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2. Die Anfänge der Hirnforschung in der Antike Die ersten Hirnforscher: Alkmaion von Kroton,
Diogenes von Apollonia und Demokrit

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Die eigentliche Geschichte der wissenschaftlichen Hirnforschung beginnt erst bei den Griechen, und zwar schon im 6. Jahrhundert v. Chr., als Alkmaion von Kroton die zentrale Rolle des Gehirns für die menschliche Erkenntnis hervorhob: „Das Gehirn ist es, das die Wahrnehmungen des Hörens, Sehens und Riechens gestattet; aus diesen entstehen Gedächtnis und Vorstellung, aus Gedächtnis und Vorstellung aber, wenn sie sich gesetzt haben und zur Ruhe gekommen sind, bildet sich das Wissen“ (Capelle 1940, S. 111).

Alkmaion galt auch schon in der Antike als derjenige, „der es zuerst gewagt hat, eine Sektion vorzunehmen“. Auf diese Weise erkannte er bereits die „zwei schmalen Wege, die vom Gehirn aus, in dem die höchste und entscheidende Kraft der Seele wurzelt, zu den Höhlungen der Augen gehen, die ein natürliches Pneuma enthalten“. Die genaue Schilderung des Verlaufes dieser Wege, der Nervenstränge, die er selbst als „Poroi“, d.h. hohle Kanäle oder Röhren, ansah, zeigen deutlich seine anatomischen Kenntnisse: „Während diese Wege von ein und demselben Ursprung und derselben Wurzel (im Gehirn) ausgehen und im innersten Grunde der Stirn eine Weile verbunden sind, gelangen sie, nachdem sie sich gabelförmig voneinander getrennt haben, zu den Augenhöhlen, da wo sich die den Augenbrauen querliegenden Wege erstrecken, dort biegen sie um, indem der Schoß von Häuten die natürliche Feuchtigkeit aufnimmt und füllen Kugeln aus, die durch die Decke der Augenlider geschützt sind“ (Capelle 1940, S. 110f.). Und Alkmaion fügt hinzu, dass die Tatsache, dass diese Wege von ein und demselben Ursprung im Gehirn ausgehen, „durch die Sektion schlagend bewiesen“ wird. Dass Alkmaion diese Sektionen nicht nur an toten, sondern auch an lebenden Tieren durchgeführt hat, lässt sich nur vermuten (Wellmann 1929, S. 159; Hirschberg 1922, S. 19f.). Es zeigt sich jedenfalls damit schon die dunkle Schattenseite der Hirnforschung, die von nun an ihre gesamte historische Entwicklung begleitet.

Aber auch ohne Sektionen, die den Verlauf dieser Wege sichtbar machen, ist es klar, dass beide Wege einen gemeinsamen Ursprung haben müssen. Das ergibt sich schon daraus, „daß beide Augen nur zusammen bewegt werden und nicht das eine ohne das andere bewegt werden kann“ (Capelle 1940, S. 111). An der Beschreibung der Nervi optici samt dem Chiasma opticum durch Alkmaion kann daher kein Zweifel bestehen (vgl. Benedum 1988, S. 30). Der eigentliche Vorgang des Sehens wird von Alkmaion als eine Art von Widerspiegelung der Gegenstände angesehen, die durch die anatomische Struktur des Auges bestimmt wird: Die Substanz des Auges besteht selbst aus vier Häuten oder Hüllen von ungleicher Festigkeit. Diese Häute sind durchsichtig und mit diesem Durchsichtigen wird das Licht und alle hellen Gegenstände widergespiegelt. Das aber wird dadurch ermöglicht, dass in den Augen selbst Licht bzw. Feuer enthalten ist: „Denn wenn das Auge ein Schlag träfe, dann sprühe es Funken“ (Capelle 1940, S. 110).

In ähnlicher Weise erklärt Alkmaion, dass wir mit den Ohren hören, weil in ihnen ein Hohlraum vorhanden ist, der selbst tönt. Denn wir sprechen ja auch vermittels eines Hohlraumes. Mit der Nase riechen wir zugleich mit der Einatmung, indem wir den Atem bis zum Gehirn einziehen. Mit der Zunge unterscheiden wir die Geschmäcke. Denn sie ist warm und weich und bringt durch ihre Wärme die Geschmäcke zum Schmelzen. Infolge ihrer lockeren und zarten Natur nimmt die Zunge sie auf und leitet sie dem Gehirn weiter.

Daher ist es auch weder die Luft noch das Feuer, mit dem wir denken, sondern vielmehr das Gehirn, dass die Tätigkeit des Hörens, Sehens und Riechens verleiht. Und daraus, argumentiert Alkmaion weiter, entsteht dann Gedächtnis und Meinung, und aus diesen entwickelt sich das Wissen, das sich sprachlich mitteilen lässt. Aber auch hier ist es das Gehirn, das den Verstand sprechen lässt. Und solange das Gehirn unversehrt ist, hat der Mensch auch Verstand. In Zusammenhang mit diesen Forschungen stellt Alkmaion auch einen fundamentalen Unterschied zwischen Mensch und Tier fest: „Der Mensch unterscheidet sich von den übrigen Lebewesen dadurch, daß er allein denkt, während die anderen Lebewesen zwar Sinneswahrnehmungen haben, aber nicht denken“ (Capelle 1940, S. 112).

Eine ähnliche Vorstellung wie Alkmaion hatte im letzten Drittel des vorchristlichen Jahrhunderts Diogenes von Apollonia entwickelt. Als Anhänger oder Epigone des Anaximenes, der die Luft als Weltprinzip annahm, versuchte Diogenes dieses Prinzip auf die Physiologie anzuwenden, insbesondere auf das Herstellen der Verbindung der Sinnesorgane mit dem Gehirn. Es besteht zwar eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen ihm und Alkmaion in der Rolle, die beide der Luft in der Funktion des Riechens und Hörens zuschreiben, aber sie hat bei Diogenes eine noch viel weitergehende Bedeutung. Denn sie ist für ihn überhaupt der Träger des Lebens, der Sinneswahrnehmung, des Denkens und der Bewegung. Als Physiologe und Arzt war er im Unterschied zu seinem Vorbild Anaximenes mehr an der Frage der normalen und wirksamen Übertragung von Sinneseindrücken interessiert als an erkenntnistheoretischen oder metaphysischen Problemstellungen. Deswegen schreibt er auch der Seele keinen besonderen Sitz zu.

Das Organ des Denkens muss nicht mit dem Organ des Lebens identisch sein. Im Vordergrund steht vielmehr die Frage nach den Leitungen, welche die Sinnesorgane mit dem Gehirn und Herzen verbinden. Für Diogenes sind es die Blutgefäße, durch die sich auch die Luft bewegt. Das Blut selbst hat für ihn nur eine Hilfsfunktion und darf nicht den Durchgang der Luft verhindern. Denn die Übermittlung von Wahrnehmungen der Nase und des Ohres zum Gehirn erfolgt durch die Adern. Die Übertragung von Sinneseindrücken wird als ein „Mischen“ verstanden. Die Luft, die von außen in die Sinnesorgane kommt, vermischt sich mit der Luft, die „das Gehirn umgibt“ (Capelle 1940, S. 331). Für das richtige Funktionieren sowohl der Übertragung der Sinneswahrnehmungen zum Gehirn als auch deren Verarbeitung ist auch die Beschaffenheit der Luft von entscheidender Bedeutung: „Denken läßt sich nur vermittels der reinen und trockenen Luft. Denn die Feuchtigkeit behindert das Denken. Deshalb haben wir im Schlaf, im Rausch und bei überladenen Magen weniger Denkfähigkeit“.

Eine konsequentere materialistische Erklärung der Übertragung der Sinneseindrücke hat Demokrit geliefert. In dieser Hinsicht kann man ihn auch als einen Vorläufer von Descartes und de La Mettrie ansehen. Die durch Theophrast überlieferte Zusammenfassung seiner Ansichten zeigt, dass Demokrit sich nicht nur mit den Vorgängen in den Sinnesorganen befasste, sondern dass er auch zu erklären versuchte, wie Wahrnehmungen „weitergegeben“ werden. Wo immer sich auch der vernunftbegabte Teil der Seele nach seiner Auffassung befinden mag, seine von Leukipp übernommene Lehre von den Atomen gibt jedenfalls eine Antwort auf die Frage über den Transport der Sinneseindrücke im Körper selbst. Denn die Grundidee seiner Atomistik besteht darin, dass alles aus Atomen und leeren Zwischenräumen besteht. Die Atome sind wegen ihrer Kugelgestalt immer in Bewegung und daher gibt es auch einen ständigen Strom von den Atomen der Wahrnehmungsgegenstände zu den Sinnesorganen. Da auch der menschliche Körper in allen seinen Bestandteilen aus Atomen und leeren Zwischenräumen besteht, können die durch die Sinnesorgane einströmenden Atome weit in den Körper eindringen und mit den im menschlichen Körper vorhandenen Seelenatomen in Berührung kommen.

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