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Das Ende der kardiozentrischen These:
Galens Synthese von aristotelischer Pneumalehre
und experimenteller Hirnforschung

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Die lange Geschichte der Kontroverse zwischen der zephalozentrischen und kardiozentrischen These findet schließlich 300 Jahre später bei Claudius Galenus ihren Abschluss. Denn Galen übernimmt zwar von Aristoteles die Pneumalehre, lehnt aber dessen Ansicht, dass das Gehirn nur eine Kühlfunktion für das Herz hat, als völlig absurd ab. Wäre dies wirklich der Fall, argumentiert er, so hätte die Natur das Gehirn nicht so weit vom Herzen entfernt platziert, sondern hätte es in den Brustkorb rundherum um das Herz gelagert. Daher bekennt er sich ausdrücklich zur zephalozentrischen These von Alkmaion und Hippokrates und folgt in der Hirn- und Nerventheorie Herophilos und Erasistratos. Er unterscheidet wie diese die motorischen und sensorischen Nerven und nimmt an, dass die härteren motorischen Nerven im Kleinhirn entspringen, während die weichen sensorischen Nerven zum Großhirn gerichtet sind. Anders jedoch als Erasistratos glaubt er nicht, dass die Gehirnwindungen etwas mit Intelligenz zu tun haben und verweist auf den Esel, der zwar ein ausgesprochen komplexes Gehirn besitzt und doch bemerkenswert dumm ist.

Obwohl es Galen selbst nicht gelang ein ausgearbeitetes System aus den von ihm übernommenen Elementen zu errichten, war sein physiologisches Grundkonzept richtungsweisend bis in die Neuzeit. Er differenziert das aristotelische Pneuma in drei Arten von Spiritus: Der Spiritus naturalis wird aus den Nährstoffen in der Leber gebildet, der dann durch die Venen zum Herzen gleitet und dort in der linken Herzkammer zum Spiritus vitalis umgewandelt wird. Von dort wird das Spiritus vitalis durch die Arterien zu einem „wunderbaren Netz“ (Rete mirabile) geführt, das Galen in vielen Tiersektionen entdeckt hatte und das er deshalb auch dem Menschen zuschrieb. Er bezeichnet es deswegen als „wunderbar“, weil es alle handgemachten Netze an Komplexität und Feinheit übertrifft. Dieses wunderbare Netz umschließt die Hirnbasis und verteilt den Spiritus vitalis in die Gehirnventrikel, in denen der Spiritus animalis, die höchste Form des Spiritus entsteht, der über die Nerven im ganzen Körper verteil wird.

Es waren aber weniger seine theoretischen Ansätze als seine empirischen und praktischen Forschungen, die ihn zu umfangreichen anatomischen und physiologischen Kenntnissen führten. Er durfte zwar nicht mehr wie Herophilos und Erasistratos Sektionen an Menschen vornehmen, aber er konnte als Gladiatorenarzt seine Erfahrungen sammeln. Krieg und Gladiatorenkämpfe, schrieb er, sind die größte Schule der Chirurgie. So bemerkte er bei den Wunden, die den Kopf bzw. die Schädeldecke spalteten, die rhythmische Bewegung des Gehirns und bei Tieren stelle er fest, dass ein Einschnitt in das Gehirn dem betreffenden Tier nur dann seine Empfindungs- und Bewegungsfähigkeit raubt, wenn der Schnitt bis zu einem der Hirnventrikel vordringt.

Bei Galen erreichten allerdings auch die Vivisektionen an Tieren einen bisher unbekannten Grad an Anzahl und Grausamkeit. In seiner Abhandlung über die anatomischen Prozeduren schildert er Sektionstechniken an lebenden Tieren verschiedenster Arten. So führte er bereits schichtenweise Abtragung des Gehirns und totale oder partielle Durchschneidung des Rückenmarks durch, um Klarheit über die Funktionen dieser Organe zu gewinnen. Dass ihn selbst diese Vivisektionen nicht ungerührt lassen, kann man jedoch an seiner Empfehlung erkennen, die Freilegung des Gehirns lieber an Schweinen und Ziegen vorzunehmen als an Affen, weil „du auf diese Weise vermeiden kannst, den unerfreulichen Ausdruck des Affen zu sehen, wenn er viviseziert wird“ (Galen 196, S. 15). Er stellt auch fest, dass die „Ekelhaftigkeit des Ausdrucks bei der Vivisektion nicht diesselbe in allen Tieren ist“ (a.a.O., S. 85).

Wenn einmal die Prozedur der Vivisektion begonnen hat, soll aber nach Galens Vorschriften der Anatom genauso vorgehen wie bei einem toten Tier und ohne Mitleid und Mitgefühl in die tiefen Gewebe eindringen. Auch darf er sich von der Wiederholung solcher Prozeduren durch das häufige Ausströmen von Blut nicht abschrecken lassen. Für Galen sind Vivisektionen ausschließlich aus ästhetischen Gründen beunruhigend. Er vermied daher auch bei öffentlichen Vivisektionen widerwärtige Operationen an Sexualorganen, wie er überhaupt Sektionen an lebenden und toten Tieren in aufrechter menschenähnlicher Haltung zurückwies. Gerechtfertigt sah er diese grausame Haltung gegenüber Tieren in der damals weit verbreiteten Auffassung der stoischen Philosophie, dass Tiere keine rationale Seele wie die Menschen besitzen und daher auch keine Persönlichkeit und Rechte.

Wenngleich Galen sich selbst nicht entscheiden konnte, ob das „Pneuma“ mit der Seele identisch sei oder nur ihr Werkzeug (Organon), so gab er aber doch allen, die sich dafür interessierten, den Rat: „Haltet euch nicht an die Götter, um durch ihre Eingebung die alles beherrschende Seele zu entdecken, erkundigt euch lieber bei einem Anatomen.“

Geschichte der Hirnforschung

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