Читать книгу Momente des Erkennens - Emma zur Nieden - Страница 7

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An ihrem zweiten Schultag fühlte Stefanie sich vollkommen übermüdet. Das war kein Wunder, weil sie und Ruth nach langer Zeit wieder einmal eine durchliebte Nacht erlebt hatten. Und Stefanie hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Partnerin genossen. Allerdings zahlte sie gerade eben ihren Tribut dafür, weil ihr in der Sport-Fachkonferenz dauernd die Augen zufielen.

Nach der Konferenz stand sie mit Kollegen zusammen und ließ sich die Neuerungen dieses Schuljahres erläutern. In den Sommerferien waren an einer der Gebäudewände Klettergriffe angebracht worden, die sowohl im Sportunterricht als auch in den Pausen genutzt werden konnten. Darüber hinaus waren zweiunddreißig Paar Inlineskates angeschafft worden, die ebenfalls auf ihren Einsatz im Sportunterricht warteten.

„Inlineskaten kann ich nicht“, war Stefanie bestürzt.

„Na, dann steht fest, wie deine erste Fortbildung aussieht“, zwinkerte ihr Klaus zu, einer der Kollegen.

Mit großer Freude erkannte Stefanie, dass man sich zumindest unter den Sportkollegen ausnahmslos duzte. Daraus ergab sich automatisch eine vertrautere Ebene, was Stefanie entgegenkam und dafür sorgte, dass sie sich nicht völlig fremd fühlte.

„Oder du nimmst bei mir eine Nachhilfestunde“, vernahm Stefanie von der Kollegin, die sich zu ihnen gesellt hatte und die Stefanie an ihrer Stimme als Hannah identifizierte. Umgehend breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Ein Gedankenblitz schoss Stefanie durch den Kopf: Bei ihrer ersten Begegnung im Bert-Brecht-Gymnasium hatte ihre dunkle Stimme Stefanie eine Gänsehaut beschert. Bevor sie jedoch den Gedanken fassen konnte, hatte er sich schon wieder verflüchtigt.

„Na, da bist du gleich an der richtigen Adresse“, kommentierte Klaus. „Ich habe im vorigen Jahr eine Fortbildung bei Hannah belegt. Sie ist hundertprozentig die Beste.“

„Du leitest Fortbildungen?“, fragte Stefanie erstaunt nach.

„Das tue ich“, bestätigte Hannah, „etwa seit fünf Jahren.“

„Und Inlineskaten ist ihre Vorzeigedisziplin“, meinte Robert, ein Riese von Sportlehrer, der gut und gern in der nordamerikanischen Basketballliga hätte spielen können. Er hatte sich zu ihrem kleinen Grüppchen dazu gesellt.

„Ich dachte Volleyball!“, war Stefanie überrascht.

„Darin ist sie genauso ein Ass!“ Robert antwortete für Hannah und ließ über deren Kopf hinweg verlauten: „Wusstest du, dass sie mal in der Bundesliga gespielt hat?“

„Na klar!“ Stefanie nickte.

Robert hob entgeistert die Augenbrauen. Offensichtlich hatte er gedacht, eine große Neuigkeit zu verkünden.

„Sie kennen sich“, mischte Klaus sich ein und erklärte, woher er diese Information hatte. „Frau Gerber und Frau Jung erzählen überall herum, dass Hannah Stefanies ehemalige Sportlehrerin war. Und dass sie sich duzen, obwohl die eine die Schülerin der anderen war. Darüber zerreißen sie sich schon den ganzen Tag das Maul.“ Klaus rollte mit den Augen, um zu zeigen, dass er dieses Getratsche nicht leiden konnte und für völlig überzogen hielt.

„Das glaub´ ich nicht!“, war Robert vollkommen baff. Man sah ihm an, dass sich hinter seiner Stirn tausend Fragen bildeten.

Stefanie und Hannah nickten. „So“, ergriff Hannah das Wort, und während sie Stefanie mit sich zog, teilte sie halblaut mit: „und wir machen fix einen Termin für eine Inliner-Stunde aus, damit du die Skates bald im Unterricht einsetzen kannst.“

In einer ruhigeren Ecke, abseits aller Kollegenansammlungen seufzte Stefanie erleichtert auf: „Danke, dass du mich vor diesem peinlichen Gespräch gerettet hast.“

„Jederzeit wieder!“ Hannah lächelte und heftete sich an Stefanies blaue Augen. „Ich hatte keine Lust dazu, Rede und Antwort über eine gemeinsame Schulzeit zu stehen.“

„Irgendwann werden wir darüber erzählen müssen“, vermutete Stefanie.

„Wieso das denn?“ Hannah runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Die Kolleginnen und Kollegen werden neugierig sein und ständig nachfragen.“ Stefanie war über diesen Umstand nicht glücklich, was sie durch ein Stirnrunzeln zu verstehen gab.

„Das kann sein, ich habe dennoch nicht vor, etwas außer den Fakten zu erzählen.“

Etwas außer den Fakten?, wunderte sich Stefanie. Was sollte das außer den Fakten wohl sein?

Hannah musste Stefanies fragendes Gesicht gesehen haben und erklärte: „Ich meine, sie wollen selbst das kleinste Detail wissen, zum Beispiel wie es damals mit dir als Schülerin war. Dich werden sie fragen, wie ich als Lehrerin aufgetreten bin. Sie wollen wissen, wie es für uns gegenwärtig ist. Ich kann dir sagen, darauf habe ich null Bock.“

Hannahs Stimme war lauter geworden. Darüber wunderte Stefanie sich. Sie kannte Hannah als ruhige und gelassene Person. Dieser kleine Ausbruch und ihre saloppe Ausdrucksweise passten nicht in das Bild, das Stefanie von ihr hatte. Sicher gab es eine Vorgeschichte mit dem Kollegium zu dem Thema. Oder zumindest mit einem Teil davon. Stefanie verkniff es sich nachzufragen, worum es dabei ging. Wenn Hannah danach war, würde sie es ihr erzählen.

„Wie wär´s, wenn wir am Freitag nach der Schule eine Einführungsstunde ins Inlineskaten machen?“, wechselte Hannah das Thema und sprach in ihrem normalen, freundlichen, fast liebevollen Tonfall. Die Arme hingen locker neben ihrem Körper. „Die Halle ist drei Stunden frei, bevor die Vereine sie nutzen. Das wäre für die Einführung genug.“

„Woher weißt du das?“, war Stefanie verwundert darüber, dass Hannah den Hallenplan offensichtlich auswendig kannte.

„Ich mache nicht nur Fortbildungsveranstaltungen, sondern ebenfalls den Hallenplan!“ Hannah grinste breit und brach in schallendes Gelächter aus, als sie Stefanies verdattertes Gesicht sah. Stefanie ließ sich von Hannahs offenherzigem Lachen anstecken. Lange nicht mehr hatte sie so herzhaft und ungezwungen gelacht.

Nach der sechsten Stunde am Freitag lag eine halbe Unterrichtswoche nach den Sommerferien in diesem neuen Schuljahr hinter Stefanie. Sie hatte ihrer eigenen 5e in der sechsten Stunde eine Deutschstunde erteilt. Nach den drei Tagen in völliger Eigenregie war sie bereits vor der sechsten Stunde ziemlich am Ende ihrer Kräfte gewesen. Diese Stunde mit den achtundzwanzig quirligen, aufgeweckten Fünftklässlern hatte ihr den Rest gegeben. Auf dem Weg zur Toilette begegnete ihr Hannah.

„Bis nachher!“, lächelte die ihr entgegen mit einem Ich freu mich! auf der Stirn.

„Hannah!“ Stefanie klang vollkommen ausgelaugt. „Ich glaube, ich stehe keine einzige Stunde in der Halle mehr durch. Ich bin vollkommen hinüber. Wärst du sehr böse, wenn wir die Einführung verschöben?“

„Natürlich wäre ich nicht böse!“ Eine leise Enttäuschung konnte Hannahs Stimme allerdings nicht verhehlen. Ihr Gesichtsausdruck schien um eine Nuance verrutscht. „Aber vielleicht wäre Bewegung genau das Mittel, um eine anstrengende Woche aus den Gliedern zu schütteln.“ Sie ließ die Worte wirken, bevor sie weitersprach: „Ich erinnere mich daran, wie es mir nach meinen Anfängen als Lehrerin ging. Ich habe mich ähnlich gefühlt wie du vermutlich im Augenblick. Statt mich zu Hause auf der Couch zu lümmeln, bin ich eine Stunde gejoggt. Das hat wahre Wunder bewirkt. Ich fühlte mich danach völlig erfrischt, und die Erschöpfung war wie weggeblasen.“ Hannah sah Stefanie an, um ihre Reaktion zu deuten. Deren Gesichtsausdruck spiegelte große Unentschlossenheit wider. „Wenn ich mich besonders erschöpft fühle, bewege ich mich eine Runde, statt meinem inneren Schweinehund nachzugeben, der nach der Horizontalen verlangt. Und meistens fühle ich mich danach besser.“

Stefanie schwieg. Natürlich wusste sie, dass Bewegung äußerst hilfreich sein konnte, wenn man müde und kaputt war. Diese Erfahrung hatte sie unzählige Male während ihres Studiums und während des Referendardienstes gemacht. Wie sie sich in diesem Moment fühlte, kannte sie nicht von sich: entkräftet, erledigt und völlig fertig. Erschlagen!

Der Wunsch, auf der Couch auszuruhen und sogar einzuschlafen, war übermächtig. Andererseits hatte Hannah recht mit ihrer Argumentation. Sie sollte ihren inneren Schweinehund überwinden und mit zur Halle gehen. Wenn sie sich überfordert fühlte, konnte sie jederzeit aufhören.

Stefanie kämpfte innerlich mit sich. Das bildete sich deutlich auf ihrem Gesicht ab. Und als wollte Hannah Stefanie keineswegs unter Druck setzen, unterbreitete sie ein Angebot: „Weißt du was? Du gehst zuerst in Ruhe aufs Klo. Wir treffen uns in der Halle, setzen uns gemütlich auf eine der Bänke und überlegen, was wir tun. – Was hältst du von dem Vorschlag?“ Mit einem zaghaften Nicken signalisierte Stefanie ihr Einverständnis.

Stefanie und Hannah sahen sich an. „Sollen wir?“, fragte die Jüngere. Hannah nickte. Die beiden nahmen Anlauf und ließen sich mit einem Sprung auf die dicke blaue Matte plumpsen. Sie konnten vor Lachen nicht an sich halten.

Als das Gelächter nachließ, stellte Stefanie fest: „Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass Inlineskaten so wahnsinnigen Spaß macht. Und vor allem fühle ich mich wesentlich erholter als nach der Stunde in meiner Klasse.“

„Du hast es noch nicht an der frischen Luft ausprobiert.“ Hannahs Augen fesselten Stefanies Blick. „Am Baldeneysee zu skaten, macht unglaublich viel Spaß. Wenn einem eine kühle Brise um die Ohren weht, fühlt man sich augenblicklich lebendiger und vor allem wacher.“

„Das kann ich mir durchaus vorstellen“, stimmte Stefanie zu. „Ich glaube, dafür muss ich öfter trainieren. Bremsen bergab stelle ich mir schwierig vor. Da hätte ich Schiss im hügeligen Gelände.“

„Du bist ein Naturtalent“, lobte Hannah und lächelte.

„Danke!“ Stefanies Wangen röteten sich unversehens. „Du bist eben eine tolle Lehrerin. Die Kollegen haben nicht zu viel verspochen.“

„Was erzählen sie sich denn?“ wollte Hannah neugierig wissen.

„Dass du äußerst kompetent bist in dem, was du tust und dass du es schaffst, das Skaten auch dem letzten Deppen beizubringen.“

„Mal im Ernst, es war kein Hexenwerk, dich im Skaten zu unterrichten. Du bewegst dich auf den Inlinern, als hättest du nie etwas anderes getan. Und für das Bremsen am Berg brauchst du höchstens zwanzig Minuten Übung und du hast es drauf.“

„Ernsthaft?“ Stefanie war die Unsicherheit über ihre eigenen Fähigkeiten deutlich anzumerken.

„Was für ein Gefühl hast du? Du machst einen ziemlich robusten Eindruck, wenn du auf den Inlinern stehst.“

„Ich fühle mich einigermaßen sicher. Wie gesagt, habe ich vor allem vor dem Bremsen bergab ziemlichen Respekt.“

„Da hilft nur learning by doing. Wie wär´s, wenn wir am Wochenende am Baldeneysee ein bisschen trainieren und dein bisheriges Wissen in der freien Natur erproben?“, schlug Hanna vor.

„Oh! Das geht leider nicht.“ Stefanies Gesicht nahm einen geknickten Ausdruck an. „Am Wochenende sind wir eingeladen. Meine Schwiegermutter in spe wird siebzig.“

„Du heiratest bald. Meinen Glückwunsch!“ Mit einem Mal war der warmherzige Ausdruck aus Hannahs Stimme verschwunden.

„Danke! Um es korrekt zu formulieren verpartnern wir uns.“

„Du bist mit einer Frau liiert!“, schlussfolgerte Hannah und bemühte sich hörbar um einen neutralen Ton.

Stefanie nickte. „Nächsten Sommer soll die Verpartnerung stattfinden.“

„Das ist lang hin.“

„Ruth – meine Partnerin – plant die Dinge minutiös: wer eingeladen wird, wann welches Lied gespielt wird, wie die Tischordnung ist, was es zu essen gibt und so weiter. Sie will nichts dem Zufall überlassen.“

„Höre ich da einen Hauch Missfallen heraus?“ Hannah lächelte zurückhaltend.

„Nein, eigentlich nicht. Höchstens Amüsement.“ Stefanie lächelte ebenfalls. „Ich finde es schade, dass wir am Wochenende nicht Skaten können! Können wir das Üben auf das darauffolgende Wochenende verschieben?“

„Aber klar.“ Hannah fixierte Stefanie mit ihren Augen. Deren Herzschlag erhöhte sich augenblicklich bei diesem wahrhaftig durchdringenden Blick – wie viele Male zuvor, als sie noch Hannahs Schülerin war.

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