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Einleitung

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Die Hirnforschung ist eine der erfolgreichsten wissenschaftlichen Unternehmungen der Gegenwart. Weltweit wurde vor allem in den letzten Jahrzehnten mit großem personellen und materiellen Aufwand die Untersuchung des zentralen Nervensystems des Menschen vorangetrieben. Die Anzahl der einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen, die jährlich in diesem Zeitraum erschienen sind und noch weiterhin erscheinen, gehen bereits in die Tausende und die daraus resultierenden Erfolge in Diagnose und Therapie von Hirnerkrankungen und Hirnverletzungen sind unübersehbar.

Die Bedeutung der Hirnforschung liegt aber nicht nur auf dem medizinisch-praktischen Gebiet, das allein schon diesen großen Aufwand rechtfertigen würde. Die vielleicht größte Herausforderung, die seit jeher mit der Erforschung der Funktion und Struktur des Gehirns verbunden war und ihr auch seit ihren Anfängen ihre einzigartige Dynamik verliehen hat, besteht vielmehr in der Hoffnung, dass auf diese Weise der menschliche Geist seine eigenen Voraussetzungen erfassen könnte. Daher war die Hirnforschung seit ihren Anfängen vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren immer auch ein philosophisches Anliegen, das weit über die Grenzen der neurowissenschaftlichen Fachdisziplinen hinausreicht. Seitdem das Gehirn von den alten Griechen des klassischen Altertums als das Organ der Seele entdeckt worden ist und Platon mit seiner Lehre von der Dreiteilung der Seele eine Grundlage für weitere Spekulationen über den möglichen Sitz oder Ort der verschiedenen Seelenteile im menschlichen Körper geschaffen hat, ist die Diskussion um das Verhältnis von Leib und Seele nicht mehr unabhängig von der Erforschung des Gehirns behandelt worden. Und sogar Aristoteles, der das Herz als den Sitz der Seele betrachtete, hat einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Hirnforschung dadurch geliefert, dass er in subtiler Weise eine Theorie der höheren psychischen Funktionen ausgearbeitet hat, die noch in der gegenwärtigen Hirnforschung nach dem Zeugnis eines berühmten Hirnforschers (Sherrington) eine Rolle spielt.

Obwohl bereits Kants Kritik an der damaligen Hirnforschung der Suche nach einem räumlichen Ort oder Sitz der Seele in bestimmten Hirnteilen ein Ende gesetzt hat und man heute erkannt hat, dass es sich hierbei um zwei unterschiedliche Beschreibungsebenen handelt, hat sich an der Vorstellung vom Gehirn als Organ des Geistes nichts geändert. Deutlicher als je zuvor ist klar geworden, dass alle Lebensumstände des Menschen, seine geistige Entwicklung von frühester Kindheit bis zum Alter, seine intellektuelle und körperliche Leistungsfähigkeit, seine Gemütsverfassungen, seine Krankheiten und sein Tod von den Funktionen des Gehirns abhängig sind. Daher wird auch der Hirnforschung in Zukunft eine noch größere Bedeutung in der Erforschung und Beurteilung menschlicher Verhaltensweisen zukommen, als sie sie bisher schon hatte. Denn das, was sich trotz aller offenen Probleme in der Hirnforschung bereits unabweisbar herausgestellt hat, ist das Faktum, dass das Menschenhirn jenes organische System ist, das an Komplexität und Dynamik alle anderen Systeme im Universum weit übertrifft. Es ist unser Stolz und Elend zugleich. Denn mit der Komplexität und Dynamik steigt auch die Störanfälligkeit dieses Systems und die Grenzen zwischen normal und krank beginnen undeutlich zu werden.

Bereits sehr früh wurde in der medizinischen Hirnforschung erkannt, dass Genie und Wahnsinn, Wohltat und Verbrechen eng beisammen liegen. Viele große geistige Leistungen – philosophische, wissenschaftliche und künstlerische – sind am Rande des geistigen und emotionalen Chaos entstanden. Die Geschichte der Menschheit ist voll von sozialen und politischen Entscheidungen, die sich später als die Wahnsinnstaten kranker Gehirne herausgestellt haben. Deshalb ist auch die Beschäftigung mit der Geschichte der Hirnforschung in höchstem Maße das, was der große französische Neurophysiologe Flourens in seiner Gedenkrede auf den Anatomen George Cuvier von der Historiographie der Wissenschaften ganz allgemein behauptet hat: Wer Wissenschaftsgeschichte betreibt, stellt eine experimentelle Theorie des menschlichen Geistes auf. In diesem Sinne versteht sich daher auch die vorliegende Darstellung der Geschichte der Hirnforschung als eine Rekonstruktion des naturwissenschaftlichen Weges der menschlichen Selbsterkenntnis, der keineswegs immer geradlinig verlaufen ist.

Bezahlt wurden die großen und tief gehenden Erfolge der Hirnforschung mit dem nun schon Jahrtausende andauernden Leiden und Sterben unzähliger Tiere, an denen seit der Antike bei lebendigem Leib grausame Experimente vorgenommen wurden. Dass es auch Vivisektionen am Menschen gegeben hat, wurde zwar ebenso oft behauptet als auch bestritten, doch sind sie nach der vorliegenden Quellenlage nicht gänzlich auszuschließen. Zumindest sind jene schrecklichen Experimente mit den abgeschlagenen Köpfen von zum Tode verurteilten Verbrechern ein gut belegtes historisches Faktum menschlicher Wissbegierde, die sogar vor ihresgleichen nicht halt macht, abgesehen davon, dass seit jeher das umfangreichste menschliche Untersuchungsmaterial aus der sog. „natürlichen Vivisektion“ menschlicher Kampfhandlungen und Kriege stammt. Von den Gladiatorenkämpfen im antiken Rom bis zu den großen Weltkriegen des zwanzigsten Jahrhunderts gab es Hirnverletzungen aller Art, die zu den grundlegendsten Entdeckungen über die Lokalisation der Hirnfunktionen führten, die sonst auf keinen anderen Weg erreichbar gewesen wären. Deshalb kann man die Geschichte der Hirnforschung nicht nur als eine Geschichte der Erfolge und Fortschritte beschreiben, sondern sie muss auch als eine Geschichte der Irrtümer, Kontroversen und Grausamkeiten verstanden werden, die auf diesem Wege begangen wurden.

Die Ergebnisse der Hirnforschung wurden daher auch, wie ein bedeutender Hirnforscher unserer Tage bemerkt hat, nicht als eine Liste positiver Beiträge zum Selbstverständnis des Menschen angesehen, sondern vielmehr als eine „Liste schwerer Straftaten“ (Sperry). Aber man war sich darin einig, dass es besser ist, die enttäuschende Wahrheit zu kennen, statt mit illusorischen Werten zu leben. Bis ins 19. Jahrhundert beherrschten die Hirnforschung relativ einfache mechanistische Modelle. Das, was manche Philosophen schon lange befürchtet hatten, dass der Mensch nichts anderes ist als eine auf zwei Beinen stehende „emporgereckte Maschine“ (de La Mettrie), die sich sowohl in ihrer Struktur als auch in ihrer Funktion restlos aus ihren physikalisch-chemischen Bestandteilen und Eigenschaften erklären lässt, schien sich auf dramatische Weise zu bestätigen.

In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch unter den Hirnforschern eine neue Grundauffassung durchgesetzt, die in dem mechanistischen Materialismus nicht das letzte Wort sah. Ausschlaggebend war die Entwicklung einer verfeinerten Beobachtungstechnik, die einen immer tiefer gehenden Einblick in die erstaunliche Komplexität des menschlichen Gehirns lieferte und damit auch eine neue Grundlage für das Verständnis der Beziehungen zwischen dem physischen und mentalen Dasein des Menschen bieten konnte. In praktischer Hinsicht ergaben sich dadurch neue Wege zur Erklärung von Verhaltens- und Sprachstörungen wie auch neue Hoffnungen für die Behandlung von Geistes- und Gemütserkrankungen. Zugleich wurden auch die Grenzen einer rein empirisch vorgehenden Naturwissenschaft erkannt und der Zugang zu einer transdisziplinären Hirnforschung eröffnet, in der sich die alten Gegensätze von Natur- und Geisteswissenschaften aufheben. Denn die Einsicht, dass der menschliche Geist, der Schöpfer der menschlichen Gesellschaftsstruktur, Sprache und Kultur, in dieser Welt mit dem Gehirn untrennbar verbunden ist, verleiht der Hirnforschung eine zentrale Stellung im System der Wissenschaften: Sie ist die einzige Naturwissenschaft, die eine direkte Verbindung zu den Geisteswissenschaften herstellen könnte, wenn es ihr jemals gelingen sollte, das Rätsel aller Rätsel – das Verhältnis von Leib und Seele – zu lösen.

Geschichte der Hirnforschung

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