kids und Jugendliche von heute für den Unterricht zu begeistern war eine enorme Herausforderung. Tatsächlich war es genau das, was Stefanie an ihrem Beruf am meisten liebte. Das war ihr während des Vorbereitungsdienstes unleugbar aufgegangen. Sich fortwährend neue Unterrichtsabläufe für bestimmte Lerngruppen auszudenken war eine Tätigkeit, die Stefanie an ihrem Beruf faszinierte. Und mit Hannah auf dem Boden zu sitzen und in den Materialien zu wühlen, war ein irre großes Vergnügen.
„Das ist eine beeindruckende Fundgrube für den Einsatz des Inlineskatens im Unterricht“, war Stefanie mit einem bewundernden Blick auf die zahlreichen Ordner begeistert. „Ich würde dich am liebsten nochmal besuchen und mir noch mehr Ideen für den Unterricht holen.“ Mit einem fragenden Blick schob sie nach: „Wenn ich darf?“
„Du bist jederzeit bei mir willkommen“, bot Hannah an und goss Kaffee in ihre beiden Tassen. „Du kannst dir die Ordner ausleihen und sie zu Hause in Ruhe durchsehen, wenn du magst.“
„Ich würde beide Angebote annehmen.“ Stefanie sah vom Laptop auf und versank in Hannahs ultrablauen Augen. Es schien ihr, als seien sie eine Spur blauer als vorhin am See. Sie musste sich dazu zwingen, sich loszureißen, sonst wäre sie darin ertrunken. Und sie musste unbedingt ihren Puls in Hannahs Gegenwart unter Kontrolle bringen.
Wann bin ich zuletzt in den Augen einer Frau versunken?, fragte Stefanie sich. Das war im Fachbereichsrat an der Uni, als mein Blick durch den Raum glitt und an Ruths Augen hängenblieb, die mich sogleich gefangen genommen haben. Minutenlang hat ihr Blick mich gefesselt, und ich habe die Welt um mich herum vergessen. Aber ebenso gern versinke ich in Hannahs Augen. – Das ist absurd. Sie ist meine Kollegin. Eine Freundin halt. Und ich bin liiert und heirate bald. Dieser Gedanke hörte sich wie eine Ermahnung an, als dürfe sie sich nicht zu wohl in Hannahs Gegenwart fühlen.
Plötzlich wirbelte eine nächste Erinnerung durch ihren Kopf. Stefanie hatte soeben ein Heft im Lehrerzimmer abgegeben. Als sie sich in ihren Klassenraum begeben wollte, kam Hannah ihr entgegen. Sie war auf dem Weg zum Lehrerzimmer, in dem sie sich sonst selten aufhielt, wie Stefanie beobachtet hatte. Sie nickten sich einen Gruß zu. Und Stefanie wärmte sich an Hannahs strahlenden Augen. Sie fühlte sich unmittelbar an den tiefblauen Atlantik erinnert, in dem sie früher geschwommen war, wenn sie mit ihren Eltern in Frankreich Urlaub gemacht hatte. Hannahs Blick war an ihrem hängen geblieben. Stefanies Puls hatte so stark gerast, als wäre sie einem Kaninchen hinterhergejagt. Und er beruhigte sich für eine lange Zeit nicht wieder. Von dem anschließenden Unterricht hatte sie nichts, aber auch gar nichts mitbekommen, weil sie sich eine volle Stunde zu diesem Blau zurückgeträumt hatte. Langsam tauchte sie aus der Erinnerung auf und kam zurück in Hannahs Wohnzimmer. Sie lächelte die Freundin an.
„Wie kann ich mich für all die Unterstützung bedanken?“, fragte sie laut.
„Ich wüsste da etwas.“ Hannah legte die Stirn in Falten.
„Nur heraus damit!“, ermunterte Stefanie sie.
„Seit kurzem fehlt mir eine Badminton-Partnerin. Und ich liebe dieses Spiel. Ich weiß, dass du eine hervorragende Figur beim Badminton machst.“ Hannah sah Stefanie fragend an. „Du wärst die adäquate Partnerin. Für das Spiel, meine ich.“ Dieses Mal errötete Hannah, die sich plötzlich der Zweideutigkeit bewusstwurde, die ihre Worte beinhaltete. Schleunigst senkte sie den Blick. Stefanie war die angedeutete Röte auf deren Wangen nicht entgangen.
„Natürlich“, stimmte Stefanie prompt zu. „Ich bin selbst seit Beginn der Sommerferien auf der Suche nach jemandem mit etwa meiner Spielstärke. Mit einer Stärkeren oder Schwächeren macht es keinen Spaß.“ Eine kleine Pause entstand. „Was ist mit deiner passiert?“
„Sie war eine Sportkollegin. Eigentlich eine Freundin. Aber sie wurde Anfang des Schuljahres an eine andere Schule versetzt und arbeitet jetzt in Münster. Sie wollte unbedingt dorthin, weil ihre Partnerin in Münster wohnt“, erklärte Hannah. Stefanie riss die Augen auf bei der Erwähnung einer offen lesbisch lebenden Frau innerhalb des Kollegiums. Oder wusste bloß Hannah davon? Sie selbst hätte nicht mit Bestimmtheit sagen können, wie sie im Kollegium mit der Tatsache, dass sie lesbisch war, umgehen sollte. Spätestens zur Verpartnerung würde sie eine Entscheidung getroffen haben müssen.
„Sonst hast du kaum Kontakt mit den anderen Lehrerinnen?“, vermutete Stefanie und überspielte ihre Aufregung über Hannahs frauenliebende Kollegin. Hannahs Zurückhaltung im Umgang mit den Kolleginnen und Kollegen war Stefanie aufgefallen, und sie war froh, dass sie in diesem Moment keine Entscheidung darüber treffen musste, wie sie bezüglich ihres eigenen Outings in der Schule vorgehen würde.
„Natürlich!“ Hannah war entrüstet. „Wie kommst du darauf?“
„Ich dachte, weil die Kolleginnen, deren alleiniges Fach Sport ist, keinen dankbaren Stand haben.“
„Das ist leider eine unumstößliche Tatsache, aber ich habe trotzdem Kolleginnen und Kollegen, die hinter mir stehen und mich mögen. Und eine Handvoll davon unterrichten sogar ein ´Hauptfach`.“ Hannah malte Anführungszeichen in die Luft. „Ich bin seit ein paar Jahren an der Schule. Da erarbeitet man sich zwangsläufig einen Freundeskreis“, erklärte Hannah überzeugend. „Und seitdem ich Moderatorin für Sport-Fortbildungen bin, sitzen die Älteren auf einem nicht mehr ganz so hohen Ross, weil man außer Fachkenntnissen Durchsetzungsvermögen braucht, um Moderatorin zu werden.“ Stefanie traf der blaue Blick, der sie zum Lächeln brachte. „Die von der resistenten Sorte hast du ja bereits kennengelernt.“ Hannah hob die Schultern. Es schien ihr nichts auszumachen, dass es Kolleginnen gab, die sie nicht repektierten.
Stefanie nickte. Sie mochte die beiden Kolleginnen nicht, die bei dem Wiedersehen mit Hannah extrem neugierig gewesen waren. Sie kannte diese Art von Lehrerinnen und mied sie, wenn es irgendwie ging. Leider war die ältere der beiden, Frau Gerber, die Biologielehrerin in ihrer Klasse. Stefanie hatte zwangsläufig mit ihr zu tun. Es hatte Beschwerden von Eltern darüber gegeben, wie sie mit den Schülern umging. Stefanie wusste noch nicht genau, wie sie als Neue und Anfängerin das Gespräch mit der Älteren führen konnte, ohne dass die erfahrene Lehrkraft sich auf den Schlips getreten fühlte und ihre Launen ungezügelt an den Kindern ausließ.
Verena Mertens, Musik- und Mathematiklehrerin, sowie stellvertretende Klassenlehrerin der 5e, hatte ihr geraten, nicht allein mit der Kollegin zu sprechen. Sie hatte sich bereit erklärt, dabei zu sein, wenn die Unterredung stattfände. Derzeit arbeiteten die beiden an einer Strategie für ein Gespräch mit Frau Gerber. Demnächst fände die Unterhaltung statt.
Dass es Menschen gab, die andere Menschen ausnahmslos nach dem beurteilten, was sie rangmäßig darstellten, passte zu einer Handvoll Frauen und Männern im Kollegium. Und dass Hannah von manchen nicht als Mensch akzeptiert wurde, sondern als Moderatorin für Fortbildungen, fand Stefanie indiskutabel. Derart restriktiv reagierten oftmals vor allem die Kolleginnen und Kollegen, die als Lehrerin oder Lehrer enorme Schwierigkeiten im Umgang mit Schülern hatten. Das war eigentlich ein Armutszeugnis, fand Stefanie. Kollegen dieser Spezies hatte sie im Vorbereitungsdienst zur Genüge kennengelernt und sich möglichst von ihnen ferngehalten. Dieser Gedanke war zu unangenehm für den herrlichen Nachmittag in Hannahs Anwesenheit. Stefanie schüttelte sich, um in die Gegenwart zurückzufinden.
Stefanie arbeitete gewissenhaft an der Unterrichtsreihe im Inlineskaten. Irgendwann hatte sie sich durch sämtliche Ordner gewühlt und sich die wichtigsten Erkenntnisse notiert. Draußen dämmerte es bereits. Hannah hatte angeboten, eine Kleinigkeit zu essen herzurichten, was Stefanie dankbar angenommen hatte. Sie hatte keine Lust, allein zu Hause zu sitzen – Ruth wäre garantiert noch nicht vom Grillen beim Dekan zurück – und sich selbst zu verköstigen. Seit dem Nachmittag knurrte ihr der Magen.
Die Pasta mit dem roten Pesto aus dem Glas, die Hannah servierte, schmeckte fantastisch.
„Das ist unheimlich lecker“, urteilte Stefanie mit vollem Mund.
„Das finde ich auch.“ Hannah nahm einen Schluck aus ihrem Wasserglas. „Und ich muss nichts machen als das Glas aufzuschrauben und auf die Nudeln zu löffeln. Ich mache das oft, wenn der Tag ewig dauert und ich keine Lust habe, etwas Aufwändigeres zu kochen.“
„Das muss ich mir merken, wenn ich mal eilig bin.“ Stefanie nahm das Pestoglas zur Hand und prägte sich die Marke ein, um sie beim nächsten Einkauf im Supermarkt wiederzufinden und etwas davon zu kaufen.
„Bist du diejenige, die kocht?“, wollte Hannah wissen und sah von ihrem Teller auf.
„Yep“, antwortete Stefanie. „Ich bin meistens früher zu Hause, weil Ruth erst ab zehn in der Uni ist und dementsprechend später nach Hause kommt. Außerdem bin ich die bessere Köchin.“ Stefanie grinste.
„Und zusammen Kochen ist keine Option?“
Stefanie schüttelte den Kopf und lachte. „Auf keinen Fall. Wenn wir gemeinsam in der Küche stehen, gibt es regelmäßig Krach. Und nach dem ich weiß nicht wievielten Streit beim Kochen haben wir beschlossen, dass ich die Küche übernehme.“
„Warum habt ihr euch gestritten?“ Hannah interessierte sich offensichtlich für das Detail.
„Ständig wusste Ruth alles besser, obwohl sie keine Ahnung hat.“ Stefanie zuckte mit den Schultern.
„Ich kann dich verstehen!“ Der blaue Blick kam gefährlich nah. Ob sie weiß, was dieser Blick mit mir macht?, fragte sich Stefanie, deren Puls nicht zum ersten Mal an diesem Tag davongaloppierte. „Magst du einen Espresso mit mir trinken?“, fragte Hannah leise, nachdem beide Teller ratzeputz leer gegessen waren.
„Mit Vergnügen!“
„Setz dich schon mal ins Wohnzimmer. Ich bring die Tassen mit.“ Hannah stand auf, um in der Küche den Kaffee zuzubereiten.
Stefanie nahm auf einem der gemütlichen Sessel im Wohnzimmer Platz. Hannah hatte vorhin rasch das Chaos beseitigt und alle Ordner ins Arbeitszimmer verfrachtet. Sie balancierte den Espresso auf einem Arm, stellte die Tassen auf den Couchtisch und setzte sich Stefanie gegenüber auf die Couch.
Während sie an den Tassen nippten, schwiegen sie. Es schien, als seien für heute alle Worte gesprochen. Als Stefanie den Aufbruch ankündigte, widersprach Hannah nicht. Sie geleitete Stefanie zur Tür und umarmte sie.
Stefanie wurde heiß und kalt. Eine dermaßen innige Umarmung hatte sie nicht erwartet. Weich drückte sich Hannah gegen sie und hielt sie länger, als es nötig gewesen wäre. Stefanie gefiel diese Nähe, und sie ließ sich in Hannahs Arme fallen.
„Danke für den wunderschönen Tag!“, flüsterte Hannah.
„Ich danke dir!“, erwiderte Stefanie leise. „Hab ein erholsames Wochenende!“
„Danke! Dasselbe für dich. Bis Montag!“
„Bis Montag!“
Als Stefanie im Auto saß, wartete sie noch einen Moment, bevor sie den Wagen startete. Sie lächelte und dachte: Es war ein Tag wie im Paradies!