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Kapitel 16

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Der Domberg der Stadt Tallinn war zu allen Zeiten das wichtigste politische Zentrum Estlands. Hier waren wichtige Entscheidungen gefallen und hier hatte sich die Entwicklung des Landes in bedeutenden Bauten und Kulturdenkmälern manifestiert. Die sogenannte Große Burg entwickelte sich zum religiösen Zentrum und zum Sitz des baltischen Adels, während die stark befestigte Kleine Burg zum Mittelpunkt der staatlichen Verwaltung wurde. Die umgebenden Befestigungsanlagen hatten im Laufe der Jahrhunderte zwar ihre Funktion eingebüßt und waren verfallen, doch einige der alten Festungstürme hatten dem Zahn der Zeit getrotzt. Einem von ihnen, im Volksmund Langer Hermann genannt, war in jüngster Zeit sogar eine ehrenvolle Aufgabe zugefallen. Wegen seiner ansehnlichen Höhe diente er als Flaggenturm, auf dem morgens und abends die Flagge Estlands gehisst und eingeholt wurde.

Der Flaggendienste oblag dem Wachbataillon, wobei jeweils beim Morgen- und Abendappell ein Soldat mit dieser Aufgabe betraut wurde. Bei dieser dienstlichen Obliegenheit wurde täglich abgewechselt, doch einige Zeit nach Nikis Dienstantritt wurde der Flaggendienst sein alleiniges Metier.

„Bisdorff, Ihre Beine können mit Ihrer flinken Zunge nicht mithalten“, hatte der Vorgesetzte gewitzelt, „also worauf warten Sie? Los, rauf auf den Turm!“

Von nun an keuchte Niki zweimal am Tag die Wendeltreppen des Langen Hermann empor und dann wieder hinunter. Pfiff der Wind von der Ostsee, war es im Treppenaufgang zugig und kalt und an den warmen Tagen wurde der Treppenlauf zu einer schweißtreibenden Angelegenheit.


Nikis harte Militärzeit ging auf ihr Ende zu, als ein Ereignis im Wachbataillon für helle Aufregung sorgte. Als der Hauptanziehungspunkt Tallinns wurde der Domberg täglich von vielen Touristen besucht. Wünschten sie eine Auskunft, wandten sie sich oft an dort postierte Soldaten des Wachbataillons. Für ihre freundliche Auskunft wurde ihnen meistens ein Trinkgeld zugesteckt. Dieser Obolus bedeutete für sie eine willkommene Aufbesserung ihres kärglichen Solds, konnten sie sich dadurch doch gelegentlich ein Glas Bier oder auch ein Stück Kuchen leisten.

Der Führung des Wachbataillons waren diese Nebeneinkünfte der Soldaten ein Dorn im Auge und man untersagte ihnen deshalb die Annahme von Trinkgeldern. Schließlich wären sie keine Lakaien der Dombergbesucher, die auf deren Almosen angewiesen wären. Um aber gleichwohl an das Geld der Touristen zu kommen, wurde ein Kasten mit dem Emblem des Roten Kreuzes aufgestellt. Dort sollten die Besucher ihre Spenden einwerfen. Wenn den Soldaten trotzdem etwas zugesteckt wurde, hatten sie das Erhaltene in den Kasten zu werfen. Die neue Regelung bewährte sich und in den folgenden Wochen konnte regelmäßig ein ansehnlicher Betrag an das Rote Kreuz überwiesen werden. Eine Spende, die von der Presse auch gebührend herausgestellt wurde.

Von den Wachsoldaten wurde diese Verwendung der Trinkgelder allerdings weniger positiv gesehen. Nicht, dass sie etwas gegen Spenden an das Rote Kreuz gehabt hätten, nur im vorliegenden Fall fühlten sie sich um die ihnen zustehenden Einnahmen gebracht. Es dauerte auch nicht lange, bis ein geschickter Bastler eine Art Kescher konstruierte, mit dem sich das vorenthaltene Trinkgeld wieder aus dem Kasten fischen ließ.

Die Führung des Wachbataillons wunderte sich zwar über den Rückgang des Spendenaufkommens, doch auf den Gedanken, dass etwas anderes als eine geringere Spendierfreudigkeit der Dombergbesucher dahinterstecken könnte, kam zunächst niemand. Diese Einschätzung änderte sich jedoch, als bei einem Kontrollgang festgestellt wurde, dass der Einwurftrichter des Spendenkastens abgebrochen worden war. Er hatte den Manipulationen der Trinkgeldangler nicht standgehalten und man folgerte daraus, dass der Kasten regelmäßig ausgeräumt worden sei. Von Einbruch und Diebstahl war nun die Rede. Schlimm war nur, dass dafür vor allem die Wachmannschaft in Betracht kam. Den Soldaten wurden disziplinarische Maßnahmen angedroht, falls sich der oder die Übeltäter nicht melden würden. Doch niemand fand sich zu einem Geständnis bereit und die Ermittlungen verliefen im Sande.

Für die Führung des Wachbataillons entstand eine höchst unangenehme Situation. Jede Publizität über die Plünderung des Spendenkastens hätte zu peinlichen Fragen und sicher auch zum Vorwurf einer Verletzung der dienstlichen Aufsichtspflicht geführt. Disziplinarische Maßnahmen wären dabei nicht auszuschließen gewesen. Um diesen Eventualitäten zu entgehen, entschloss man sich, die leidige Angelegenheit unter den Teppich zu kehren. Um aber gleichwohl den Eindruck entschiedenen Handelns zu vermitteln, wollte man an passender Stelle die notwendigen Konsequenzen ziehen.

Von einem solchen Vorgehen ahnten die Wachsoldaten zunächst nichts. Als aber bei einem der nächsten Morgenappelle ihr verhasster Feldwebel nicht mehr zum Dienst erschien, lichtete sich der Nebel. Er war als Verantwortlicher für die verschwundenen Spendengelder erklärt und zum Sündenbock gemacht worden. Wie es offiziell hieß, hatte man ihn aus dienstlichen Gründen zu einer Pioniereinheit an der estnisch-lettischen Grenze versetzt.

Niki und seine Kameraden atmeten auf. Ein leidvolles Kapitel ihrer Militärzeit hatte ein spätes Ende gefunden. Auch der Nachfolger des Feldwebels besaß seine Ecken und Kanten, doch er war weit weniger penibel und hatte es auch nicht speziell auf die Klugscheißer der Wachmannschaft abgesehen.

Wann die Zeiten wehen

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