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Die Entdeckung der Nerven:
Herophilos und Erasistratos

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Es waren vor allem zwei Namen, Diokles von Karystos und Proxagoras von Kos, die im 4. und 3. Jahrhundert vor Chr. die hippokratischen Lehren mit der aristotelischen Pneumatheorie verknüpften und weiter ausbauten. Für beide war zwar noch immer das Herz das Zentralorgan, doch nahm Diokles das Vorhandensein von psychischem Pneuma auch im Gehirn an. Denn er erklärte, dass Lethargie auf der Abkühlung des Seelenpneumas in beiden Organen beruht. Dem jüngeren von beiden, Proxagoras, schreibt man im Allgemeinen die Unterscheidung von Arterien und Venen zu und den Glauben, dass Pneuma sich durch die ersteren und das Blut durch die letzteren bewegt.

Diese Lehre von den Arterien als Gefäße für das Pneuma war ein erster Schritt zur Entdeckung der Nerven, die von den beiden alexandrinischen Gelehrten Herophilos und Erasistratos stammt. Proxagoras, der der Lehrer von Herophilos war, bevor dieser nach Alexandrien zog, gebraucht zwar bereits das Wort „Neuron“, das früher als Bezeichnung für die Sehnen verwendet wurde, doch versteht er darunter nur jene Teile der Arterien, die so dünn geworden sind, dass ihre „Wände“ einfallen und somit den Sehnen ähnlich sind. Aber aus der Darstellung dieser Lehre durch Galen wissen wir, dass Proxagoras mit der Tätigkeit dieser „Neura“ die Bewegungen der Finger erklärte, was unserer heutigen Auffassung von der Funktion der motorischen Nerven durchaus entspricht.

Die eigentliche Entdeckung von Bewegungsnerven war jedoch Herophilos vorbehalten, der bereits nicht nur die motorischen Nerven, sondern auch die Sinnesnerven kannte. Obwohl auch er terminologisch noch keine klare Unterscheidung zwischen den motorischen Nerven und den Sehnen traf, die Knochen mit Knochen oder Muskel mit Muskel verbinden, weil er beide noch mit „Neura“ bezeichnete, muss man ihm das Verdienst zubilligen, jene Organe identifiziert zu haben, durch welche die Seele an den Prozessen beteiligt ist. Die motorischen Funktionen, die noch Proxagoras als Vertreter der kardiozentrischen These den Arterien zugeschrieben hat, wird nun in aller Deutlichkeit auf die Nerven übertragen, deren Ursprung Herophilos bis zum Gehirn und Rückenmark verfolgt. Das Gleiche gilt für die sensorischen Nerven. Auch sie sind mit dem Gehirn als Zentralorgan verbunden. Dass es Verbindungswege zwischen Augen und Gehirn gibt, hat zwar schon Alkmaion festgestellt und auch Aristoteles erwähnt sie in seinen zoologischen Schriften, obwohl ihn seine kardiozentrische Lehre daran hinderte, die Funktionen anzuerkennen, die ihnen Alkmaion zugewiesen hatte. Aber erst Herophilos hat nach Galens Zeugnis jene „Poroi“ oder „Gänge“, die von den Augen zum Gehirn laufen, als „Nerven der Empfindung“ bezeichnet. Herophilos war es auch, der als Erster das Groß- und Kleinhirn, die Hirnhäute und die Ventrikel mit großer Genauigkeit beschrieb. Überliefert ist auch, dass er die „vierte Kammer“ oder die „Höhle“ des Kleinhirns als Sitz des „Hegemonikons“, der Führungskraft, bezeichnete (vgl. Solmsen 1971, S. 271).

Diese großartigen anatomischen Kenntnisse, die in der Neuzeit erst im 17. Jahrhundert überboten werden konnten, verdankte Herophilos systematischen Hirnsektionen am Menschen, die zu dieser Zeit nur in Ägypten ohne jede Einschränkung und in unbegrenzter Zahl möglich waren. Wie der römische Enzyklopädist Celsus berichtet, waren diese Sektionen, die nicht nur Herophilos sondern auch Erasistratos durchführten, Vivisektionen an Verbrechern, „die ihnen aus den Gefängnissen überlassen wurden und die sie untersuchten, solange sie noch atmeten“ (Celsus, De medicina. Lib. I, S. 7). Diesen Vorwurf wiederholt im 2. Jahrhundert n. Chr. der streitbare Kirchenlehrer Tertullian, der Herophilos als „Arzt oder Metzger“ (medicus aut lanus) bezeichnet, weil er „Tausende von Menschen ausgeweidet hat“ (Tertullianus 1744, S. 270). Wegen dieser Sektionen am lebenden Menschen wurde auch Herophilos von den frühen Christen am meisten gehasst.

Dass Herophilos für die Sehnerven immer noch den alten von Aristoteles gebrauchten Begriff der Poroi beibehält, hat seinen Grund darin, dass er durch seine anatomischen Studien herausgefunden zu haben glaubte, dass diese Bänder hohl sind. Wie man von Galen erfahren kann, war Herophilos der Meinung, dass diese hohlen Gänge „Pneuma“ enthalten. Er greift damit die aristotelische Tradition auf und folgert aus rein theoretischen Überlegungen, dass das auch für alle anderen Nerven gilt. Deutlicher als bei Herophilos sind diese Ansichten bei seinem jüngeren Zeitgenossen Erasistratos überliefert. Während Herophilos noch weitgehend auf dem Boden der hippokratischen Überlieferung stand, war Erasistratos in Athen in nahe Berührung mit der peripatetischen Schule des Aristoteles gekommen. Denn der große Aristoteles-Schüler und Verfasser von naturgeschichtlichen Werken Theophrast war sein Lehrer, ebenso wie Metrodoros, der eine Tochter des Aristoteles geheiratet hatte. Deshalb scheute Erasistratos sich auch nicht vor schwerwiegenden Korrekturen der herrschenden hippokratischen Lehre. In umgekehrter Reihenfolge wie Hippokrates behauptet er, dass die lebensspendende Luft zuerst durch die Atmung in die Lungenvenen, von dort ins Herz und schließlich als Pneuma psychikon in die Gehirnventrikel komme. Doch nimmt er wie Hippokrates an, dass es auch einen direkten Weg des Pneuma von der Nase in das Gehirn gibt, weil er an Tiersektionen festzustellen glaubte, dass sich röhrenförmige Ausstülpungen der vorderen Hirnventrikel in die Nase hinein erstrecken. Auf Galen beruft sich viel später noch der persische Arzt Rhazes, der im 9. Jahrhundert n. Chr. lebte, und der älteste medizinische Schriftsteller in hebräischer Sprache, der jüdische Arzt Asaf, der im 7. Jahrhundert in Mesopotamien wirkte und die Nase als „Türhüter des Gehirns“ bezeichnete (vgl. Benedum 1988, S. 26).

Auf der Basis seiner Sektionen demonstrierte Erasistratos zunächst unwiderleglich, dass alle Nerven im Gehirn ihren Ursprung haben und konzentrierte sich dann auf die Feststellung jener Stellen oder Teile des Gehirns, zu denen die verschiedenen Arten von Nerven gehören. Er unterscheidet, wie Herophilos drei Kammern im Großhirn und eine im Kleinhirn. Er kennt die Hirnhäute und beschreibt die Großhirnwindungen und das Kleinhirnrelief. Wie Herophilos sieht auch Erasistratos im Kleinhirn das Führungs- oder Denkorgan, weil er durch vergleichende anatomische Studien Folgendes feststellt: „Genau wie andere Lebewesen, z.B. Rehe oder Kaninchen oder irgend ein anderes, das die übrigen an Schnelligkeit des Laufens übertrifft, hierfür mit nützlichen Organen, nämlich Muskeln und Sehnen ausgerüstet ist, so hat beim Menschen, der in der Kraft des Denkens die anderen Lebewesen übertrifft, dieser Teil viel mehr Windungen“ (Galen, De usu part. VIII 13; vgl. Solmsen 1971, S. 272). Wenn Erasistratos die Großhirnwindungen erwähnt, vergleicht er sie zwar mit den Dünndarmschlingen, stellt aber fest, dass es zum Großhirn Verbindungen von den Wahrnehmungen gibt, die sowohl von der Nase als auch von den Ohren und der Zunge herkommen.

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