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1. Die Vorgeschichte der Hirnforschung:
Schädelkult und Trepanation

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Die Erkenntnis, dass unsere geistigen Kräfte vom Funktionieren unseres Gehirns abhängig sind, reicht bis in prähistorische Zeiten zurück. Darauf weist der uralte Schädelkult hin, der in frühen Zeiten wohl mit rituellen Kannibalismus verbunden war. So kann man bereits an Funden von Schädelbestattungen der Neandertaler erkennen, dass manchmal das Hinterhauptsloch an der Basis des Schädels künstlich erweitert worden war. Die Annahme liegt daher nahe, dass nach der gewaltsamen Tötung und Enthauptung der Schädel aufgebrochen und das Gehirn entnommen worden war. Ob diese Entnahme des Gehirn Teil eines Bestattungsritus oder zeremonieller Kannibalismus war, kann jedoch nicht eindeutig entschieden werden. Hier gehen die Meinungen der Prähistoriker und Anthropologen auseinander.

Die Mehrheit der Forscher allerdings sind auf Grund der vielen Funde aus verschiedenen Zeiten, bei denen immer wieder Schädeleröffnungen nachzuweisen sind, zu Überzeugung gelangt, dass man bereits auf der Homo-erectus-Stufe der Hominidenevolution mit Kopfjagd und Kannibalismus rechnen muss. Unterstützt wird diese Annahme durch die Tatsache, dass bei einigen gegenwärtig lebenden Naturvölkern Indonesiens, Taiwans, Neuguineas, Hinterindiens, Südamerikas und Westafrikas noch immer die Kopfjagd üblich und zum Teil noch, wie in Süd-Neuguinea, mit Kannibalismus verbunden ist (vgl. Winkler u. Schweickhardt 1982, S. 155).

Ein weiterer Hinweis für die Kenntnis von der Bedeutung des Gehirns für den Menschen ist die Verwendung von „Schädelbechern“ als Trinkgefäße. Sie ist bereits in den frühesten Stufen der Hominidenevolution bei den Australopithecinen, also vor fast zwei Millionen Jahren, nachzuweisen und reicht in Europa bis ins 19. Jahrhundert. Allerdings wird die Beziehung zwischen rituellem Kannibalismus und der Verwendung von Schädelbechern in der Geschichte der Zivilisation immer lockerer. Kann man für die eiszeitlichen Jäger und Sammler noch eine enge Verbindung dieser Phänomene annehmen, so dürfte sich in späterer Zeit zumindest in Europa die Sitte des Schädeltrunks immer mehr von kannibalistischen Praktiken gelöst haben.

Für die Interpretation der urgeschichtlichen Funde von zum Teil kunstvoll hergerichteten Schädelbechern aus der Stein-, Bronze- und frühen Eisenzeit sind vor allem die Berichte der griechischen und römischen Ethnographen und Historiker von Bedeutung. So schreibt Herodot über die Skyten: „Den Hirnschädel sägen sie unter den Augenbrauen ab, und machen ihn rein. Die Armen überziehen ihn zum Gebrauche nur mit einer Rindshaut. Die Reichen hingegen lassen ihn außerdem noch von innen vergolden und trinken dann daraus“ (Herodot Bd. 2, S. 163). Plutarch schreibt diese Sitte des Schädeltrunkes auch den Germanen zu, die sich auf diese Weise den persönlichen Mut ihres Gegners einzuverleiben hofften und Livius berichtet von den Kelten, dass sie den Kopf eines römischen Heerführers zu einer in Gold gefassten Opferschale verarbeitet haben. Auch das Christentum hat die heidnische Tradition des Trinkens aus Schädelbechern aufgenommen und weitergeführt. Klöster und Kirchen bewahren seit Jahrhunderten die Hirnschalen heiliger und besonders frommer Männer und Frauen in Form von kostbar geschmückten Reliquienschalen auf. Der Schädeltrunk verheißt den Gläubigen Gnade und Erlösung von Sünde und Krankheit. Ein besonders schönes Beispiel ist die im bayrischen Ebersberg aufbewahrte prächtig geschmückte, silberbeschlagene Hirnschale des heiligen Sebastian, die ursprünglich verwendet wurde, um sich durch einen Trunk Wein aus ihr vor der Pest zu schützen. Wie aus einer Chronik des Jahres 1590 hervorgeht, wurde jedoch dieser Brauch von einem Verwaltungsbeamten eingestellt, als dieser empört feststellen musste, dass die heilige Hirnschale zu profanen Zechgelagen missbraucht wurde. Im weltlichen Bereich hielt sich diese Sitte des Schädeltrunks noch länger. So schützt nach dem schottischen Volksglauben ein Trunk aus der Hirnschale eines armen Sünders vor Epilepsie und dem Dichter Lord Byron (1788–1824) wurde nachgesagt, dass auch er sich ein Trinkgefäß aus einem menschlichen Schädel habe anfertigen lassen (Winkler u. Schweikhardt 1982).

Bereits in den Bereich der medizinischen Hirnforschung reicht die schon in der Steinzeit ausgeübte Technik der „Trepanation“, d.h. das Aussägen von Knochenstücken aus dem Schädeldach, das sowohl bei Lebenden als auch bei Toten schon vor mehr als 10.000 Jahren üblich war. Unterscheiden lässt sich die Trepanation am lebenden Leib von der an einem Toten vorgenommenen noch heute dadurch, dass beim Lebenden an den Rändern ein Knochenwachstum feststellbar ist. Ob nun die Trepanation aus religiöskultischen Zwecken an einem Toten vorgenommen wurde, um der Seele einen Ausgang zu verschaffen, oder beim lebenden Menschen aus medizinischen Gründen zur Heilung von Geisteskrankheiten oder Schädelverletzungen, in jedem Fall bedeutet sie einen Hinweis auf die Kenntnis des Zusammenhangs von Gehirn und Seele. Außerdem musste jede Art von schwerer Kopfverletzung, die der Träger überlebte, diesen Zusammenhang besonders deutlich werden lassen. Denn sowohl das intellektuelle als auch das emotionale Verhalten war dann meist drastisch gestört.


Abb. 1: Die älteste schriftliche Darstellung des Begriffes „Gehirn“; Hieroglyphen aus dem Papyrus Smith (17. Jh. v. Chr.; aus Kandel, Schwartz u. Jessel 1986)

Die ersten direkten, schriftlich nachweisbaren Belege findet man bereits im alten Ägypten. Ein nach seinem Entdecker „Papyrus Smith“ benanntes medizinisches Schriftstück, das um das 17. Jahrhundert v. Chr. datiert wird, aber wahrscheinlich bis ins 3. Jahrtausend v. Chr. zurückreicht, enthält Schilderungen von Kopfverletzungen und chirurgischen Eingriffen, die sowohl die ersten bekannten Darstellungen der Gehirnfurchen und -windungen als auch Hinweise auf Funktionsstörungen enthalten. Wie Changeux (1984) mit Recht feststellt, muss man sich zwar davor hüten, mit dem neurobiologischen Wissen unseres Jahrhunderts zu viel in einen so fragmentarischen Text hineinzulesen, aber trotzdem geht aus diesem Dokument eindeutig hervor, dass die Zuständigkeit des Gehirns für die Bewegung, auch weit vom Kopf entfernt liegender Glieder und Organe bekannt war. Denn der Schreiber stellt ausdrücklich fest, dass „eine Verletzung, die im Schädel liegt“, dazu führt, dass der Betroffene „den Fuß beim Gehen nachzieht“. Neben diesen motorischen Beeinträchtigungen waren auch schon Sprachstörungen bekannt. So wird ein Verletzter beschrieben, dessen Schläfe eingedrückt war und der, wenn er angesprochen wurde, nicht antworten konnte, weil er der Sprache nicht mehr mächtig war. Im Papyrus Smith findet auch zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit der Begriff „Gehirn“ seinen schriftlichen Ausdruck.

Andererseits sind jedoch keine Hinweise aus dem alten Ägypten bekannt, dass dem Gehirn außerhalb der medizinisch-chirurgischen Forschung eine besondere Bedeutung zugemessen wurde. Im religiös-kultischen Bereich wurde bei der Mumifizierung der Leichen das Gehirn im Unterschied zu den Eingeweiden des Brust- und Bauchraumes nicht beachtet. Wie alle leicht in Fäulnis übergehenden Weichteile musste es aus dem Körper entfernt werden. Während die inneren Organe und Eingeweide in einem eigenen Schrein unversehrt aufbewahrt wurden, musste das Gehirn bei der Entfernung notwendigerweise zerstückelt und zerstört werden. Denn es wurde gewöhnlich einfach mit einem Haken durch die Nasenlöcher herausgezogen und die Reste wurden herausgespült.

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