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Kinderarbeit

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Drei Jahre wohnte Maria mit den Kindern inzwischen bei ihrer Cousine. Morgens stand sie schon sehr früh auf und webte eine Stunde, bevor sie die Kinder weckte und ihnen das Frühstück machte. Sie bemühte sich sehr, ihrer Cousine und ihrem Mann ihre Dankbarkeit mit fleißiger Arbeit zu vergelten. Auch gab sie ihnen die Hälfte ihrer Pension. Alles in allem reichte das. Sie verhungerten nicht, und sonntags gab es häufiger auch schon einmal wieder ein Stück Fleisch. Doch eines führte immer wieder zu Kontroversen. Während Gustav in die Schule ging, arbeitete der Junge ihrer Cousine am Webstuhl. Immer wieder hatte sie Maria gefragt, wann Gustav beim Weben mithelfen würde. Dann bräuchte ihr Mann nicht vierzehn Stunden zu arbeiten, denn die Arbeit fiel ihm immer schwerer. Maria hatte sich aber jedes Mal, wenn ihre Cousine das Thema ansprach, geweigert. Ihre Kinder sollten auf die Schule gehen, und davon ließ sie nicht ab. Wahrscheinlich war es Eifersucht oder Neid; in jedem Fall führte diese Frage zu Spannungen, die sich zwangsläufig einmal entladen würden. Und dann war es auch so weit.

»Ihr könnt hier nicht länger bleiben, Maria. Es ist zu eng für uns alle hier im Haus. Deine Kinder werden größer. Es geht nicht mehr.«

»Aber wo soll ich denn hin mit den Kindern?«

»Ich weiß, dass dies nicht leicht ist. Aber in ein paar Monaten, wenn der Frühling kommt, kannst Du vielleicht auf einem Gut anfangen. Dann geht die Arbeit auf den Feldern los.«

Maria wusste, warum ihre Cousine sie rausschmiss.

»Stört Dich, dass Gustav und Martha in die Schule gehen und Dein Sohn nicht?«

»Nein. Das hat damit nichts zu tun. Es ist einfach zu eng. Das Haus ist zu klein für uns alle und ein anderes können wir nicht bauen. Dazu fehlt es an Geld.«

»Und wenn Gustav arbeiten würde? Ging es dann?« Die Cousine überlegte, was sie darauf sagen sollte.

»Wenn Gustav arbeiten würde könnte er mit meinem Sohn das Bett teilen. Dann kann einer sich ausruhen, wenn der andere arbeitet. Das könnte gehen und wir würden mehr schaffen.«

»Also doch. Es ist Dir ein Dorn im Auge, dass Gustav zur Schule geht und Dein Sohn nicht.«

»Nein. Das ist mir völlig egal.«

»Das glaube ich Dir nicht. Schick Deinen Sohn doch auch auf die Schule. Es steht ja sogar im Gesetz.«

»Das können wir uns nicht leisten. Wir brauchen unseren Jungen hier bei der Arbeit.«

»Aber keiner weiß, wie lange Ihr noch Aufträge für das Weben von Stoffen bekommt.«

»Das weiß nur der Herrgott, aber das ist jetzt auch nicht wichtig.«

Marias Cousine kam immer mehr in Rage.

»Mein Mann ist ehrlich, fleißig und gottesfürchtig und kann auch nicht lesen. Da muss doch sein Sohn auch nicht Schreiben und Lesen lernen, oder?«

Sie machte eine Pause.

»Und so ein Dahergelaufener schon gar nicht.«

Damit war Gustav gemeint. Maria verstand das sofort. Sie ließ ihre Cousine einfach stehen und verließ das Haus. Verzweiflung ergriff sie. Wo sollte sie hin? Ziellos lief sie durch die kleinen Straßen, vorbei an den Weberhäusern mit ihren vielen eigenen Schicksalen. Ohne es zu planen führte ihr Weg sie nach Reichenbach. Als sie wieder klarer denken konnte wurde ihr bewusst, dass sie vor der Schule stand, in der ihre Kinder waren. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Die Schule musste bald zu Ende sein. Sie wollte warten und Gustav und Martha abholen. Jetzt, da ihre Cousine sie vor die Türe gesetzt hatte, würde sie noch härter für ihre Kinder kämpfen müssen.

Es dauerte nicht lange, da öffnete sich die Türe und die Schulkinder verließen das Gebäude. Gustav und Martha erblickten ihre Mutter und gingen zu ihr.

»Warum bist Du hier? Ist etwas passiert?« Die Kinder blickten sorgenvoll zu ihrer Mutter, der man ansehen konnte, dass sie geweint hatte.

»Wir müssen uns eine Bleibe suchen.«

Mehr sagte sie nicht, doch es reichte. Gustav und Martha war sofort bewusst, was es bedeutete, ohne Dach über dem Kopf zu sein. Vielleicht würden sie wegziehen müssen und dann konnten sie auch nicht mehr in die Schule gehen. Mutter hatte ihnen jeden Tag eingetrichtert, dass sie in die Schule müssten, damit es ihnen später einmal besser gehen würde.

Ratlos standen die drei auf dem kleinen Schulhof als ein älterer Mann zu ihnen trat. Als Gustav seinen Lehrer bemerkte trat er instinktiv einen Schritt zurück. Selbst im Beisein seiner Mutter flößte ihm der Mann, Angst ein. Er hatte seiner Mutter nie erzählt, dass er im Unterricht geschlagen wurde. Was hätte es auch gebracht? Geändert hätte sich sowieso nichts, und so lebten die Kinder in der Welt, in der körperliche Gewalt zum Alltag gehörte.

Der Lehrer sah die Frau mit den beiden Kindern.

»Sind Sie Frau Szlapszi, die Mutter von Martha und Gustav?« Maria bejahte die Frage und verbeugte sich leicht. Obwohl sie schon eine erwachsene Frau mit zwei Kindern war konnte sie ihren Respekt vor dem Lehrer nicht verbergen.

Sie schloss für einen Moment die Augen. Warum war es ihr nicht möglich, den ihr in ihrer Kindheit eingeprügelten Respekt vor Repräsentanten der gesellschaftlichen Ordnung, zu denen der Lehrer gehörte, ein Leben lang nicht mehr ablegen zu können?

Zu ihrer Verwunderung verneigte sich der alte Mann mit seinem schütteren Haar und dem abgewetzten Mantel jedoch freundlich.

»Darf ich mich vorstellen? Ich bin Johann Gawliczek, der Lehrer an dieser Schule.«

Marias Gesicht hellte sich in Anbetracht der Höflichkeit des Mannes etwas auf.

Johann Gawliczek war schon fast sechzig Jahre alt und verwitwet. Seit dem Tode seiner Frau lebte er zurückgezogen in dem kleinen Haus neben dem Schulgebäude, dass ihm die Verwaltung zur Verfügung gestellt hatte. Als Lehrer verdiente er nicht viel. Aber er brauchte auch nicht viel. Er war bescheiden. Johann Gawliczek war gerne Lehrer und gab sich Mühe, den Kindern so viel beizubringen wie er nur konnte. Dass er dabei auch den Rohrstock zur Hilfe nahm war für ihn selbstverständlich. Der gehörte zur Erfüllung der pädagogischen Ziele dazu, und dass er Angst und Schrecken bei den Kindern verbreiten könnte, wenn er falsche Antworten mit dem Rohrstock bestrafte, kam ihm gar nicht in den Sinn. Es hatte ihn auch niemand darauf angesprochen und es ihm gesagt. Warum auch? Auch die Eltern der Kinder hatten es ja nicht anders erfahren, wenn sie überhaupt zur Schule gegangen waren. Also ertrugen die Kinder schweigend dieses Leben der ständigen Maßregelungen durch Gewaltanwendung, und der Lehrer war ja nicht einmal der Einzige. Und er war auch nicht der Schlimmste, im Gegenteil; vielleicht hätte er sogar die Prügel eingeschränkt, wenn man es ihm gesagt hätte.

»Entschuldigung, ich wusste ja nicht…..«.

»Kein Grund, sich zu entschuldigen. Sie kannten mich ja nicht, Frau Szlapszi. Auf ihre Kinder können Sie stolz sein. Sie lernen sehr gut und sind auch fleißig.«

Maria freute sich, doch Gustav schaute ungläubig zu seinem Lehrer auf. Ihm und seinen Mitschülern gegenüber begegnete er immer unerbittlich hart.

»Martha wird die Schule im nächsten Jahr mit einem guten Zeugnis verlassen.«

Er blickte Martha freundlich an.

»Und Gustavs Zeugnis ist auch sehr gut.«

»Das freut mich sehr.« Maria machte instinktiv einen leichten Knicks.

Der Lehrer schaute in Marias traurige Augen. Ein wenig erinnerte sie ihn an seine Frau, als sie noch jung war. Die dunkelbraunen langen Haare, die sich im Nacken in natürlichen Locken verloren und die dunklen, fast schwarzen Augen.

»Sie sehen besorgt aus, Frau Szlapszi?« Maria wandte sich ab. Zuerst wollte sie nicht über ihre Probleme sprechen, doch dann entschied sie sich, wie von einer inneren Kraft gesteuert, ihre Sorgen vor dem Lehrer auszubreiten. Als sie alles erzählt hatte, legte Johann Gawliczek eine Hand auf ihre Schulter.

»Kopf hoch, Frau Szalapszi, ich schaue mal, ob ich Ihnen helfen kann. Ein guter Freund von mir ist Gutverwalter auf Gut Schwissnitz. Mit dem werde ich sprechen.« Maria wusste nicht, wie sie ihm danken sollte. Hoffnungsvoll gingen die Drei zurück nach Langenbielau. Als Marias Cousine hörte, dass sie mit den Kindern in ein paar Tagen ausziehen würde, ließ sie sie noch so lange in ihrem Haus wohnen. Diese Zeit der Ungewissheit wurde Maria zur Qual. Nach zwei Tagen endlich brachte ihr Gustav einen Brief von Johann Gawliczek mit. Hastig riss sie ihn auf und überflog die Zeilen. Sie würde mit den Kindern auf Gut Schwissnitz leben und arbeiten. Es war der schönste Tag für sie seit langer Zeit. Tags drauf verließen Maria, Martha und Gustav das Haus, in dem sie drei Jahre gewohnt hatten. Auf einem Handkarren, den sie sich vom Gut geliehen hatten, waren ein paar Koffer und weitere Kleinigkeiten, die ihnen noch von Krakau geblieben waren.

Johann Gawliczek hatte Wort gehalten. Auf Gut Schwissnitz ging es allgemein erträglich zu, so hieß es, und Maria hoffte, dass die Geschichten, die über Schwissnitz im Umlauf waren, zutrafen. Der Freiherr galt als unnahbar, aber gerecht. Gesehen wurde er in der Umgebung selten. Selbst in den sonntäglichen Gottesdienst kam er nicht, und es ging das Gerücht um, er sei ein Atheist oder, schlimmer noch, vielleicht sogar einer von diesen geheimnisumwitterten Leuten, von denen man jetzt immer häufiger schon mal hörte, den Freimaurern. Den Freiherrn störte das Gerede, das ihm auch von Zeit zu Zeit zugetragen wurde, nicht. In seinem Selbstverständnis verkörperte er das, was er für preußische Tugenden hielt; gradlinig loyal im Denken, liberal gegenüber Andersdenkenden und pflichtbewusst bis auf die Knochen. In seiner Bibliothek hing ein Gemälde von Friedrich dem Großen. Das Gemälde war eingerahmt von einer Kalligrafie.

‚Nulla poena sine lege‘

Sein Verwalter war angehalten, nach diesem Grundsatz, ‚Keine Strafe ohne Gesetz‘, zu handeln, doch im Grunde war dies eine Farce. Gesetzlich legitimiert war alles, was die Gutsherren zur Durchsetzung ihrer Interessen und Vorstellungen für sinnvoll hielten. Dafür hatten sie mit ihrem Einfluss beim Gesetzgeber gesorgt. Die Landarbeiter und das Gesinde wurden in allen Lebensbereichen bevormundet. Dass die Leibeigenschaft in Preußen durch Erlass des preußischen Königs bereits seit 1810 abgeschafft war, kümmerte keinen. Der Gutsherr entschied darüber, wer wen heiraten durfte, wer welche Arbeit zu erledigen hatte, und es kam immer noch vor, dass Gutsherrn Bedienstete ohne deren Zustimmung gegen Bedienstete anderer Gutsherren tauschten. Dies war eine sehr bequeme Lösung, um den Bedarf an Personal zu decken. Ohne Trauschein des Gutsherrn durften Pfarrer keine kirchlichen Trauungen vornehmen, und damit diese Vorschrift nicht unterlaufen wurde, hatte man Ledigen den Geschlechtsverkehr einfach verboten. Wer dies nicht beachtete wurde ebenso mit körperlicher Züchtigung bestraft wie derjenige, der die Erledigung der Arbeiten nicht nach den Vorstellungen des Gutsherrn ausführte. Dazu musste nicht einmal ein Gericht einbezogen werden. Es lag in der Vollmacht des Gutsherrn, als Dienstherr zu züchtigen. Freiherr von Schwissnitz und sein Verwalter übten ihre Macht mit Augenmaß aus. Jeder, der sich eines Vergehens schuldig gemacht hatte, wurde angehört, bevor die Strafe ausgesprochen wurde. Das war sehr viel in einer Zeit, in der Herrschende das Recht des Stärkeren immer für sich in Anspruch nahmen und Gewalt zur Durchsetzung ihrer Interessen skrupellos und willkürlich anwandten.

Der Verwalter hatte Maria eine Stelle in der Küche des Gutes gegeben und Martha wurde als Dienstmagd in seinem eigenen Haushalt beschäftigt. Gustav musste nach der Schule in der Ziegelei arbeiten. Viele Güter in Schlesien betrieben eine eigene Ziegelei. Die Arbeit in der Ziegelei war unglaublich hart und die Schichten dauerten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Da nur im Sommer, wenn es trocken und nicht zu kalt war, in der Ziegelei gearbeitet werden konnte, bedeutete dies einen Arbeitstag von fünfzehn Stunden und mehr. Pausen gab es keine. Der Ziegelstreicher bestimmte, wenn eine kurze Pause gemacht wurde, um ein Brot zu essen.

Mit Hacken und Schaufeln gruben ausgemergelte Arbeiter den Lehm aus der nahe der Ziegelei angelegten Grube und transportierten ihn auf Loren zur Ziegelei, wo er für die Formung durch die Ziegelstreicher vorbereitet wurde. Die mit Lehm gefüllten Formen wurden zum Trockenschuppen getragen und dort über Wochen an der Luft getrocknet. Diese Arbeiten erledigten Frauen und Kinder. Gustav war einer von ihnen. Er musste die auf Brettern gestapelten Ziegelsteinformen zum Trockenschuppen tragen. Wenn er nach zwei Stunden nicht mehr konnte, wurde er abgelöst und wendete die schon ein paar Tage im Trockenschuppen liegenden Formen, damit der Lehm von allen Seiten gleichmäßig trocknen konnte. Die Arbeit war nicht ganz so schwer und erlaubte den Kindern, die alle nicht älter als elf, zwölf Jahre alt waren, sich etwas zu erholen. Alle zwei Stunden wurde gewechselt. Für Frauen galt dieses Privileg nicht. Sie mussten während der gesamten Schicht die schweren Tragebretter mit den Ziegeln schleppen. Den Arbeitsrhythmus bestimmten die Ziegelstreicher und an guten Tagen, wenn der Ton gut aufbereitet war, schafften die Ziegelstreicher auf Schwissnitz fünftausend Formen, die von Gustav und den anderen in den Trockenschuppen geschleppt werden mussten. Überall hingen die Tonspritzer herum und auch Gustav sah in seiner verdreckten Kleidung aus wie eine Steinsäule auf einem Marktplatz. Besonders schlimm war es bei Regen. Der Boden war dann aufgeweicht und Gustav versank bis über die Knöchel im Matsch. Das Gewicht der Formen mit den Lehmziegeln tat ein Übriges, und wenn einer der Träger ausrutschte und die frisch geformten Ziegel in den Matsch fielen und dabei vielleicht auch noch kaputt gingen, war der Teufel los. Die Ziegelstreicher wurden im Akkord bezahlt und jede Ziegel, die im Matsch versank und sich auflöste verringerte ihren Lohn. Da war Prügel an der Tagesordnung. Die schwere Arbeit in der Ziegelei wurde besser bezahlt als die Arbeit in der Landwirtschaft. Da aber nur im Sommer, wenn es warm war, gearbeitet werden konnte, musste der während dieser Zeit verdiente Lohn für das ganze Jahr reichen. Das war dann weniger als ein Landarbeiter verdiente. Deshalb arbeiteten in den Ziegeleien im Sommer viele Wanderarbeiter, die, wenn der Winter nahte, weiterzogen. Manche fanden in den Glasfabriken eine Arbeit, andere als Lohnweber oder in Färbereien. Nur einige wenige Fachkräfte, wie die Brennmeister, blieben auch über den Winter beschäftigt. Die Ziegelei auf Gut Schwissnitz gehörte zu den größten in der Region. Gustav ging jeden Tag nach der Schule in die Ziegelei. Der Gutsverwalter gestattete dies allen Kindern, die in die Schule gehen wollten. Es gab jedoch genügend Kinder, die auf die Schule verzichteten oder von ihren Eltern zur Arbeit gedrängt wurden, da es für die halbe Schicht nach der Schule auch nur den halben Lohn gab. In den Wintermonaten, wenn die Ziegelei nicht in Betrieb war und es auf den Gütern allgemein weniger Arbeit gab, hatte Gustav nach der Schule frei. Er verbrachte dann seine Zeit bei den Pferden, half sie zu füttern und mistete aus. Die Zeit auf Gut Schwissnitz empfand Gustav trotz der schweren Arbeit als gut. Er lebte in einer Schicksalsgemeinschaft der Armseligen und fühlte sich in ihr geborgen.

Und Gott schaut zu

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