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Die zephalozentrische These Platons

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Der Bezug zwischen Denken und Gehirn wird von Platon hergestellt, der im ›Timaios‹ drei Seelenteile, den „erkennenden“, den „mutigen“ und den „begierigen“ Teil, unterscheidet, den erkennenden Teil im Gehirn lokalisiert (Timaios 69 d) und auf diese Weise dem Gehirn eine Führungs- und Kontrollfunktion zuschreibt. Doch handelt es sich bei ihm nicht so sehr wie bei Alkmaion und Hippokrates um eine Beziehung zwischen Körperteilen als vielmehr zwischen Seelenteilen (vgl. Solmsen 1971, S. 220). Platon macht sich zwar die bereits vorhandenen physiologischen Kenntnisse zunutze, aber sein Hauptanliegen ist es, die Herrschaft des unsterblichen vernünftigen Seelenteiles im Kopf über die niedrigeren sterblichen Seelenteile in Brust und Unterleib zu erklären. Diese Kontrolle kann das Gehirn nur dann ausüben, wenn seine Befehle von jedem der niedrigen Seelenteile, die fähig sind auf die vernünftige Seele zu reagieren, mit ihr physisch verbunden sind. Wenn das sich selbst überlassene Herz, in dem der mutige Seelenteil haust, zu „kochen“ beginnt, kann das Gehirn, weil es, wie auch Aristoteles wusste, kühler ist als die Herzgegend, das „kochende“ Herz dadurch beruhigen, dass es Ströme kühlenden Stoffes herab sendet. Da der Kopf mit dem Rumpf eng mit Blutgefäßen verbunden ist, übernimmt ganz offensichtlich bei Platon das Blut die Rolle, die einst die Luft gespielt hat.

Blut ist für Platon auch der Träger aller Sinneseindrücke. Der Ton wird als ein Stoß definiert, der von der Luft hervorgerufen „durch Ohren, Gehirn und Blut zur Seele weitergegeben wird“ (67 b 2ff.). Der Geschmacksinn beruht auf den kleinen Blutgefäßen der Zunge. Blutgefäße dienen auch als Träger des Geruches (66 d 4). Nur beim Sehvermögen werden von Platon Blutgefäße nicht erwähnt. Für den Sehvorgang und für das Farbensehen findet Platon eine mechanistische Erklärung im Sinne der antiken Strahlenoptik. Denn das Sehen kommt nach seiner Meinung dadurch zustande, dass aus den „lichtvollen Augen“ ein dem Tageslicht verwandtes Feuer hervorströmt und mit dem von den Gegenständen ausgesandten Licht zusammentrifft. Sind die von den Gegenständen ausgehenden und auf den Sehstrahl fallenden Teilchen ebenso groß wie die des Sehstrahles selbst, dann sind sie durchsichtig und daher für uns nicht wahrnehmbar; sind sie aber kleiner oder größer, dann wirken sie auf den Sehstrahl entweder erweiternd oder zusammenziehend. Das den Sehstrahl erweiternde ist das Weiße, sein Gegenteil das Schwarze. Die Farben aber entstehen durch die Mischung dieser beiden Feuer – das eine, das wie ein Blitzstrahl aus dem Auge hervorspringt und das andere von außen entgegenkommende, das auf den Sehstrahl eindringt, ihn bis zum Auge hin erweitert und sich dann gewaltsam durch die Durchgänge des Auges hindurchdrängt und in der Feuchtigkeit des Auges erlischt.

Trotzdem bleibt der Eindruck, dass die Blutgefäße und das darin enthaltene Blut die Hauptträger der Vermittlung zwischen der vernünftigen Seele mit dem Rumpf und den darin enthaltenen sterblichen Teilen der Seele sind. Denn Platon weist ausdrücklich darauf hin, dass die beiden Hauptadern, die Kopf und Rumpf miteinander verbinden, in den Körper eingepflanzt sind, „damit die Wirkung von Sinneswahrnehmungen durch den ganzen Körper verbreitet werden kann“ (77 e 5). Als Blutgefäße sind daher auch jene „engen Kanäle“ zu verstehen, durch die nach Platons Auffassung alle mit Empfindung ausgestatteten Körperteile den Befehlen und Drohungen des besten und regierenden Teils der Seele gehorchen. Auf diese Weise verbindet Platon seine physiologische Kenntnis des Blutgefäßsystems, das nach seiner Auffassung das Herz als „Knotenpunkt aller Adern“ und als „Quelle des alle Glieder mächtig durchströmenden Blutes“ zum Zentrum hat, mit seiner philosophisch-erkenntnistheoretischen Ansicht, dass das Gehirn das Organ der vernünftigen Kontrolle im Kopf sein muss.

Für diese hervorragende Stellung des Kopfes gegenüber dem Rumpf und allen anderen Körperteilen liefert Platon auch eine entwicklungsgeschichtliche Erklärung: Ursprünglich wurde die unsterbliche Vernunftseele in einen der runden Gestalt des Weltganzen nachgebildeten kugelförmigen Körper eingepflanzt, den wir jetzt Kopf nennen. Damit aber der Kopf nicht hilflos auf dem unebenen Boden hin- und herrollt, sondern Höhen und Tiefen überwinden kann, dehnte er sich in die Länge und ließ vier ausgestreckte und biegsame Glieder mit Händen und Füßen aus sich hervorwachsen. In diesem sterblichen Leib, dem Fahrgestell der unsterblichen Vernunftseele, entstand eine andere Art der Seele, die sterbliche, in der sich mächtige und unabweisliche Leidenschaften regen. Damit aber die im Gehirn lokalisierte Vernunftseele nicht durch diese sterbliche Seele verunreinigt werden kann, ist zwischen Kopf und Brustkorb das Genick als Grenzscheide eingefügt. Die sterbliche Seele zerfällt wiederum von Natur aus in einen besseren und in einen schlechteren Teil. Der mutige Teil befindet sich im Brustkorb zwischen Genick und Zwerchfell, damit er, entsprechend seinem Sitz näher dem Kopf, der Vernunft gehorsam den begierigen Teil der Seele, der an der Futterkrippe im Bauch wie ein wildes Tier angefesselt ist, in Zaum halten kann.

Wenngleich Platon den Tieren entsprechend ihrer niederen und höheren Organisation offensichtlich nur die sterblichen Seelenteile zubilligt, kennt er auch in diesem Bereich wesentliche Unterschiede. Niedere Tiere, wie Schnecken und Austern befinden sich in einem psychischen Dämmerzustand und sind nur dem Augenblicksreiz hingegeben. Aber auch die höchstorganisierten Tiere unterscheiden sich durch ihre zusammengedrückte Stirn, die dem Gehirn nur einen engen Raum anweist, vom Menschen. Nur bei den Hunden scheint Platon eine Ausnahme zu machen. Wie alle Griechen des Altertums war Platon ein großer Hundeliebhaber. In seiner Schrift über den Staat spricht er sogar von der „philosophischen Natur“ des Hundes, der Freund und Feind sehr genau unterscheiden kann und vergleicht die Hunde mit den Wächtern des Staatswesens. Platon ist daher noch weit entfernt vom cartesianischen Dualismus, der die Tiere als bloße Maschinen ansieht. Doch nimmt auch bei ihm die unsterbliche Vernunftseele des Menschen eine Sonderstellung ein, die sie im Christentum des Mittelalters nicht mehr hatte.

Nach Platons Auffassung kommt ihr nicht nur Unsterblichkeit nach dem Tod des Leibes zu, sondern auch eine Präexistenz. Das berühmte Höhlengleichnis und seine Lehre von der Wiedererinnerung beruhen auf dieser wohl aus dem asiatischen Raum stammenden Auffassung. Zur wahren Erkenntnis ist die Vernunftseele nur in ihrem reinen, vom Körper abgelösten Zustand fähig. Denn der Eintritt der Vernunftseele in den vergänglichen Leib verwirrt sie nur und behindert die direkte Schau der Ideen. Wie die Gefangenen in einer Höhle sehen wir nur die Schatten der Ideen, die sich an der Rückwand abmalen. Daher ist es das Beste für den Menschen, wenn er sich von den Fesseln des Leibes löst und durch das dunkle Tor des Todes aus der Höhle des irdischen Lebens ins lichte Reich der Ideen tritt.

Wie stark auch noch Aristoteles in seinen Frühschriften von diesen Lehren Platons beeinflusst war, zeigt ein Fragment aus seinem verloren gegangenen Dialog Eudemos. Der weltverneinende und diesseits abgewandte Grundzug der platonischen Todesmetaphysik erfährt hier durch folgenden Vergleich eine grausige Steigerung: „Es wurden manchmal diejenigen, wenn sie in die Hände der etruskischen Seeräuber gefallen waren, mit ausgesuchter Grausamkeit getötet. Ihre lebendigen Körper, mit den Erschlagenen Gesicht an Gesicht gefesselt, wurden so eng wie möglich miteinander zusammengebunden; so aber sind unsere Seelen mit dem Körper eins, wie die Lebenden mit den Toten zusammengefesselt sind“ (Augustinus: Contra Julianum Pelagianum 4, 15; vgl. Bernay 1863, S. 144).

Mehr als eine bloße Metapher oder Analogie ist jedoch die Berufung des Aristoteles auf die Medizin, wenn er sagt, dass unser irdisches, mit dem Leib behaftetes Leben einer entsetzlichen Krankheit gleicht, genauso wie das körperlose Leben der Gesundheit gleicht, weil es das eigentliche naturgemäße Leben der Seele ist, die nach Platon schon vor ihrem Eintritt in den Leib existierte. Deshalb haben wir auch, wie manche Menschen, die aus der Gesundheit in eine schwere Krankheit verfallen und dabei sogar die Buchstaben vergessen, die sie vorher gelernt haben, keine Erinnerung an das, was wir in diesem präexistenten Zustand geschaut haben. Das Beste wäre daher nach der Auffassung des frühen Aristoteles, überhaupt nicht geboren zu werden oder wenigstens so bald wie möglich nach der Geburt zu sterben (Aristoteles 1953, S. 5f.).

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