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Kapitel 9

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Es war im Jahr 1916, ein Jahr vor der russischen Oktoberrevolution, als die Ehefrau des Uhrmachers und Goldschmieds Alexander Bisdorff, im estnischen Badeort Pernau, mit einem Jungen niederkam. Die Geburt hatte lange gedauert, doch am Ende war alles gut gegangen, Mutter und Sohn waren wohlauf. Auf Wunsch der Großeltern in Sankt Petersburg, wurde der erstgeborene Enkel nach dem regierenden russischen Zaren Nikolaus getauft.

Erst vor zehn Jahren war Alexander Bisdorff von Russland in den estnischen Badeort Pernau gezogen. Im Gegensatz zu seinem Vater war er an einer Karriere in der zaristischen Marineverwaltung nicht interessiert gewesen, sondern hatte den angesehenen Beruf eines Uhrmachers erlernt und seine Ausbildung mit einem staatlichen Diplom abgeschlossen. Mithilfe der Eltern hatte er sich danach vom russischen Militärdienst freigekauft und seine ganze Energie in sein neu gegründetes Uhren- und Schmuckgeschäft gesteckt. Der Betrieb entwickelte sich so gut, dass er bald einige Mitarbeiter einstellen konnte. Um sein Unternehmen auf eine breitere wirtschaftliche Basis zu stellen, nahm er auch Schreibmaschinen, Grammolas und Waffen in sein Warenangebot auf. Vor allem bei Jagdgewehren erwarb er sich bald einen zahlungskräftigen Kundenstamm. Selbst während des Ersten Weltkriegs florierten die Geschäfte so gut, dass er nach und nach zwei Mietshäuser erwerben konnte.

Um sein Sortiment auf dem neuesten Stand zu halten, reiste er während des Jahres einige Male nach Deutschland, wo er mit Unternehmen in Leipzig und Dresden Geschäftsbeziehungen pflegte. Seine Frau Galina zeigte sich über diese Reisen wenig begeistert. Abgesehen von der zusätzlichen Arbeit, die während seiner Abwesenheit auf sie zukam, plagten sie Zweifel an der ehelichen Treue ihres Mannes. In ihrem weiblichen Argwohn vermutete sie, dass er den Lockungen der Großstadt erliegen würde. Doch dafür gab es keine Beweise und selbst auf ihre bohrenden Fragen wusste Alexander stets eine einleuchtende und beruhigende Antwort zu geben.

Das Ehepaar Bisdorff führte eine gute Ehe, und wenn der Haussegen einmal schief hing, handelte es sich nur um eine vorübergehende Eintrübung des ehelichen Friedens. Die Situation änderte sich jedoch mit der Geburt des Erstgeborenen. Die Ankunft des kleinen Nikolaus hatte Folgen, die an den Fundamenten des friedsamen Zusammenlebens rüttelten.

Galina hatte sich stets um ihr gutes Aussehen und eine schicke Garderobe gekümmert. Ihr Mann war gerade deshalb stolz auf sie gewesen. Auch hatte sie immer für ein sauberes und gepflegtes Zuhause gesorgt. Dafür gab es nun keine Zeit mehr. Als besorgte Mutter wurde sie von der Pflege und Betreuung des Sohnes völlig in Anspruch genommen. Alexander dachte zunächst an eine vorübergehende Phase, doch er täuschte sich. Am häuslichen Durcheinander und der übertriebenen Sorge um den Kleinen änderte sich nichts.

„Wieso kann die Magd das nicht machen?“, knurrte er oft missmutig, wenn er die Wohnung betrat und Galina sich nur mit dem Kind beschäftigte. Doch die Gescholtene war nicht bereit, seine Kritik hinzunehmen. „Du wolltest doch Kinder“, fuhr sie ihn an, „ein Sohn musste her! Nun hast du ihn und jetzt müssen wir uns um ihn kümmern.“

Alexander litt unter diesem Zustand. Vielleicht wäre ein zweites Kind die Lösung? Galina könnte sich dann nicht mehr so ausschließlich um ihren Erstgeborenen kümmern. Doch möglicherweise würde das häusliche Chaos dann noch größer werden. Was immer er auch in Betracht zog, er fand keine befriedigende Lösung für sein Problem. Den Kindersegen hatte er sich anders vorgestellt. Dabei hatte ihre Ehe doch so wunderschön begonnen.

Vor sechs Jahren, damals noch im tiefsten Frieden, hatten sie beide in Sankt Petersburg geheiratet. Es war eine großartige Hochzeit gewesen, mit mehr als zweihundert geladenen Gästen. In ihrem cremefarbenen Hochzeitskleid mit Schleier und Schärpe hatte seine junge Braut wie eine Prinzessin ausgesehen. Zwar waren seine Eltern anfangs, wegen der früheren Tätigkeit ihrer künftigen Schwiegertochter, gegen die Heirat gewesen, doch als sie Galina dann persönlich kennenlernten, waren ihre Bedenken schnell verflogen.

Kennengelernt hatte Alexander seine Braut auf einer Geschäftsreise nach Deutschland. Galina war damals in einem Vergnügungslokal an der lettisch-litauischen Grenze als Bardame beschäftigt gewesen. Sie hatte dort die männlichen Gäste zu bedienen und natürlich auch zum Trinken anzuhalten. Ihre schönen, leicht tatarischen Gesichtszüge und ihre großen dunklen Augen hatten Alexander von Anfang an fasziniert. Seinen Annäherungsversuchen gegenüber hatte sie sich jedoch anfangs reserviert gezeigt. Der Leichtsinn und die Trunksucht der russischen Offiziere, die hauptsächlich im Lokal verkehrten, hatten ihr die Augen geöffnet. Nur zu oft hatte sie miterleben müssen, wie leidenschaftliche Verbindungen schon nach kurzer Zeit auseinanderbrachen. Die Mädchen waren jedes Mal die Dummen gewesen. Einem solchen Unglück wollte sie sich nicht aussetzen. Ihre Zurückhaltung gab sie erst auf, als sie sich Alexanders ernsten Absichten sicher war. Er war gewiss nicht ihre große Liebe, doch sie mochte ihn — wohl auch deswegen, weil er sie heiraten wollte.

Galina war nicht vermögend. Außer dem Ersparten besaß sie nichts und konnte auch nicht mit einer Mitgift rechnen. Schon in jungen Jahren hatte sie ihre Eltern durch eine Grippeepidemie verloren, die damals in Osteuropa grassierte. Der fehlende Reichtum seiner Braut war aber für Alexander nicht das Entscheidende. Er liebte Galina und hätte sogar ein Heiratsgeld für sie bezahlt, wenn das so üblich gewesen wäre.

Wann die Zeiten wehen

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