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Hochzeit und Familie Schlesien 1868

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Zwei Jahre waren seit diesen Ereignissen vergangen. Gustav hatte sich von seinen Verwundungen und den Strapazen erholt.

Er wohnte in einer Kate am Rande des Gutes Kuckau in der Nähe von Langenbielau. Dort war auf Veranlassung der preußischen Verwaltung eine Forstkolonie entstanden, auf der die Veteranen der preußischen Armee angesiedelt wurden. Es gab inzwischen im gesamten preußischen Hoheitsgebiet solche neu geschaffenen Dörfer, denn die Kriege gegen Dänemark und Österreich hatten viele Opfer gefordert. Die vielen Toten und Verwundeten der Kriege stellten für die preußische Regierung kein besonderes Problem dar und niemand machte sich besondere Gedanken über das Elend, das die Kriege geschaffen hatten. Schwierig war die Versorgung der Kriegskrüppel und der alten, ehemaligen Soldaten, für die sich in der Armee keine Verwendung mehr finden ließ. Sie würden nach den Kriegen in die Städte streben und dort betteln, denn eine staatlich organisierte Sozialversorgung gab es nicht. Betteln und Herumlungern war jedoch nicht im Interesse der Regierung, die schon genug Probleme mit der zunehmenden Verwahrlosung der in den Armenvierteln der Städte unter erbärmlichen Umständen lebenden Industriearbeiter hatte. Um dem Problem Herr zu werden baute man Forstkolonien in der Nähe von Gutshöfen und siedelte die Kriegsveteranen und ihre Familien dort an. Eine solche Kolonie war nicht weit entfernt von Langenbielau entstanden. Die meisten der dort lebenden Menschen arbeiteten als Landarbeiter und in der Ziegelei auf Gut Kuckau. Einige hatte man auch in der nahe gelegenen Glasfabrik untergebracht.

In der Forstkolonie lebten, als Gustav dort seine Kate bezog, etwa fünfhundert Einwohner. Links und rechts der Hauptstraße, die nach Langenbielau führte, standen in langen Reihen die kleinen, niedrigen Katen, die mit Stroh gedeckt waren. Zu einer Zeile von zehn Katen gehörte eine Gemeinschaftswaschküche, eine Backstube und eine Räucherkammer.

Gustavs Kate hatte eine etwas größere Stube, in der ein gemauerter Ofen stand. An der Längswand zierte sie ein Bett. Daneben stand eine kleine Tonne mit Salzheringen und ein Sauerkrautfass. Die Kammer war kleiner. Für Gustav reichte das, aber Familien mit Kindern mussten auf dem engen Raum zurechtkommen. Nur die wenigsten hatten für ihre vielen Kinder genügend Betten und mindestens drei mussten in einem schlafen. Der Boden bestand aus gestampftem Lehm. Unter dem Dach hatte

sich Gustav einen Vorratsraum geschaffen, in dem er ein wenig Heu, Brotmehl und Einkellerungskartoffeln lagerte. Dies waren Deputate, die er zusätzlich zu dem geringen Geldlohn von der Gutsverwaltung erhielt.

Jeden Morgen humpelte Gustav auf seinen Krücken von der Forstkolonie zum Haus des Verwalters auf dem Gut. Das waren zwei Kilometer, für Gustav Tag für Tag eine riesige Anstrengung. Im Sommer ging es ja noch, aber im Herbst und Winter war der Weg, der durch die Felder längs des Waldes führte, sehr oft übersät mit Löchern, in denen sich Regen, Schnee und Schmelzwasser sammelte.

Otto von Knobelsdorf war schon mehr als zwanzig Jahre Verwalter auf Gut Kuckau. Als Gustav sich vor zwei Jahren völlig zerlumpt bei ihm gemeldet hatte und als preußischer Veteran um Arbeit und eine Kate in der Forstkolonie nachfragte, reagierte er zuerst unwirsch.

»Was die sich immer ausdenken. Zuerst verschleißen sie unserer jungen Männer in ihren Kriegen und dann sollen wir die Krüppel, die nichts können, auch noch durchfüttern.«

Gustav war über die Worte erschüttert. Er spürte die ablehnende Haltung. Als wenn ihm eine innere Stimme gesagt hätte, er müsse jetzt mehr kämpfen als an der Bistritza, richtete er sich auf und sagte:

»Ich kann arbeiten wie einer mit zwei gesunden Beinen. Ich mache alles. Im Stall, auf dem Feld. Ich bin stark. Bitte, Euer Hochwohlgeboren, ich will nicht betteln.«

»Hast Du schon mal gearbeitet?«

»Ja, auf Gut Schwissnitz im Pferdestall als Knecht, log Gustav.«

»Aha, im Pferdestall und als Knecht? In Deinem Alter.« Otto von Knobelsdorf schaute ihn misstrauisch an.

»Ja jeden Tag von Sonnenaufgang bis in die Nacht, außer an den Tagen, an denen Schule war. Und Lorenkutscher in der Ziegelei war ich auch – später, als ich älter war.«

»Du warst in der Schule? Kannst Du lesen und schreiben?«

»Jawohl, Euer Gnaden, ich war sechs Jahre auf der katholischen Gemeindeschule in Reichenbach.«

»Gut, wenn Du schreiben kannst, dann melde Dich morgen früh hier. Du kannst hier arbeiten. Und lass Dir ein paar Kleidungsstücke und Schuhe geben.« Gustav verneigte sich und ging.

Am nächsten Morgen meldete er sich in der Gutsverwaltung.

Inzwischen waren zwei Jahre ins Land gegangen. Otto von Knobelsdorf brauchte seine Entscheidung für Gustav nicht zu bereuen. Gustav hatte eine schnelle Auffassungsgabe, war fleißig und sehr zuverlässig. Früh morgens, kurz nach Sonnenaufgang, ging er in den Pferdestall und half beim Ausmisten und Füttern. Sobald die Pferde versorgt waren meldete er sich beim Gutsverwalter. Dort arbeitete er als Hilfsschreiber und Bote.

Eines Morgens ließ ihn Otto von Knobelsdorf rufen. »Du musst jetzt bald ohne Krücken laufen können.«

»Wie soll das gehen, gnädiger Herr?«

»Dein Beinstumpf ist jetzt völlig vernarbt. Jetzt kannst Du eine Prothese bekommen.«

Gustav schaute etwas ratlos.

»Na, ein künstliches Stück Bein für das, welches Dir fehlt.«

Gustav nickte.

»Morgen früh fährst Du mit Bruno nach Waldenburg. Dort meldest Du Dich in der Schildergasse beim Tischler Strehlitza. Hast Du verstanden?«

Gustav hatte verstanden, ohne genau zu wissen, was da morgen auf ihn zukam.

Am nächsten Morgen stieg er zu Bruno Kruschka, dem Kutscher des Gutes, auf den Kutschbock des schweren Gespanns. Vier Pferde, Schlesier, die in der Gegend gezüchtet wurden und für ihre Kraft und Ausdauer bekannt waren, zogen den schweren Wagen mit seinen eisenbeschlagenen Speichenrädern. Es war Ende November und schon kalt. Gustav hatte seine beste Hose angezogen, die er sonst nur zur Kirche und an Festtagen wie Weihnachten und Ostern trug. Über dem Hemd mit Stehbördchen hatte er eine Jacke an, die ihm der Gutsverwalter damals gegeben hatte. Seine Schuhe waren derbe und mit groben Riemen geschnürt. Den rechten hielt er in der Hand. Auf dem Kopf trug er eine Schirmmütze, die von seinen Ohren gehalten wurde.

Das Gespann machte langsam seinen Weg. Nach knapp zwei Stunden hatten sie ihr Ziel, Waldenburg, erreicht. Hier setzte Bruno ihn ab.

»Zur Mittagszeit hole ich Dich an dieser Stelle wieder ab.« Gustav nickte und betrat die Tischlerei.

»Herr von Knobeldsorf schickt mich.«

»Ich weiß. Er hat mir melden lassen, dass Du eine Prothese brauchst. Setz Dich mal dort auf den Schemel und zieh Deine Hose aus.«

Gustav tat wie ihm geheißen. Unmittelbar unter seinem rechten Knie war nur noch der leicht gerötete Stumpf zu sehen. Meister Strehlitza kniete nieder und besah sich das Bein.

»Wie lange ist das jetzt her?« wollte er von Gustav wissen.

»Zwei Jahre.”

»Ist gut verheilt. Das wird gehen. Du hast Glück gehabt, dass Dein Knie noch dran ist. Dadurch wirst Du mit der Prothese besser gehen können.«

Dann passte er ihm eine Prothese an. Sie bestand aus einem runden Stiel, an dessen unterem Ende ein Holzfuß war. Am oberen Ende hatte die Prothese eine trichterförmige, mit Leder ausgepolsterte Erweiterung. Drei Lederriemen dienten zur Befestigung am Oberschenkel etwa eine Handbreit oberhalb des Knies. Der Tischler passte die Prothese an. Als er mit seiner Arbeit fertig war, versuchte Gustav nach Jahren, in denen er auf einem Bein und einer Krücke gehumpelt war, wieder zu gehen. Er erhob sich, machte unsicher zwei, drei Schritte und stürzte. Seit der Amputation hatte er verlernt, sein rechtes Bein zu heben. Die Länge seines plötzlich wieder hinzugewonnenen Unterschenkels hatte er noch nicht verinnerlicht.

»Du musst aufpassen und Dich dran gewöhnen. Aber bisher haben es alle geschafft und es waren viele. Immer mehr, seit unser eiserner Kanzler regiert. Da muss ein jeder für unser Preußen Opfer bringen, oder?« Er lachte, doch Gustav wusste nicht so recht, wie der Tischler es gemeint hatte.

»Ich versuch es noch mal.«

Gustav erhob sich und probierte es erneut. Vorsichtig, Schritt für Schritt, ging er vorwärts, die Arme ausgebreitet, als wenn er auf einem dünnen Seil balancierte. Meister Strehlitza unterstützte ihn am Arm und gab ihm damit etwas Halt. Immer noch besser als die Krücken, dachte Gustav. Nach einer Weile gelang es ihm, so leidlich ohne fremde Hilfe zu laufen.

»Danke, Herr Strehlitza«, verabschiedete er sich und machte sich auf den Weg.

Die Tür zur Werkstatt fiel hinter ihm ins Schloss. Seinen rechten Schuh hatte er über den Holzfuß gezogen. Auf den ersten Blick wird keiner erkennen, dass ich ein Krüppel bin, dachte Gustav, und zum ersten Mal seit langem erfüllte ihn eine gewisse Befriedigung.

Gustav ging durch die Straßen der Stadt. Hier war er schon einmal gewesen. Es kam ihm vor, als wäre es vor langer, langer Zeit gewesen und dabei war es erst neun Jahre her, seit er in der Stadt am Rande des Riesen-gebirges gewesen ist und um Brot für seine Mutter gebettelt hatte. Was war in der Zwischenzeit alles passiert? Seine Mutter war gestorben. Er hatte im Krieg ein Bein verloren, war zum Krüppel geworden für etwas, dessen Sinn ihm verschlossen geblieben war. Gedankenversunken ging er durch die Stadt bis ihn der Ruf des Fuhrmanns weckte. Er stieg auf den Wagen, und dann machten sie sich auf den Weg zurück zum Gut Kuckau. Schweigend fuhren sie auf dem holperigen Weg.

»Du bist so schweigsam«, unterbrach der Kutscher die Stille.

»Hast doch Grund zur Freude, jetzt mit Deinem neuen Bein.«

Er blickte zu Gustav hinüber und lachte. Doch Gustav blieb stumm. Schweigend saßen sie auf dem Kutschbock. Die schwierigen Lebensverhältnisse ständig am Rande des Existenzminimums waren der Grund für sein Handeln gewesen. Das war so, als er sich von der preußischen Armee anwerben ließ, und das war auch so, als er damals mit ein paar anderen Jungen vom Gut in diese Stadt gezogen war. Da war er noch ein Junge.

Und Gott schaut zu

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