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Malin blieb stehen. Sie hörte schnelle Schritte, die plötzlich aufhörten. Vielleicht war der Mann ebenfalls stehengeblieben, vielleicht wartete er irgendwo im Dunkeln auf sie. Sie wurde unsicher und versuchte zu horchen, aber sie war durch das Laufen außer Atem geraten und keuchte.

Nach einigen Minuten drehte sie um und ging langsam über den Lilla Torget zurück bis zu dem Haus in der Hantverkaregatan, in dem sich ihre Wohnung befand. Der Samstagabend war vorbei, es war halb eins, Frühsommer, am Himmel begann es schon allmählich hell zu werden.

Eine Woche war vergangen, seit ihr Bruder in das Unfassbare verwickelt worden war. Vielleicht gab es aber auch eine ganz einfache Erklärung für die Ereignisse. Malin war immer noch völlig davon überzeugt, dass Robert unschuldig war. Sie hatte begriffen, dass starke Indizien gegen ihn sprachen und entlastende Beweise fehlten. Gleichzeitig hatte sie jedoch das Gefühl, dass eine Erklärung in greifbarer Nähe lag. Sie dachte nicht daran aufzugeben. Sie und Robert hatten immer ein enges Verhältnis zueinander gehabt, sie wollte ihn nicht im Stich lassen, jetzt, da er wirklich Hilfe brauchte.

Sie saß mit einer Tasse Tee am Fenster ihrer Dachgeschosswohnung und beobachtete, wie die dünnen Wolken am Himmel entlangzogen. Unten am alten Eckhaus gingen ein paar Nachtwanderer auf unsicheren Beinen vorbei. Das vibrierende Neonlicht der Namensschleife des Kinos weiter unten an der Stora Brogatan hatte in dem frühen Morgenlicht schon seinen Glanz verloren.

Als Malin schlafen ging, war es zwei Uhr. Sie wachte jedoch nach einer Stunde schon wieder auf und konnte nicht wieder einschlafen. Jetzt erschien ihr wieder das Gesicht des Mannes, der sie fast an den Kopf getreten und stattdessen einen anderen Menschen getroffen hatte. Es war seine Absicht gewesen, sie zu verletzen und nicht den anderen armen Kerl, der zufällig im Weg gestanden hatte. Der Angreifer war ungeheuer schnell gewesen, hatte einen kräftigen Seitenhieb ausgeteilt, mit einer Sicherheit, die man erst nach vielem Üben erlangte.

Malin selbst hatte zusammen mit Fatima Karate betrieben. Sie war eine Anfängerin, aber sie konnte den Unterschied zwischen einem Meister und einem Amateur erkennen. Dieser Mann war ein voll ausgebildeter Experte, vielleicht ein Soldat, im Nahkampf auf Leben und Tod trainiert. Als Malin während dieser Sekunde seinem Blick begegnet war, hatte sie Eiseskälte in seinen Augen gesehen. Das hatte ihr Angst gemacht.

Der Montag begann mit leichtem Regen, der jedoch gegen acht Uhr schon wieder aufhörte. Malin hatte sich entschlossen; sie rief ihre für heute angemeldeten Kunden an und änderte die Termine. Dann ging sie ins Internet und suchte nach Namen und Adressen, googelte verschiedene Begriffe: Lotse, Fahrrinnen, Norrtälje Hafen, Schifffahrtsverwaltung, Silo, Hafenabgaben. Sie erhielt ständig neue Hinweise, sie suchte weiter, füllte mehrere Seiten mit Telefonnummern und Stichworten. Sie telefonierte, fragte, erhielt manchmal Antwort, manchmal nicht. Telefonierte weiter und näherte sich so immer mehr dem Frachtschiff, das es an diesem fatalen Samstag so eilig gehabt hatte zu verschwinden.

Als sie die Lotsenstation von Kapellskär anrief, stellte sie sich als freiberufliche Journalistin vor, die einen Artikel über ausländische Schiffe schreiben wollte, die in der letzten Woche die Häfen an der Küste von Roslagen angelaufen hatten. Sie wurde mit einem der Lotsen verbunden, Alvar Vantanen. Er hatte einiges zu erzählen. Das Gespräch kam schnell auf ein ungewöhnliches Schiff, Melchior, 1800 Tonnen, registriert in Liberia. Vantanen hatte die Melchior in den Hafen von Norrtälje gelotst.

»Dann fuhren sie plötzlich ohne Lotsen weg, und das erfordert eine gute Erklärung, sonst fällt eine saftige Geldstrafe an.«

»Wann sind sie denn weggefahren?«

Vantanen wusste es nicht, sie waren jedoch recht sonderbar. Alle sprachen russisch, nur der Kapitän konnte ein paar Worte Englisch. Aber Vantanen hatte gehört, wie sich zwei von ihnen auf Schwedisch unterhalten hatten, und als er sie ansprach, taten sie so, als ob sie nichts verstünden.

»Sie kamen aus Sankt Petersburg, wohin sie jedoch nach dem überstürzten Aufbruch fahren wollten, wissen wir nicht.«

»Merkwürdig, oder?«

»Ja, etwas seltsam war das schon. Und dann übernahmen sie das Löschen der Ladung selbst, sie hatten eigene Leute, die die Lasten an Land brachten, Zement und Armierungseisen.«

Malin fragte, ob Vantanen an Bord gewesen sei, als das Schiff im Hafen lag.

»Nein, der Kapitän hatte es eilig. Manchmal wird man noch zu etwas eingeladen, hier jedoch hieß es nur: Danke und Auf Wiedersehen.«

Malin telefonierte weiter. Sie dachte, sie sollte sich einen Überblick über das Hafengelände verschaffen, und sie fand den Aufseher, der für den größten Silo verantwortlich war. Ob er sie wohl auf den Silo hinauflassen könne, wegen der Aussicht. Sie gab sich immer noch als Journalistin aus, die etwas über den Hafen schreiben wollte. Ja, das ginge wohl, ein Architekt wolle gegen zwei auf den Silo hinauf, sie könne ja mitgehen.

Der Architekt war ein rothaariger Mann in den Sechzigern. Er hatte eigene Schlüssel für die alten Getreidelager im Hafen, da sein Büro mit den Entwürfen für die geplanten Umbauten in der Gegend zu tun hatte. Jetzt wollte er in dem höchsten Silo ein paar Fotos machen.

Sie fuhren mit dem Fahrstuhl hinauf und stiegen im sechsten Stock aus. Der Architekt erklärte Malin, wie er sich die Wohnungen auf den erstaunlich geräumigen Flächen vorstellte. Die Wände, das Dach und die Stützflächen waren aus grauem Beton, dazwischen verliefen starke Rohre, durch die das Getreide geschüttet worden war. Malin sah sich um und der Architekt begann zu fotografieren. Er würde wohl noch eine Weile bleiben.

»Ich gehe ein Stockwerk höher«, sagte Malin.

»Sei vorsichtig«, sagte der Architekt.

Malin wählte die enge Spiraltreppe, die sich neben dem Fahrstuhl nach oben ringelte. Sie stieg hinauf, blieb ab und an stehen, ging weiter und war bald oben an der Dachluke. Sie schob sie auf und kletterte auf das flache Dach hinaus. Unter ihr lagen die Stadt Norrtälje, der Fluss, die Bucht. Sie konnte in die Hinterhöfe sehen und in die Gassen. Die Menschen waren winzig, die Autos klein wie Spielzeuge.

Sie griff an das Geländer. Es war fest und sie lehnte sich darüber. Sechzig Meter unter ihr lag der Kai, wo Lars Gustavsson umgebracht worden war. Was immer er mitbekommen haben mag, es musste sich in unmittelbarer Umgebung des Tatorts befunden haben.

Da hörte sie ein Geräusch von der Dachluke her und dachte, dass es der Architekt sei, der heraufkam. Der Ärmel, der zuerst durch die Lukenöffnung sichtbar wurde, war jedoch nicht der Ärmel des Architekten. Der Kopf, der folgte, gehörte zu dem jungen Mann mit den kurzen Haaren und der kräftigen Statur. Er war schnell oben auf dem Dach und machte ein paar Schritte auf Malin zu. Sie lief am Rand entlang, umfasste mit beiden Händen das Eisengitter und schwang sich hinüber.

Ein junger Mann und eine ebenso junge Frau spazierten unten am Kai entlang, direkt unterhalb des Silos. Keiner von den beiden sah in diesem Augenblick nach oben. Ein Lastwagen hielt, der Fahrer stieg aus und zündete sich eine Zigarette an. Auch er blickte nicht zum Silo hinauf.

Wenn sie nach oben geblickt hätten, hätten sie dort eine hastige Bewegung bemerkt. Aber da sie nichts Ungewöhnliches hörten, blickten sie stattdessen hinaus über den Hafen.

Das Lüftungsrohr war etwas rostig; es war mit Eisenklammern an der Betonwand befestigt. Auf der Außenseite des Rohrs befand sich eine Reihe Steigeisen, die ein Stück herausragten. Malin schwang sich über die Brüstung. Sie hielt sich fest, schwankte hin und her, drehte sich, ließ los und konnte unten die Stadt sehen, das Wasser, den Kai. Für einen kurzen Augenblick befand sie sich in freiem Fall.

Sie streckte den rechten Arm aus, schob die Schulter so weit wie möglich vor, spreizte die Finger, schlug gegen eine der Eisenstangen der Treppe, riss sich den Arm auf. Aber sie konnte sich an der nächsten Eisenstange festhalten, ihr Körper drückte sich gegen das Rohr, sie konnte sich jetzt auch mit der anderen Hand festhalten.

Als sie auf das zehn Meter weiter unten hervorstehende kleine Dach hinunterkletterte, warf sie einen Blick nach oben und sah den Kurzhaarigen. Er beugte sich vor, folgte ihr jedoch nicht.

Der Architekt befand sich noch im sechsten Stock, als Malin dorthin zurückkehrte. Er sagte, dass der Fahrstuhl gerade vorbeigefahren sei und er geglaubt hatte, sie sei es.

»Nein, das war jemand anders«, antwortete sie.

»Im Augenblick scheinen sich ja viele für dieses Gebäude zu interessieren«, meinte der Architekt. Sie holten den Fahrstuhl herauf, warteten schweigend und fuhren zusammen hinunter. Als Malin hinaus auf die Straße trat, rief sie Fatima an.

Schärenmorde

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