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Kapitel 10

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Neben seinen häuslichen Querelen machte sich Alexander zunehmend Sorge um das Schicksal seiner Eltern in Sankt Petersburg. Schon bald nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges war sein baltendeutscher Vater an seinem Arbeitsplatz in der zaristischen Marinebehörde ersten Repressalien ausgesetzt gewesen. Zunächst hatte man ihn auf ein Abstellgleis geschoben und kurz danach war er aus dem Staatsdienst entlassen worden. Der stets loyale und pflichtbewusste Beamte konnte sich mit dieser politisch motivierten Zwangspensionierung nicht abfinden. Wegen seiner Nationalität verfemt und zum Nichtstun verdammt, begann er bald zu kränkeln. Hatte es zwischen Alexander und seinen Eltern zu Beginn des Krieges noch briefliche Kontakte gegeben, so wurden diese mit der Zeit weniger und brachen gegen Kriegsende ganz ab.

Neben den militärischen Niederlagen auf den Kriegsschauplätzen wurde das zaristische Russland zunehmend von sozialen Aufständen erschüttert. Kommunistische Agitatoren propagierten eine proletarische Revolution, die nach heftigen Kämpfen auch die Oberhand gewann. Die Monarchie der Romanows brach wie ein Kartenhaus zusammen. Der Führer der Bolschewiken, Lenin, wurde zum Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare gewählt. Eine neue Zeit begann.

In dem vom kaiserlichen Deutschland im Jahre 1917 durchgesetzten Friedensvertrag von Brest-Litowsk, musste Russland auch Gebietsverluste im Westen hinnehmen. Sie betrafen im Wesentlichen Estland, Lettland und Litauen, die seit Peter dem Großen und dem Nystädter Frieden von 1721, als baltische Provinzen zum Zarenreich gehörten. Für sie schlug nun, im Zuge einer politischen Neuordnung Osteuropas, die Stunde der Freiheit. Schon im Frühjahr 1918 proklamierte das kleine Estland seine Unabhängigkeit, die im Dorpater Frieden von der Russischen Sowjetrepublik auch anerkannt wurde.

Von diesem geopolitischen Wandel waren auch die in Estland lebenden Baltendeutschen betroffen. Sie lebten seit Jahrhunderten im Lande und stellten seit Generationen die gesellschaftliche Oberschicht. An dieser sozialen Stellung war auch während der Zarenzeit nicht gerüttelt worden. Nicht zuletzt wegen des Einsatzes und der Initiativen der Baltendeutschen hatte sich das Land während der Jahrhunderte wirtschaftlich und kulturell entwickelt. Auch die Ausbildung eines estnischen Nationalbewusstseins und das Entstehen einer offiziellen estnischen Sprache waren von ihnen gefördert worden.

Nach einer ersten Konsolidierung der politischen Verhältnisse in Russland hielt es Alexander nicht mehr zu Hause. Das gänzliche Verstummen seiner Eltern bereitete ihm Sorge und ließ nichts Gutes erwarten. Um sich Gewissheit zu verschaffen, wollte er vor Ort in Sankt Petersburg nach ihrem Schicksal forschen.

Die Reise war nicht ungefährlich. Als Freiheitskämpfer hatte er nämlich nach dem Ersten Weltkrieg gegen kommunistische Verbände gekämpft, die in Estland eingefallen waren und scheußliche Verbrechen an der Zivilbevölkerung begangen hatten. Vor allem Esten und Baltendeutsche hatten sich damals in einem Freiheitskampf zusammengefunden und die Invasoren aus dem Land geworfen. Doch seine Bedenken waren unbegründet, Alexander gelangte unbehelligt nach Sankt Petersburg.

Das Haus seiner Eltern befand sich zwar in einem leidlichen Zustand, doch von Vater und Mutter war keine Spur zu entdecken. Die Wohnräume waren von revolutionären Offizieren belegt, die den Namen der früheren Eigentümer nicht kannten. Niemand wusste von seinen Eltern oder konnte ihm sagen, wo er sie suchen sollte. Auch deren frühere Freunde und Bekannte waren nicht mehr aufzufinden. In ihren Häusern und Wohnungen lebten ebenfalls Unbekannte.

Zufälligerweise traf Alexander dann doch auf einen entfernten Verwandten seiner Familie, der etwas über das Schicksal seiner Eltern zu berichten wusste. Als Angehörige der besitzenden Klasse hatte man ihnen vorgeworfen, mit den Gegnern der Revolution zu sympathisieren. Diese Anschuldigung kostete sie zwar nicht das Leben, doch sie mussten ihr Haus räumen und wurden in ein Arbeitslager verbracht. Wo und in welches, konnte er nicht sagen.

Bei den noch im Aufbau befindlichen staatlichen Behörden waren ebenfalls keine Hinweise über den Aufenthaltsort der Eltern zu erhalten. Wenn es überhaupt amtliche Dokumente über ihr Los gegeben haben sollte, waren sie wahrscheinlich in den Wirren der Revolution untergegangen. Wohin er sich auch wandte, stets stieß er auf bedauerndes Achselzucken. Wie es schien, suchte man das Vergangene zu vergessen und es bestand offensichtlich auch wenig Interesse, die oft grausamen Vorkommnisse während der Revolutionszeit erneut ans Tageslicht zu holen.

Alexanders Eltern blieben verschollen und es war davon auszugehen, dass sie, durch die Strapazen ihrer Internierung erschöpft, inzwischen nicht mehr am Leben waren. Niedergeschlagen machte er sich auf die Heimreise.

Zuhause wartete eine freudige Überraschung auf ihn: Bereits beim Wiedersehen am Bahnhof flüsterte ihm Galina zu, dass sich erneuter Familienzuwachs angekündigt habe.

Die Entbindung verlief diesmal schneller und auch Alexander überstand die mit einer Geburt verbundenen Aufregungen besser, als beim ersten Mal.. Zur Freude des Vaters war der Neuankömmling wieder ein kräftiger und gesunder Junge. Im Gegensatz dazu zeigte sich die junge Mutter über das Geschlecht ihres zweiten Kindes enttäuscht. Sie hatte sich so auf eine kleine Eva gefreut und bereits während ihrer Schwangerschaft eine Kollektion hübscher Kleidchen gekauft. Sie schienen nun nutzlos. Nach einigem Überlegen fand Galina jedoch einen Ausweg: Peter, so wurde die verhinderte Tochter getauft, hatte einen Lockenkopf und zeigte sich von Anfang an in den schönsten Mädchenkleidchen.

„Du kannst den Buben doch nicht in dieser Aufmachung herumlaufen lassen“, mäkelte Alexander, dem das Getue seiner Frau mit der Zeit peinlich wurde.

Auch Niki war von der Verwandlung des Bruders wenig begeistert. Er hatte sich einen echten Spielkameraden gewünscht und nun lief dieser in Mädchenkleidern herum! Diese frühe Irritation war möglicherweise ein Grund, weshalb es zwischen den Brüdern nie zu einer engen geschwisterlichen Beziehung kam.

Wann die Zeiten wehen

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