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Die kardiozentrische These des Aristoteles

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Ganz anders jedoch klingt die Seelenlehre des Aristoteles in seiner späteren Schrift ›De Anima‹. Dort vertritt er im Gegensatz zu Platon und seinen eigenen Frühschriften einen betonten Empirismus, der jedoch keineswegs wie in der Neuzeit zu einer Materialisierung der Seele führt. Auf diese Weise konnten die subtilen Differenzierungen, die Aristoteles an dem Begriff und den Eigenschaften und Fähigkeiten der Seele vorgenommen hat, zur Grundlage sowohl des naturwissenschaftlichen anatomisch-physiologischen als auch spekulativ-philosophischen Weges menschlicher Selbsterkenntnis bis weit in die Neuzeit werden. Seine Beschreibung der, wie Sherrington sagt, „biologischen Ausstattung des Bewußtseins“ wurde von der Hirnforschung übernommen und zum Paradigma für Jahrhunderte gemacht“ (Sherrington 1964). Deshalb ist es auch berechtigt, seine Seelenlehre als einen grundlegenden Beitrag zur Geschichte der Hirnforschung zu betrachten, obwohl er auf Grund von empirischen vergleichenden anatomischen Studien dem Gehirn jegliche empfindende oder kognitive Funktion abgesprochen hat und damit der „zephalozentrischen“ These Platons die „kardiozentrische“ These gegenübergestellt hat.

Sein Hauptargument ist, dass das freigelegte Gehirn nicht auf mechanische Reizungen anspricht. Was für das Gehirn übrig bleibt ist nur noch die Funktion eines Kühlaggregates, die darin besteht, die Temperatur des mit Nahrung beladenen Blutes zu senken; daher bringt es auch den Schlaf. Das Herz ist zwar für Aristoteles ganz eindeutig das Zentralorgan, aber es gewinnt bei ihm keineswegs alles, was das Gehirn verloren hat. Denn er betrachtet es lediglich als den Wohnsitz der Ernährungs- und Wahrnehmungsseele (Anima vegetativa und anima sensitiva). Im Gegensatz zu seinem von Platon bestimmten Frühwerk Eudemos gibt es nun weder eine Präexistenz dieser Seele vor dem Leib, noch trennt sie sich im Tode von ihm. Es ist die Seele selbst, die stirbt und den Leib durch ihr Sterben zu einem toten Leib macht, der sich dann in der Verwesung zersetzt. Der Tod ist der Tod der Seele und nicht zu allererst der Tod des Leibes. In diesem Sinne muss daher auch Aristoteles die Unsterblichkeit der Seele leugnen. Doch macht er, wenn er vom Denken redet, vorbereitende Einschränkungen. Denn die höchste Funktion der Seele, die aktive Vernunft (Intellectus agens), bedarf nach seiner Auffassung für die Ausübung ihrer Tätigkeit keiner physiologischen Basis, d.h. keiner physiologischen Werkzeuge und keines physiologischen Prozesses. Das geht aus ihrer Fähigkeit hervor, die darin besteht, alles zu erkennen, während dagegen alle Wahrnehmungen an bestimmte Sinnesorgane gebunden sind, ohne die sie nie zustande kämen. Die menschliche denkende Geistseele, der eigentliche Ort der Ideen (topos eidon), hat daher auch keinen bestimmten Platz im Körper weder im Kopf noch im Herzen. Deswegen ist sie auch allein unsterblich und ewig, was im Sinne des griechischen Wortes „aidos“ nicht nur das zukünftige Sein einschließt, sondern auch die Vergangenheit. Wie bereits die arabischen Kommentatoren des Aristoteles (z.B. Averroes) vermuteten, konnte jedoch mit diesen Aussagen nicht die individuelle Unsterblichkeit, sondern vielmehr nur die Unsterblichkeit der allgemeinen oder göttlichen Vernunft gemeint sein, in die die menschliche Geistseele beim Tod des Leibes zurückkehrt. Denn die Materie ist das Individuationsprinzip und nur durch die an die Sinnesorgane gebundenen Wahrnehmungen kann die denkende Seele zu der ihr eigenen persönlichen Erfahrung und zum individuellen Selbstbewusstsein gelangen.

Bereits an diesen Aussagen lässt sich erkennen, dass bei Aristoteles drei unterschiedliche Bereiche zusammenkommen: der medizinisch-physiologische, der philosophisch-erkenntnistheoretische und der metaphysisch-theologische Bereich. Diese Verbindung bleibt jedoch bis weit in die Neuzeit für die Hirnforschung charakteristisch. Ohne ihre Berücksichtigung und ohne die Kenntnis des damit verbundenen aristotelischen Begriffsapparates erscheinen daher auch die frühen Aussagen, die in der neuzeitlichen Anatomie und experimentellen Physiologie des Gehirns und Rückenmarks gemacht wurden, seltsam widersprüchlich.

Geschichte der Hirnforschung

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