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Hippokrates und die „Heilige Krankheit“

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Hippokrates, der Vater der Medizin, übernahm hundert Jahre später diese Lehre vom Primat des Gehirns, um jene berühmte Erklärung der Epilepsie zu liefern, mit der er der „Heiligen Krankheit“ ihre mystische Bedeutung nahm. Ausgangspunkt seiner Überlegungen waren detaillierte Beobachtungen des Verhaltens der Kranken verschiedenen Alters vor und während des Anfalls: „Die Kranken, die schon mit der Krankheit vertraut sind, merken vorher, wenn ein Anfall kommt, und fliehen aus der Gesellschaft der Menschen, und zwar, wenn ihr Haus in der Nähe ist, nach Hause, andernfalls an möglichst einsame Stellen, wo recht wenige sehen können, wie sie hinfallen, und sie verhüllen sich sofort. Das aber tun sie, weil sie sich ihres Leidens schämen, und nicht, wie die verbreitete Meinung ist, aus Furcht vor der Gottheit. Die kleinen Kinder aber fallen, weil sie noch nicht an die Krankheit gewöhnt sind, anfänglich hin, wo sie sich gerade befinden. Wenn sie aber häufig Anfälle gehabt haben, dann flüchten sie sich, wenn sie sie kommen fühlen, zu ihrer Mutter oder sonst einem guten Bekannten, wegen der Furcht und des Schreckens, die das Leiden ihnen einflößen“ (Hippokrates 1962, S. 144).

Nach der Ansicht des Hippokrates ist jedoch diese sog. „Heilige Krankheit“ keineswegs göttlicher oder heiliger als die anderen Krankheiten. Wie alle Krankheiten, so hat auch sie eine natürliche Ursache, auch wenn sie schwer erkennbar ist. Diejenigen, die zuerst diese Krankheit für heilig erklärt haben, waren nach seiner Meinung „Menschen, wie sie auch jetzt noch als Zauberer, Entsühner, Bettelpriester und Schwindler herumlaufen“. Sie missbrauchten die göttliche Macht als Deckmantel für ihre eigene Ratlosigkeit, weil sie nicht wussten, wie sie den Kranken helfen sollten. Ihre obskuren Heilmethoden bestanden aus Besprechungen, Entsühnungsriten und Verboten, wie das Verbot Ziegenfleisch zu essen, auf Ziegenfellen zu schlafen oder sich in sie zu kleiden oder schwarze Kleider zu tragen, weil Schwarz die Farbe des Todes ist.

Alle diese Praktiken und Vorschriften dienen nach Hippokrates diesen Schwindlern nur dazu, dass sie für sich, wenn der Kranke gesund wird, den Ruhm ärztlicher Geschicklichkeit in Anspruch nehmen können. Wenn er aber stirbt, weisen sie die Schuld den Göttern zu, da sie dem Kranken weder feste noch flüssige Medizin gegeben, noch in warme Bäder gesteckt haben. Wenn es aber an Ziegenleder und Ziegenfleisch läge, sagt Hippokrates höhnisch, würde von den Afrikanern im Innern des Landes keiner gesund sein; denn diese haben keine Decken, kein Kleid und keine Schuhe, die nicht aus Ziegenleder gemacht wären, da sie kein anderes Vieh als Ziegen besitzen.

Die Epilepsie ist daher nach seiner Meinung eine Krankheit wie alle anderen und nicht weniger heilbar als sie, sofern sie nicht schon vor langer Zeit her eingewurzelt ist, sodass sie stärker ist als die Arzneien, die man den Kranken eingibt. Ihr natürlicher Ursprung liegt in der Vererbung und sie ist an eine bestimmte Konstitution gebunden.

Schuld aber an diesem Leiden ist das Gehirn, das bei Menschen mit angeborener schleimiger Konstitution durchnässt und feucht ist und vor Schleim, den es nicht mehr ausscheiden kann, überläuft. Am besten kann man das nach Hippokrates am Vieh erkennen, das auch von dieser Krankheit befallen werden kann, am häufigsten aber die Ziegen, was vielleicht das Verbot, Ziegenfleisch zu essen, rechtfertigen kann. Wenn man den Kopf einer Ziege seziert, sagt Hippokrates, der dies offensichtlich auch selbst getan hat, wird man finden, dass das Gehirn feucht, voll von Wasser und übel riechend ist. Daran kann man erkennen, dass nicht die Gottheit den Körper schädigt, sondern die Krankheit.

Sieht man von der bei Hippokrates alle medizinischen Überlegungen beherrschenden Lehre von den beiden Hauptsäften ab, so scheint er bereits deutlich die genetisch determinierte, primär generalisierte Epilepsie, die nach heutiger Auffassung subkortikal, d.h. in den tieferliegenden Teilen des Gehirns „gezündet“ wird, von der kortikal, in der Hirnrinde angeregten sekundären Epilepsie unterschieden zu haben. Denn er weist darauf hin, dass die Entstehung der Epilepsie bereits im Embryo beginnt und dass das so erkrankte Kind, wenn es heranwächst einen kranken Kopf haben wird, „der voll von Geräusch ist“ und weder Sonne und Kälte ertragen kann.

Aber es sind nicht so sehr die äußeren Ursachen die einen epileptischen Anfall auslösen. Die ersten Anlässe zu solchen Anfällen sind vielmehr dann gegeben, wenn das Kind erschrickt und wenn es sich fürchtet, weil jemand laut gerufen hatte, oder auch, wenn es mitten im Weinen nicht imstande ist, schnell wieder zu Atem zu kommen, wie es ja bei Kindern häufig vorkommt. In jedem Fall packt den Körper sogleich ein Kälteschauer, das Kind verliert die Sprache, vergisst das Atmen, die Atemluft kommt zum Stillstand und das Gehirn verfestigt sich. Diejenigen, die als kleine Kinder von dieser Krankheit befallen werden, werden größtenteils sterben. Wenn sie aber überleben, bleibt meist etwas zurück. Entweder bleibt der Mund verzogen oder ein Auge oder eine Hand oder der Hals. Für die Zukunft ist das meistens von Nutzen, denn das Kind wird nicht wieder von dieser Krankheit befallen, wenn es einmal in dieser Weise gezeichnet ist. Für diejenigen, die ohne Schaden davon gekommen sind, besteht dagegen die Gefahr, dass die Krankheit sich bei ihnen einnistet und mit ihnen wächst. Menschen aber, die mehr als zwanzig Jahre alt sind, werden von dieser Krankheit kaum noch befallen, soweit der Kranke nicht seit seiner Kindheit an ihr gelitten hat. Die älteren Leute tötet diese Krankheit nicht, wenn sie auftritt, denn ihr Gehirn hat sich bereits konsolidiert und ist fest.

Die Analyse dieser Krankheit, aber auch anderer geistiger Erkrankungen und abnormer psychischer Zustände, führen Hippokrates zur Ansicht, dass alle Phänomene des Geistigen und seelischen Lebens, „Lust und Freude, Gelächter und Scherz und ebenso Schmerz und Leid, Unlust und Weinen vom Gehirn her über uns kommen. Mit ihm vor allem denken wir und haben Einsicht und sehen und hören und unterscheiden das Hässliche und das Schöne, das Schlechte und Gute, das Angenehme und Unangenehme. Eben dieses Gehirn ist für uns auch Ursache von Raserei und Wahnsinn, und durch seine Einwirkungen befallen uns Angst und Schrecken in der Nacht wie am Tage, Schlaflosigkeit, Mißgriffe, Irrtümer, unangebrachte Sorgen, mangelnde Einsicht in die tatsächliche Lage und Handeln gegen die Gewohnheit“ (Hippokrates 1962, S. 146).

So großartig diese Intuition aus den Erfahrungen eines praktischen Arztes auch sein mag, die anatomische Struktur und Funktionsweise des Gehirns, war ihm jedoch noch weitgehend unbekannt. Er sah das Gehirn selbst nur als eine Drüse an: „Das Gehirn ist weiß und bröckelig und liegt in der geräumigen Kopfhöhle.“ Er erkannte aber bereits die Zweiteilung in die beiden Gehirnhemisphären: „Das menschliche Gehirn ist zweihälftig … Eine zarte Haut zerteilt es in der Mitte. Wegen dieser Anordnung hat man nicht immer auf derselben Seite Kopfschmerzen, sondern bald links, bald rechts, bald im ganzen Kopf.“ Trotzdem war er der Meinung, dass „für alle Sinnesempfindungen allein das Gehirn verantwortlich ist. Die Augen, die Ohren, die Zunge, die Hände und die Füße führen nur das aus, was das Gehirn für richtig hält“. Aus diesen Gründen behauptete er auch, „daß das Gehirn den Verstand vermittelt“. Das Medium des Denkens aber war für Hippokrates nicht die „weiße, bröckelige“ Hirnmasse, sondern die Luft, die zuerst ins Gehirn kommt, wenn der Mensch den Atem einzieht, und von dort aus dann sich im ganzen Körper verbreitet, „wobei sie im Gehirn ihren besten Teil. d.h. das, was Denkfähigkeit und Einsicht hat, hinterläßt“ (a.a.O., S. 147).

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