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Kapitel 15

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Das Wachbataillon des Präsidenten der Republik rekrutierte sich vorwiegend aus jungen Esten, die in aller Regel bäuerlichen Familien entstammten. Aber es gab auch Ausnahmen. Neben Niki zählten ein ebenfalls deutschstämmiger Abiturient, Alfons Geisheimer, sowie ein eingebürgerter Russe, Boris Storoschenko, zu dessen Mitgliedern. Storoschenko hatte wie Niki die deutsche Schule in Pernau besucht und war danach bei einem jüdischen Uhrmacher in die Lehre gegangen.

Die beiden deutschen Abiturienten und auch Storoschenko wurden allgemein als die Elite der Wachmannschaft angesehen. Es war aber nicht nur die höhere Schulbildung, die sie aus dem Kreis ihrer Kameraden heraushob. Geisheimer besaß eine künstlerische Ader und das Talent, Wohnungen kunstvoll herzurichten und auszustatten. Die von ihm verschönerten Räume erstrahlten danach in einem bislang unbekannten Glanz. Storoschenko hatte das handwerkliche Können Uhren wieder instand zu setzen. Wurden keine Ersatzteile benötigt, erfolgten die Arbeiten kostenlos. Das Können der beiden sprach sich herum und es dauerte nicht lange, bis nicht nur die Leitung des Wachbataillons von ihrem Können profitieren wollte.

Nikis Qualitäten lagen dagegen mehr auf verbalem Gebiet. Sein Hang, zu allem etwas sagen zu wollen, trübte aber schon bald sein Verhältnis zu den Vorgesetzten. Dagegen war er bei seinen Kameraden beliebt und avancierte bald zu deren Wortführer.

Der Dienst im Wachbataillon unterschied sich wohltuend vom Kommissleben der estnischen Armee. Die Verpflegung der Wachsoldaten war qualitativ besser und neben den täglichen Essensrationen gab es Bohnenkaffee und Weizenbrot.

Wegen ihrer Repräsentationspflichten wurde auf das Erscheinungsbild der Wachsoldaten besonderen Wert gelegt. So verzichtete man darauf, ihnen die Köpfe kahl zu scheren und ihre aus gutem Tuch gefertigten Uniformen hoben sich vorteilhaft vom Rest der estnischen Armee ab, die das russische Vorbild nicht verleugnen konnte. Während die Beine der Wachsoldaten in weichen Stiefeln steckten, war das Schuhwerk der gemeinen Soldaten so grob und steif, dass deren Träger oft hineinpinkelten, um es etwas geschmeidiger zu machen.

Doch wo Licht ist, gibt es auch Schatten. Schlimm war nur, dass dieser Schatten im Wachbataillon vor allem auf Niki zu fallen schien. Von Anfang an hatten ihn die Ausbilder besonders ins Auge gefasst. Wurde ihm der Wunsch, in den Sanitätsdienst versetzt zu werden, hier übel genommen?

Wegen seiner Repräsentationsaufgaben unterstand das Wachbataillon einem strengen Reglement. Regelmäßiger Exerzierdienst und penible Befolgung formaler Vorschriften gehörten zum täglichen Dienstablauf. Niki empfand diesen Drill, sowie das ständige Tadeln und Korrigieren der Vorgesetzten, als Schikane und persönliche Demütigung. Während seine Kameraden den Dienstablauf als unvermeidliches Übel hinnahmen, lehnte er sich dagegen auf. Vor allem ein massiger Feldwebel mit Halbglatze und fleischiger Nase, aus der sein fehlender Haarbesatz zu sprießen schien, hatte es auf ihn abgesehen. Seine kleinen, wasserblauen Augen, der wulstige Mund und sein ausgeprägtes Kinn machten ihn zum Urbild eines Schleifers.

„Bei jedem Appell zähle ich bis zehn“, drohte er seinen Dienstbefohlenen, „dann seid ihr angetreten. Und zwar in einem Zustand, an dem es nichts auszusetzen gibt. Das gilt auch für die Klugscheißer unter euch“, dabei musterte er Niki, Geisheimer und Storoschenko mit missfälligem Blick.

Nikis großes Problem war sein angeborener Mangel an Akkuratesse, der sich auch im Zustand seiner Dienstkleidung niederschlug. Normalerweise handelte es dabei um kein schwerwiegendes Vergehen, doch beim Wachbataillon war das anders. Auf den perfekten Sitz der Uniform und den Zustand der Ausrüstungsgegenstände wurde größter Wert gelegt. Wegen seiner bekannten Nachlässigkeit wurde Niki stets mit besonderer Akribie gemustert. Selbst wenn er sich intensiv um sein Erscheinungsbild gekümmert hatte, fanden die Ausbilder an ihm noch immer etwas auszusetzen. Sei es, dass ein Kragenknopf nicht geschlossen war, der Uniformrock klaffte oder sonst eine Lappalie. Manchmal schien ihm, als ob es bei diesen kritischen Musterungen nicht mit rechten Dingen zuginge.

„Bisdorff, treten Sie vor! Ihr rechter Stiefelschaft sitzt nicht“, kritisierte ihn eines Tages sein berüchtigter Ausbilder.

In der Tat hatte es Niki nach der vorangegangenen Ruhepause nicht geschafft, seine Stiefel auf die Schnelle vorschriftsmäßig anzuziehen. „Das stimmt, Herr Feldwebel. Ich erlaube mir darauf hinzuweisen, dass auch der Linke nicht sitzt“, korrigierte ihn Niki.

Die Angetretenen lachten.

„Ruhe“, schnaubte der Ausbilder und wandte sich wieder an Niki: „Sie haben es nötig, noch Witze über den unkorrekten Sitz Ihrer Stiefel zu machen. Ihr widerborstiges Verhalten missfällt mir schon lange. Heute Abend nach Dienstschluss werde ich Ihnen zeigen, wie Dienstvorschriften zu beachten sind. Es wäre ja gelacht, wenn es mit dem Sitz Ihrer Stiefel nicht klappen würde.“


Nicht weit von der Stadt Tallinn entfernt, liegt der berühmte Ülemiste-See. Über die Entstehung dieses geschichtsträchtigen Gewässers wird im estnischen Nationalepos Kalevipoeg berichtet. König Kalev war in grauer Vorzeit verstorben. Für dessen Grablege schleppte seine Ehefrau Linda große Steine auf den Domberg in Tallinn. Als ihr dabei ein Stein entglitt, weinte sie ob dieses Missgeschicks so herzzerreißend, dass aus der Flut ihrer Tränen der Ülemiste-See entstand.

Doch für derartige mythologische Reminiszenzen blieb Niki an diesem Abend wenig Zeit. In der Nähe des Sees befand sich nämlich ein Trainingsgelände der estnischen Armee, das sich für die vorgesehene disziplinarische Maßregelung bestens eignete. Hierher hatte der Feldwebel sein Opfer samt Marschgepäck bestellt. Wegen der fortgeschrittenen Tageszeit war der Übungsbetrieb bereits eingestellt worden und das Gelände war leer. In unregelmäßigen Abständen hatte man dort Erdwälle aufgeworfen und dazwischen Gräben gezogen. Wegen der ständigen Beanspruchung und vorangegangener Regenfälle hatte sich der Boden in ein klebriges Sand- und Lehmgemisch verwandelt.

Kaum hatte Niki den Tornister abgelegt und sich vor einem der Hindernisse postiert, prasselten auch schon die Kommandos des Ausbilders auf ihn nieder. Niki folgte dem Befehls-Stakkato, bis er nicht mehr konnte und reglos am Boden liegen blieb.

Im Nu stand sein Peiniger über ihm. „Habe ich Ihnen befohlen liegen zu bleiben? Was ist los? Machen Sie sofort weiter!“

„Schluss, ich kann nicht mehr“, keuchte Niki.

„Was?“, gab sich der Feldwebel erstaunt, „Sie wollen nicht mehr? Ihr renitentes Verhalten ist Befehlsverweigerung! Dafür kommen Sie in den Knast!“

„Ich melde mich freiwillig“, stieß Niki heftig atmend hervor.

„Das können Sie haben! Wegen grober Aufsässigkeit werden Sie nicht eine, sondern zwei Wochen einsitzen. Inzwischen haben Sie sich genug ausgeruht. Vorwärts! Ich habe noch einiges mit Ihnen vor!“


Als der Ausbilder nach zwei Stunden von ihm abließ, zitterte Niki am ganzen Körper. Er war so erschöpft, dass er seinen Peiniger nicht einmal mehr zu hassen vermochte. Gesicht, Haare, Hände und seine Montur waren mit einer zähen Schlammschicht bedeckt. Mühsam schleppte er sich zu einem nahen Bach und säuberte sich so gut es ging, bevor er sich wieder auf den Weg zu seiner Kaserne machte.


Das Militärgefängnis in Tallinn befand sich im Seitentrakt einer abseits gelegenen Kaserne und wurde offensichtlich wenig genutzt. Als sich Niki dort zum Strafvollzug einfand, war er der einzige Insasse. Wegen der Schwere seines Vergehens sollte er während der ersten drei Tage bei Wasser und Brot darben. Doch die Gefängniswärter, von denen er einige kannte, steckten ihm das eine oder andere Essbare zu, sodass von einem verschärften Strafvollzug keine Rede war. Im Gegenteil, im Vergleich zu den Widrigkeiten seines Wachdienstes, empfand er das Gefängnisleben als geradezu angenehm. Ohne jede Dienstpflicht hatte er endlich Muße ein Buch zu lesen, einige längst fällige Briefe zu schreiben und auch über seine gegenwärtige Situation nachzudenken. Während der vergangenen Wochen war sein Privatleben zu einem Nichts verkümmert. Natürlich wäre er gerne öfters ausgegangen, und hätte auf einem der vielen Sommerfeste in der Gegend um Tallinn, die eine oder andere Mädchenbekanntschaft gemacht. Doch der strenge Dienst mit seinen vielen unnötigen Obliegenheiten hatte das verhindert. Einige Male hatte er seine Eltern in Pernau besucht. Sie waren über seinen psychischen Zustand betroffen gewesen, doch er hatte nicht geklagt. Was hätte es auch gebracht? Sein Gefängnisaufenthalt ging dann früher als erwartet zu Ende. Schon nach neun Tagen wurde ihm der Rest der Strafe wegen guter Führung erlassen.

Wann die Zeiten wehen

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