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Die aristotelische Erkenntnistheorie
als heuristische Grundlage der Hirnforschung

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Es war vor allem jener von Aristoteles in subtiler Weise ausgearbeitete Bereich zwischen Wahrnehmen und Denken, der bis weit in die Neuzeit für die Hirnforschung eine entscheidende Rolle spielte. Denn gerade die Fähigkeiten Sensus communis (Gemeinsinn), Phantasia (Einbildungskraft) und Memoria (Gedächtnis) waren es, die als höhere Hirnfunktionen entweder wie im Mittelalter in den Ventrikeln oder wie in der Neuzeit in bestimmten Teilen des Gehirns lokalisiert wurden.

Am wenigsten genau ist von Aristoteles der Sensus comunis beschrieben. Er ist aber eine notwendige Konsequenz seiner Wahrnehmungstheorie. Die Wahrnehmung ist, wie Aristoteles aus seiner Kenntnis der Physiologie und Medizin weiß, an die Differenzierung in die fünf Sinnesorgane gebunden, welchen wiederum jeweils die ihnen eigentümlichen Sinnesobjekte zukommen. Wenn Aristoteles in diesem Zusammenhang von der Unfehlbarkeit der Wahrnehmung spricht, dann meint er nur diese sinnesadäquate Wahrnehmung: Der Gesichtssinn sieht Farbe, Helligkeit oder Dunkelheit, der Gehörsinn hört Töne usw.

Es gibt daher für Aristoteles eine Unmittelbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung, bei der Sinnesorgan und Gegenstand eine Einheit bilden, in der wir uns niemals täuschen können. Die Wahrnehmung ist einerseits im Organ als Empfindung des Gegenstandes und andererseits im Gegenstand als Reiz des Organs. Aber diese Wahrnehmung ist lediglich die Wahrnehmung der dem jeweiligen Sinnesorgan eigentümlichen Merkmale des Gegenstandes und nicht des Gegenstandes selbst als Träger dieser Eigenschaften: Darin, dass etwas weiß ist, täuscht man sich nach Aristoteles nie, ob es aber dieses Weiß, z.B. Schnee, oder ein anderes, z.B. Zucker, ist, darin kann man sich täuschen.

Das aber heißt, dass sich diese untrügliche Wahrnehmung gewissermaßen in ihre einzelne Sinnesobjekte zerschlagen würde, was zur Folge hätte, dass weder ein gemeinsames Objekt der Wahrnehmung zustande käme, noch dass der Wahrnehmungsgegenstand als solcher erkannt würde. Deshalb muss Aristoteles einen „gemeinsamen“, „einheitlichen“ oder „zentralen“ Sinn annehmen, über den er sich allerdings nur sehr spärlich äußert (De Anima 426 b 16 und 20, 431 b 5). Über die Frage, ob diesem Sensus communis ein körperliches Organ entspricht, das Herz oder überhaupt das Fleisch, darüber haben sich bereits die Aristoteleskommentatoren in der Antike gestritten. Dass Aristoteles selbst den Sitz dieses Zentralsinns nicht im Gehirn angenommen hat, geht bereits daraus hervor, dass er das Zusammentreffen zweier Sinne im Schädel oder Gehirn ausdrücklich bestreitet (De Vita 469 a 21 f, De Part an. 656 a 17ff.).

Aber wie bereits Sherrington hervorgehoben hat, zog er den für die Erklärung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit so entscheidenden Schluss, „daß ein interner Versammlungsort der Sinneskanäle ein charakteristischer Zug des Organs des Bewußtseins sein müsse“. Und Sherrington fügt im Sinne der bereits von der Evolutionstheorie beeinflussten Hirnforschung hinzu:

„Nicht neue Sinne, sondern eine bessere Verbindung zwischen den alten Sinnen hat die Entwicklung des Nervensystems angestrebt“ (Sherrington 1964). Dass auch Aristoteles nicht einen besonderen Sinn über die Fünfzahl der Sinne hinaus angenommen hat, geht schon aus seinen eigenen Bemerkungen hervor, wenn er ausdrücklich sagt, „daß es außer den fünf Sinnen, Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Tastsinn, keine weiteren gibt“, weil uns sonst ja ein Sinneswerkzeug fehlen würde (424 b 22).

Der Sensus comunis liegt daher wie bereits der antike Kommentator des Aristoteles Philoponus festgestellt hat, auf einer anderen nicht direkt mit einem körperlichen Organ identischen Ebene, die zwischen der adäquaten Sinneswahrnehmung und dem Denken vermittelt, das ohne sinnliches Vorstellungsbild (Phantasma) nicht zustande kommen kann. Zu dieser Ebene gehören daher auch Einbildungskraft (Phantasia) und Gedächtnis (Memoria). Wenn Aristoteles von „Phantasia“ spricht, so meint er in erster Linie nicht die freie, willkürlich schöpferische, produktive Einbildungskraft im heutigen Sprachgebrauch des Wortes „Phantasie“, sondern die reproduktive, welche die Wahrnehmungsinhalte wieder hervorrufen kann. Das „Phantasma“ ist somit die Vorstellung eines Wahrnehmungsgegenstandes in seiner Abwesenheit. Es bedarf daher des Gedächtnisses, um den Gegenstand ohne sein unmittelbares Vorhandensein wieder reproduzieren zu können. Das Bildhafte der Phantasmata drückt Aristoteles dadurch aus, dass er sagt, dass wir uns, wenn wir uns in der Phantasie etwas Schreckliches vorstellen, so verhalten, als ob wir es auf einem Gemälde betrachten. Da die Phantasie gerade dann auftritt, wenn die unmittelbare Bezogenheit auf die wirklichen Gegenstände fehlt, ersetzt sie die wirkliche Wahrnehmung und ist gleichsam „ein Sehen mit geschlossenen Augen“ (428 a 16). Je mehr die wirkliche Wahrnehmung zurücktritt, desto mehr kann die Einbildungskraft in Tätigkeit treten. Auf diese Weise ist die Einbildungskraft sowohl als ergänzender als auch als verfälschender Faktor an der Wahrnehmung beteiligt. Als ergänzender Faktor, der die adäquate Sinneswahrnehmung der einzelnen Merkmale zu einem einheitlichen Gegenstand verbindet, steht sie dem „Gemeinsinn“, dem Sensus communis nahe oder ist sogar mit ihm identisch.

Zur Erinnerung (Mnemoneuma) wird das Phantasma, wenn man in ihm das Abbild eines Wahrgenommenen erkennt und sich der Gedanke mit ihm verbindet, dass es die Wiederholung einer früheren Wahrnehmung sei; ein Punkt, über den man sich nicht immer im Klaren ist. Deshalb erkennt man bald wirkliche Erinnerungen nicht als solche, bald hält man bloße Einbildungen für Erinnerungen. Die Vermittlerrolle, die die Phantasie zwischen Wahrnehmung und Denken spielt, kommt bei Aristoteles dadurch zur Geltung, dass er die reproduzierende Einbildungskraft mehr der Wahrnehmung und die schöpferische, produzierende Einbildungskraft, „die aus mehreren Phantasmata eins machen kann“, mehr dem Denken zuordnet, ja als „Ersatz für das Denken“ (433 a 10) bezeichnet. Sie kommt daher auch seiner Meinung nach nur bei jenen Lebewesen vor, die denken können (434 a 7).

Wie Aristoteles eine reproduktive Einbildungskraft, die dem Sensus communis und somit der Wahrnehmung nahe steht, von einer produktiven Einbildungskraft, die einem bildhaften Denken ähnlich ist, unterscheidet, so unterscheidet er auch einen passiven Verstand (Intellectus passivus), der auf die Phantasmata der Einbildungskraft angewiesen ist, von einem aktiven Verstand, dem bereits erwähnten Intellectus agens, der an kein körperliches Organ gebunden ist und daher anders als der passive Verstand, der mit dem Leib zugrunde geht, unsterblich ist.

Dass Aristoteles mit dieser Differenzierung nicht eine Art von Schichtenlehre der Seele vertritt, die ein äußeres Neben- oder Übereinander von einzelnen Seelenteilen bedeutet, indem man eine Pflanzen-, Tier- und Menschenseele unterscheidet und diesen Unterschied jeweils durch das äußerliche Hinzutreten eines neuen Vermögens erklärt, geht schon aus der von ihm immer wieder gebrauchten Analogie zu den geometrischen Figuren hervor: „Auch geht es mit den Figuren, wie mit der Seele: immer ist in der nächstfolgenden die frühere der Anlage nach enthalten, bei den Figuren, wie bei den beseelten Wesen, es steckt etwa im Viereck das Dreieck und in der Wahrnehmungskraft die Nährkraft… Diejenigen Wesen, die Denkkraft haben, haben auch alles übrige, aber die das übrige haben, besitzen nicht auch alle die Denkkraft“ (414 b 28f.; vgl. Oeser 1969, S. 133). Solche Formulierungen erklären sowohl den inneren Zusammenhang der einzelnen Seelenvermögen als auch die für die experimentelle Hirnphysiologie der Neuzeit so selbstverständlich angenommene Ähnlichkeit oder prinzipielle Gleichheit von Tier- und Menschenseele (Willis), die in den gleichartigen Strukturen von Tier- und Menschenhirn ihre Entsprechung hat.

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