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Prolog

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Ein gerade leer geräumtes Haus hat etwas Trauriges. In gewisser Weise kann man es mit jemandem vergleichen, der gerade beraubt worden ist.

Ich ging wortlos durch die leeren Räume meines Elternhauses. Ein wenig hilflos hielt ich die hölzerne Kassette, die mir einer der Möbelpacker mit der Frage, ob ich sie an mich nehmen möchte, in meinen Händen. »Brauchen Sie die noch?«, hatte er mich gefragt. Ich hatte die Kassette noch nie gesehen und da er wohl meine Überraschung bemerkte, fügte er erklärend hinzu:

»Sie war noch im Schreibtisch. Wäre uns bald auf die Straße gefallen.«

Ich nickte geistesabwesend. Der Mann stand vor mir und wartete, was er denn nun mit der Kassette machen sollte.

»Wenn Sie das Kästchen nicht wollen können wir es auch mitnehmen und wegwerfen.«

»Nein, nein. Geben Sie her.«

Ich nahm die Kassette an mich. Nun trug ich sie mit mir herum, ohne genau zu wissen, was ich mit ihr tun sollte.

In diesem Haus, das jetzt so unverhüllt vor mir stand, hatte ich einmal gelebt. Hier war ich groß geworden. Es war einmal mein Zuhause gewesen. Viele, im Laufe der Jahre längst vergessene, Erinnerungen kamen mir wieder ins Bewusstsein. Ereignisse aus der Zeit, als ich noch ein Junge war, verbanden sich mit den Räumen. Sie waren ein Teil meiner Lebensgeschichte. Mein erster Schultag, als ich von meinem Vater zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben den Hintern verhauen bekommen habe, weil ich aus dem Unterricht geflohen bin und von meiner Mutter auf dem Schulhof eingefangen werden musste. Mein Schulabschluss, als mein Vater mir voller Stolz die Armbanduhr, die ich mir schon lange gewünscht hatte, geschenkt hat.

Mein Gott, wie lange war das schon her?

Ich hatte eine schöne Kindheit. Meine Eltern waren immer für mich da. Jetzt waren sie beide gegangen. Zuerst der Vater und kurz darauf die Mutter, und mit ihnen waren nun auch die Möbel gegangen, die zu ihnen gehört hatten, und die Ausdruck ihrer Persönlichkeit gewesen waren.

Die Möbelpacker hatten sie hinausgeschleppt, denn mit dem Tod ihrer Eigentümer waren sie unwiderruflich deren individueller Zuneigung beraubt worden.

Nachdem die Arbeiter gegangen waren entstand eine gespenstische Ruhe in dem Haus. Auf dem Parkettboden hallten meine Schritte, obwohl ich mich bemühte, leise aufzutreten.

Warum eigentlich? Warum trat ich leise auf?

Ich erwischte mich bei dem Gedanken, und, obwohl ich nach einer Antwort suchte, fand ich keine. Mein Weg führte mich in das frühere Arbeitszimmer meines Vaters. Ein Stuhl stand mitten in dem Zimmer. Die Armlehne aus schwarz gebeiztem Holz fühlte sich warm an. Wie oft hatte ich auf der ledernen Sitzfläche gesessen und Vater schweigend zugeschaut, wenn er an seinem Schreibtisch saß. Die Möbelpacker müssen ihn vergessen haben. Ich setzte mich. Mein Blick fiel auf die auf meinem Schoß liegende Kassette. Sollte ich sie jetzt öffnen oder später, um nach dem Inhalt zu sehen? Ein bisschen kam es mir vor, als würde ich in die Privatsphäre meiner Eltern eindringen. Doch dann verwarf ich diesen Gedanken, denn sicher war es ja im Sinne meiner verstorbenen Eltern, wenn ich die Kassette öffnete.

Vorsichtig hob ich den Deckel an und schaute hinein. Oben auf lag ein Kuvert, das nicht zugeklebt war, und darin war ein Brief. Als ich den Umschlag aufklappte fand ich einen Brief, der in Sütterlin geschrieben war. Das war meine Mutter. Sie schrieb in dieser, inzwischen aus der Mode gekommenen Schrift.

Lieber Hans,

vielleicht hätte ich Dir Vaters Brief und die Kladden schon früher geben sollen, doch ich wusste nicht, ob Vater es gewollt hätte. Alles Gute für Dich und die Kinder. Deine Mutter

Die wenigen Zeilen überraschten mich, denn meine Mutter hatte schon vor Jahren aufgehört zu schreiben. Früher, als ich noch ein Kind war, hat sie viele Briefe geschrieben. Sie hatte mir erklärt, die Briefe wären für ihre Mutter und ihre Schwester bestimmt, die nach dem verlorenen Weltkrieg noch in Oberschlesien lebten und nicht ausreisen durften, weil dies die polnischen Behörden nach dem Krieg verboten hatten. Neugierig wie ich war wollte ich damals lesen, was meine Mutter geschrieben hatte, doch meine Enttäuschung war groß, als ich erkennen musste, dass ich die Schrift nicht entziffern konnte. Wie Hieroglyphen kamen mir die Sütterlin-Buchstaben vor und mir wurde klar, dass meine Mutter dies genau gewusst hat und deshalb den Brief nicht verschlossen hatte. Als ich sie darauf ansprach hat sie mich Sütterlin gelehrt und auch die Briefe durfte ich lesen, denn sie enthielten keine Geheimnisse, die vor mir verborgen werden mussten. Ich kann Sütterlin heute noch lesen und schreiben, obwohl ich es nie gebraucht habe. Aber meine Mutter meinte eben, dass es nicht Schaden kann, wenn ich etwas nur um es zu können kann und obwohl ich es eigentlich nicht bräuchte.

In einem weiteren Umschlag war ein zweiter Brief. Die für meinen Vater typische, etwas eckige, Schrift kam zum Vorschein. Ich war gespannt. Mein Vater hatte viel geschrieben. Seine Gedichte trug er zu besonderen Gelegenheiten gerne vor. Insofern überraschte mich ein Brief meines Vaters nicht sonderlich, doch posthum einen Brief, quasi als letzten Gruß kurz vor seinem Tod verfasst, in Händen zu halten, erfüllte mich spontan wieder mit Trauer. Der Brief war an meine Mutter gerichtet.

Zögernd begann ich zu lesen.

Liebe Hanni,

ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt; aber es ist nicht mehr viel. Das ist ein Augenblick, in dem keine Zeit mehr für Beschönigungen bleibt. Alles reduziert sich auf das Einzige. Du weißt, ich war nie sehr gläubig, und ich bin es auch jetzt im Angesicht des nahenden Endes nicht. Die Menschen, die eine konkrete Vorstellung vom Jenseits zu haben glauben, sind zu beneiden um den Trost, den ihnen dieser Glaube gibt, doch ich kann nicht. Ich habe es versucht, immer und immer wieder, denn der Gedanke an das baldige Ende macht mich so traurig. Man hängt so an dem bisschen, und dabei ist es nicht einmal das eigene Leben, nein, das ist es gar nicht. Man hängt so an den Kindern und Enkeln. Ich bin so traurig, dass ich nicht mehr erleben darf, wie unsere Enkel ihr Leben gestalten, was sie studieren und ob sie glücklich werden. Wenn es doch nur so wäre, dass ich sie weiter beobachten dürfte, einfach nur ab und zu zusehen und manchmal die Daumen drücken.

Wir haben viel zusammen erlebt. Es war Krieg, als wir uns kennengelernt haben und es war immer noch Krieg, als wir geheiratet haben. Heute denke ich mir, wie viel unerschöpflichen Optimismus wir gehabt haben müssen, 1944 zu heiraten. Wir hatten nicht einmal eine ganze Woche, dann musste ich schon wieder an die Front nach Russland. Wir hatten Glück und überlebten die Zeit, und haben zusammen neu begonnen. Die Zeit war schlecht, es war alles grau in grau. Dann kam unser Sohn, ich weiß es noch als wäre es heute gewesen. Wir zogen ihn groß. Trotz mancher Fehler glaube ich haben wir es ganz gut gemacht. Er steht im Leben und ist ein ganzer Mann. Es erfüllt mich mit Stolz, wenn ich ihn sehe. Durch seine Heirat haben wir eine Tochter bekommen. Und dann die beiden Mädchen. Leider werde ich deren Kinder, unsere Urenkel, nicht mehr kennenlernen.

Ich habe in den vergangenen Wochen sehr gelitten. Nun ist es vorbei, meine Augen sind zu. Ihr habt mit mir gehofft. Danke.

Nun noch ein Wort an Dich, meine Liebe. Sei nicht traurig.

Wir hatten doch ein schönes Leben zusammen. Ich habe noch eine letzte Bitte an Dich und einen Wunsch. Meine Bitte ist, verschließ Dich nicht. Du bist noch jung. Erfülle Dir noch die Dinge, die Dir Spaß machen, denn Du siehst, wie schnell es zu Ende ist. Und dann erfülle mir bitte einen letzten Wunsch. Begrabe mich bescheiden. So wie ich gelebt habe. Nicht traurig sein. Alles Liebe und Gute.

Artur.

PS. Danke für Alles

Unter dem Brief lagen einige Kladden, alle sorgfältig beschriftet. Ich öffnete die Kladde mit der Aufschrift 1. Ein vergilbtes Foto fiel heraus. Vorsichtig, in Sorge, es könnte zerbrechen, hob ich es auf und betrachtete es. Ich hatte es zuvor noch nie gesehen. Dann las ich die Zeilen, die mein Vater geschrieben hatte.

Mein lieber Sohn,

auf der Fotografie ist Dein Großvater Willi Szlapszi, mein Vater, zu sehen. Du wirst Dich sicher noch erinnern. Er starb 1964 an einem Herzinfarkt.

Von den Jahren im KZ hat er sich nie mehr richtig erholt. Auf dem Foto ist er noch ein kleiner Junge. Daneben sind seine Brüder Paul, Walter und Karl und seine kleine Schwester Elisabeth. Die Frau mit dem ausladenden Hut; das ist Deine Urgroßmutter Henriette, und der Mann mit der Melone ist Dein Ur-Großvater, Gustav Szlapszi. Ich habe versucht, im Laufe der Jahre etwas über unsere Familie herauszufinden. Es war nicht leicht, denn vieles ist im Krieg verloren gegangen, doch das, was ich finden konnte, habe ich aufgeschrieben. So bekommt der Nebel der Vergangenheit Konturen und die Zukunft erhält ein Gesicht. Mit jedem Blick in die Vergangenheit sehen wir uns selbst mit den Augen derer, die damals gelebt haben, denn wir waren deren Zukunft so wie unsere Kinder und Enkel unsere Zukunft sind.

Einen Moment zögerte ich und überlegte, ob dies der geeignete Augenblick sei, zu lesen, was Vater mir zu sagen hatte. Dann lehnte ich mich zurück und begann zu lesen:

Und Gott schaut zu

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