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3. Vom Mittelalter zur Neuzeit:
Die Gehirnventrikel als Sitz der Seele

Die spekulative Zellenlehre des Mittelalters

Diesen Ratschlag haben die Kirchenväter und Scholastiker des Mittelalters berücksichtigt. Sie übernahmen mit der aristotelischen Erkenntnistheorie und Psychologie zugleich als unantastbare Autorität die anatomisch-physiologische Lehre des Galen, ohne sie auch nur im Geringsten zu verändern.

Das Gleiche taten auch die arabischen Aristoteleskommentatoren, von denen die berühmtesten, wie z.B. Avicenna, auch zugleich Ärzte waren. Auf diese Weise erhielt das Paradigma der Ventrikellehre jene universale kulturinvariante Bedeutung, wie die fast stereotypen Darstellungen zeigen, in denen das Dreizellenschema aus religiösen Gründen zum Teil in symbolischer Form, aber außerhalb des arabisch-islamischen Bereiches auch immer häufiger in einen naturalistisch dargestellten Kopf hineinprojiziert wird. Wie jedoch bereits Grünthal (1957) betont hat, ließ gerade diese ausschließlich die Ventrikel für funktionell bedeutsam erklärende Ansicht kein Interesse an der Form des Hirnes selbst aufkommen. Die Ventrikel, von deren anatomischer Struktur und Lage man eigentlich nichts mehr wusste, wurden als drei große, hintereinander im Kopf liegende Zellen vorgestellt, in denen eine oder mehrere Erkenntniskräfte oder Erkenntnisvermögen hausen sollten, deren Existenz als Spiritus animales, bestehend aus dem Dunst des Blutes, halb materiell, halb geistig angesehen wurde. Folgende Anordnung war es, die mit geringen Abwandlungen das ganze Mittelalter hindurch bis zur Neuzeit aufrechterhalten worden ist: In der ersten Zelle (anatomisch mit den beiden Seitenventrikeln gleichzusetzen) wurden der Sensus communis, der nach Aristoteles alle Sinne zu einer Einheit verbindet, und die Phantasie oder Vis imaginativa, die Einbildungskraft, angesiedelt, in der zweiten Zelle der Verstand (Vis cogitativa) und in der dritten Zelle das Gedächtnis (Vis memorativa).

Zwischen der ersten Zelle und den beiden hinteren Zellen stellte man sich eine seltsame Einrichtung vor: den sog. Vermis, einen wurmförmigen, beweglichen Fortsatz, der die Funktion haben sollte, den Weg zu den hinteren Zellen zu öffnen oder zu versperren. Klappte dieser Vermis zu, dann bedeutete das, dass die vorne erzeugten Sinneseindrücke und Vorstellungen vom Verstand nicht weiterverarbeitet und vom Gedächtnis nicht aufgenommen werden konnten. Dieses, zumindest seiner Funktion nach, mit Recht als „Phantasiegebilde“ (Grünthal 1957) bezeichnete Organ, das man meist Avicenna zuschreibt, aber als „anatomische Realität“ bereits in Galens Schriften vorkommt, taucht in fast allen Darstellungen der Zellen im Mittelalter und in späteren Druckschriften auf. So unsinnig war allerdings die Vorstellung von der Funktion des Vermis nicht, denn der Vermis hat tatsächlich in der sog. Formatio reticularis, einem System von vielgestaltigen Nervenzellen in der Region des Hirnstammes, ein funktionales Äquivalent. Die Formatio reticularis hat die Bedeutung eines Steuersystems der Bewusstseinslage, von dessen Aktivitäten es abhängt, in welchem „Wachheitszustand“ sich ein Lebewesen befindet, womit sich auch die Vermutung des Aristoteles bestätigt, dass das Gehirn für den Schlaf verantwortlich ist.


Abb. 2: Die Ventrikellehre nach einer Handschrift aus dem Jahre 1524 (aus Clarke u. Dewhurst 1974)

Leonardo da Vincis anatomische Untersuchung der Hirnventrikel

Die Zellenlehre wurde nicht nur unangetastet im ganzen Mittelalter – also zu einer Zeit, in der man keine anatomischen Forschungen mehr betrieb – weitergegeben, sondern sie bestimmte auch noch einen der selbständigsten und größten Geister der Renaissance. Leonardo da Vinci befasste sich zwar ursprünglich nicht mit der Anatomie des Menschen um ihrer selbst willen, sondern wie andere Maler der Renaissance nur deswegen, um eine feste Grundlage für sein künstlerisches Schaffen zu bekommen. Aber wie bei allen anderen Gebieten der Naturwissenschaft und Technik, mit denen er sich beschäftige, wurde daraus ein rein wissenschaftliches Anliegen. Aus zeitgenössischen Zeugnissen und Leonardos eigenen Angaben geht hervor, dass er an mehr als dreißig Leichen beiderlei Geschlechts und aller Lebensalter Sektionen ausgeführt hat. Dabei entwickelt er eigene neue Methoden zur Herstellung von Präparaten, die er dann genau nachzeichnete und mit Anmerkungen versah. Leider ist der größte Teil dieser anatomischen Aufzeichnungen verloren gegangen oder vernichtet worden. Er musste auch seine anatomischen Studien plötzlich abbrechen, als ihm Papst Leo X. den Zutritt zur Totenkammer des Heiliggeistspitals in Rom verwehrte. Charakteristisch für Leonardos Studien über den menschlichen Körper ist die enge Verbindung von anatomischer und physiologischer Betrachtungsweise. Er wollte ja, dass von jedem Organ oder Körperteil „der Gebrauch, der Zweck, der Nutzen“ festgestellt würde. Das war auch die Zielsetzung bei seinen hirnanatomischen Untersuchungen, die sich vor allem auf die Hirnventrikeln bezogen.

Denn auch er nahm an, dass sich in ihnen der Prozess der Erkenntnis abspielt: „Die Forscher des Altertums haben die Schlußfolgerung gezogen, daß das Urteilsvermögen, das dem Menschen gegeben ist, durch ein Werkzeug hervorgerufen wird, mit dem die andern fünf Sinne durch das Wahrnehmungsorgan (Impressiva) in Beziehung stehen. Und sie haben diesem Werkzeug den Namen ‚Allgemeinsinn‘ (Sensus communis) beigelegt und behaupten, dieser Sinn liege genau in der Mitte. Übrigens gebrauchen sie diese Bezeichnung ‚Allgemeinsinn‘ nur, weil er der gemeinsame Beurteiler der anderen fünf Sinne ist, nämlich Gesichts-, Gehör-, Tast-, Geschmack- und Geruchsinn. Der Allgemeinsinn wird angeregt durch das Wahrnehmungsorgan, das in der Mitte zwischen ihm und den Sinnen angebracht ist. Das Wahrnehmungsorgan aber wird angeregt durch die Bilder der Dinge, die ihm übermittelt werden durch die an der Oberfläche liegenden Werkzeuge, d.h. der Sinne, die in der Mitte zwischen den äußeren Dingen und dem Wahrnehmungsorgan liegen, und die Sinne werden wiederum durch die Gegenstände angeregt. Die Dinge ringsum senden ihre Bilder zu den Sinnen, und die Sinne übertragen sie bis zum Wahrnehmungsorgan, und das Wahrnehmungsorgan übermittelt sie dem Allgemeinsinn und dieser prägt sie dem Gedächtnis ein, und dort werden sie mehr oder weniger gut behalten, je nach der Bedeutung oder Wirkungskraft des übertragenen Gegenstandes“ (Leonardo da Vinci 1940, S. 118f.).


Abb. 3: Gehirnventrikel in der Darstellung von Leonardo da Vinci (aus Clarke u. Dewhurst 1974)

Entsprechend dieser Beschreibung stellte auch Leonardo zunächst die drei Ventrikel als drei hintereinander liegende und ineinander übergehende Kreise dar (vgl. Abb. 3).

Aus dieser Darstellung geht auch die besondere Bedeutung des Gesichtssinnes hervor: „Der Sinn, der dem Wahrnehmungsorgan am nächsten ist, erfüllt seine Aufgabe am schnellsten. Es ist der Gesichtssinn, der Gebieter und Fürst der anderen.“

Um die wahre Form der Hirnventrikel zu bestimmen, gibt Leonardo selbst folgende Anweisung: „Mache zwei Luftlöcher in die Hörner der großen Ventrikel, führe das geschmolzene Wachs mit einer Spritze ein, indem du ein Loch in den Ventrikel der Memoria bohrst, und fülle durch dieses Loch die drei Gehirnventrikel. Nimm dann, sobald das Wachs fest geworden ist, das Gehirn heraus, und du wirst die Gestalt der drei Ventrikel genau sehen. Vorher aber setze dünne Röhren in die Luftlöcher ein, damit die Luft, die in diesen Ventrikeln ist, entweichen und dem Wachs Platz machen kann.“ (a.a.O., S. 105)

Dieselbe Methode wandte Leonardo auch bei Darstellung der Herzkammern an. Das Rückenmark hat nach Leonardo seinen Ursprung im Gehirn und besteht aus der gleichen Substanz. Von ihm gehen dann die Nerven aus. Wie wichtig das Rückenmark für jedes Lebewesen ist, geht daraus hervor, dass man sofort stirbt, wenn es durchbohrt wird. Der Tradition Galens folgend, hat auch Leonardo selbst Experimente an Fröschen angestellt: „Der Frosch behält das Leben noch einige Stunden, wenn der Kopf, das Herz und alle Eingeweide ihm genommen sind. Aber wenn du das genannte Rückenmark durchstichst, dann zuckt er plötzlich zusammen und stirbt“ (a.a.O., S. 118).

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