Читать книгу Schärenmorde - Erik Eriksson - Страница 9
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ОглавлениеEs ist wahr, dachte Malin Skogh. Es ist wahr, dass einem schwarz vor Augen wird, wenn man etwas richtig Schreckliches erfährt. Es ist wahr, dass man in der Luft hängt, als ob der Erdboden plötzlich verschwunden sei.
Sie war mitten auf dem Bergsbacken auf ein Mäuerchen gesunken, hielt das Telefon ans Ohr gedrückt und flüsterte: »Das kann doch nicht wahr sein.«
»Doch, das ist es. Malin, du musst mir zuhören.«
Fatima Barsawi wusste, wie sich Schmerz anfühlt, wie Trauer und Verluste sich ins Herz brannten und dort wie ein wütendes Tier mit spitzen Zähnen nagten. Das hatte sie früh gelernt, während des letzten Jahres im Irak, als der Bruder ihrer Mutter verschwand und die Augen der Mutter erloschen. Und während der Flucht, als die Angst die Familie Barsawi wie ein eiskalter Schatten verfolgte und die Erinnerung an all das, was verloren gegangen war.
Jetzt galt es vor allem, ruhig zu bleiben. Zu atmen, zu überlegen.
»Malin, hör zu. Das, was ich sage, ist wahr. Robert ist verhaftet. Er steht im Verdacht, Lars Gustavsson getötet zu haben. Mehr darf ich nicht sagen. Jedenfalls im Augenblick nicht. Er bekommt aber einen Anwalt, heute oder morgen.«
Fatima überlegte eine Weile, ehe sie fortfuhr: »Es ist so – aber du darfst nicht sagen, dass du das von mir erfahren hast –, dass auf Roberts Jacke Blutflecken gefunden wurden. Und er kann sich nicht erinnern, was er in der Nacht im Hafen gemacht hat. Ich weiß, dass es für dich sehr schwer ist. Ich würde gerne rüberkommen, aber ich muss heute Abend arbeiten.«
»Ich komme zurecht, bestimmt. Aber danke, dass du angerufen hast. Danke auch, dass du es mir gesagt hast. Ich weiß, dass du nicht so viel sagen darfst. Das ist in Ordnung. Ich muss jetzt …«, stieß Malin heraus und drückte das Gespräch weg, ehe die Tränen zu laufen begannen.
Robert, dachte sie. Oder Ro-Bert, wie er genannt wurde, als er in die erste Klasse ging, mit einer Art Anknüpfung an Vaters Freund Onkel Bert. Robert, den sie bei all seinen zerplatzten Liebesgeschichten und seinen halbherzigen Versuchen, etwas Ordentliches zu werden, gestützt hatte. Der kleine Bruder, dem die Scheidung der Eltern stark zugesetzt und der angefangen hatte, ein bisschen zu viel zu feiern, der jedoch nie in eine Schlägerei verwickelt gewesen war. Nie.
Robert, der sich zusammengenommen hatte und für Malin dagewesen war, als sie nach einer Trennung vor ein paar Jahren in ein schwarzes Loch gefallen war. Ruf mich jederzeit an, Schwester, ich bin immer da, hatte er gesagt.
Er hat niemanden getötet, dachte Malin. Und jetzt ist er derjenige, der Hilfe braucht.
Der Mann im dunklen Anzug trat auf den Balkon hinaus, lehnte sich vor und spähte hinunter auf die Parkschule. Er trommelte auf das Geländer und wandte sich zurück zum Wohnzimmer.
»Wo ist er? Ich gehe davon aus, dass ihr das hier ernst nehmt«, sagte er und betrachtete den bedeutend jüngeren Mann auf dem Sofa. Jeans. Gesprenkeltes T-Shirt, das sich über den muskulösen Armen spannte. Kurzgeschnittene Haare. Stark, aber nicht besonders helle, stellte er fest.
»Wir haben Probleme«, fuhr er fort und kam zurück ins Zimmer. »Ihr seid gesehen worden. Zuerst im Hafen, dann im Wald. Ich weiß, dass ihr euch darum gekümmert habt, aber das war nicht gut. Und der Mann, der bei der Polizei verhört wird, erinnert sich vielleicht an euch.«
»Wir können uns auch um ihn kümmern«, murmelte der Mann im T-Shirt.
»Njet grasjnojo raboty«, sagte der Mann im Anzug.
»Was?«
»Eine russische Redensart. Es gibt keine schmutzigen Arbeiten. Nur schmutzige Gewissen. Es gibt noch mehr Probleme. Irgendjemand hat ein Foto von dir und dem Alten gemacht, das stand in der Zeitung. Ihr müsst herausfinden, wer das war«, fuhr er fort.
»In Ordnung. Kein Problem.«
»Noch etwas. Adam hat mich benachrichtigt, als er die Lieferung erhalten hat. Es fehlt ein Karton. Ihr habt wohl nicht angefangen, eigene Geschäfte zu machen, du und dein Kumpel?«
»Aber nein, zum Teufel, das weißt du doch. Niemals«, antwortete der Kurzhaarige, während er auf dem Sofa hin und her rutschte.
»Wo ist er denn dann? Es sind wichtige Teile drin.«
»Weiß ich nicht. Wir haben ihn vielleicht im Hafen verloren; es wurde turbulent, als der Alte aus dem Boot auftauchte und fragte, was wir da machen. Und dann kam dieser junge Bursche herangetorkelt. Wir mussten verschwinden, nachdem wir den Alten fertig gemacht hatten.«
»Findet den Karton. Du weißt ja, was sonst passiert«, antwortete der Mann im Anzug.
Der Bau im Hafen war kürzlich nach langen aufreibenden Diskussionen in Gang gekommen. Unterschriftenlisten und Demonstrationen hatten nichts genützt, jetzt sollten Teile der alten Gebäude abgerissen werden, um Platz für teure neue Wohnungen zu schaffen. Eine Hammarby-Seestadt, die nicht nach Norrtälje passe, meinten die Kritiker, auch wenn sie zufrieden waren, dass das größte Silo stehen bleiben sollte.
Jimmy Mårtensson war froh über die Arbeit bei der großen Baufirma, die den Hauptteil der Nutzbarmachung übernehmen sollte, auch wenn er über die Entwicklung an sich nicht besonders erfreut war. Ihm gefiel der Hafen, so wie er war. Er mochte das etwas Verwahrloste und Heruntergekommene, die Schuppen, das Gerümpel, die Frachtschiffe, die kamen und gingen. Aber Arbeit ist Arbeit, dachte er, als er Schritte näherkommen hörte.
»Hallo, Jimmy. Ich habe mir gedacht, dass ich dich hier treffen würde.«
Malin Skogh schielte zu Jimmy hin und sah die Reaktion in seinem Gesicht. Das Lächeln verwandelte sich in einen »Du-Ärmste-Blick«.
Alle wissen es, dachte sie. Alle in dieser kleinen Stadt wissen es. Malin hob den Kopf und blickte Jimmy in die Augen.
»Ich brauche deine Hilfe, Jimmy. Du arbeitest hier unten und kennst andere Leute, die hier herumlaufen. Ich wollte fragen, ob du irgendetwas gehört hast. Ob jemand etwas gesagt hat über das, was passiert ist. Du weißt schon, als Lars Gustavsson getötet wurde.«
»Ich weiß, dass Robert unschuldig ist«, fuhr sie fort, hielt jedoch inne, als sie Jimmys Blick sah.
»Ich weiß, was du denkst. Dass ich das nur sage, weil ich seine Schwester bin und so weiter. Aber das stimmt nicht. Du kennst Robert, er würde nie jemandem etwas antun. Du musst mir helfen. Bitte, Jimmy, wir waren doch immer gute Freunde.«
Sie hatte recht. Sie kannten einander seit der Kindergartenzeit. In der achten Klasse waren sie sogar kurz miteinander gegangen, danach waren sie Freunde geblieben. Jetzt sahen sie sich nicht mehr so häufig; er war eine Zeitlang nicht in Norrtälje gewesen, aber sicher mochte er Malin. Die aufrechte Malin, die versucht hatte, Macke Melander zu verprügeln, als dieser Tobias Olsson mobbte. Das war nicht besonders gut ausgegangen, aber es war mutig gewesen.
»Malin, man weiß nie, was ein anderer zu tun imstande ist. Denk daran. Aber natürlich kann ich mich ein wenig umhören. Deinetwegen.«
Malin bedankte sich bei Jimmy und setzte ihren Weg am Kai entlang fort. Die Absperrungen waren verschwunden, doch die Blutflecken waren immer noch sichtbar. Als sie sich davor hinhockte, fühlte sie, wie ihr Puls in die Höhe ging. Hier also ist es passiert, dachte sie, aber was ist hier eigentlich noch zu finden? Sie blickte auf die Bucht von Norrtälje hinaus, wo sich ein Frachtschiff näherte. Dort draußen muss ich suchen, dachte sie. Ich muss herausfinden, welche Schiffe in dieser Nacht dort lagen.
Eine halbe Stunde zuvor hatte Elias Mellberg seinen Feldstecher herausgeholt und sich um den Hals gehängt.
Er war vor kurzem zehn Jahre alt geworden und hatte den Feldstecher geschenkt bekommen. Er eignete sich ausgezeichnet für seine Untersuchungen. Elias liebte Kriminalgeschichten und hatte alle Lasse-Maja-Bücher gelesen. Er sammelte Spuren und Beweise in einem Schuhkarton, in dem er mehrere unleserliche Quittungen, einen verdächtigen Briefumschlag, drei geheime Schnüre und einige Knochenstücke, die eindeutig dubios waren, aufbewahrte.
Er setzte seine Sportmütze auf und schlich sich von der Gransättersgatan hinunter zum Hafen. Er hatte gehört, dass dort jemand umgebracht worden war, seine Mutter wollte jedoch nichts Näheres darüber sagen. Jetzt hatte er vor, die Sache auf eigene Faust zu untersuchen, irgendwo musste es Anhaltspunkte geben.
Vorsichtig schlich er sich an der Pizzeria vorbei, duckte sich hinter ein Auto und schlüpfte durch ein angelehntes Gartentor. Plötzlich hörte er Stimmen und verkroch sich hinter einem struppigen Gebüsch. Als er versuchte, weiter zu kriechen, hörte er, wie es unter seinem Fuß knirschte.
Ein Beweis, dachte er, als er den kleinen bräunlichen Karton bemerkte, auf den er getreten war. Ein richtiges Beweisstück. Cool.
Es stand etwas auf der Schachtel, aber die Buchstaben waren seltsam. Wie in Griechenland, dachte er, ehe er den Verschluss auffingerte. Drinnen lag etwas, was aussah, als ob es zu einem Computer gehörte.
Elias spähte aus dem Gebüsch. Nirgendwo war etwas zu hören oder zu sehen.
Das beste Beweisstück, das ich je gefunden habe, dachte er, als er die Schachtel in die Tasche seiner Kapuzenjacke steckte und sich auf den Heimweg machte.
Er sah weder die junge Frau, die im Hafen hockte, noch bemerkte er, dass ihm ein Mann in einem gesprenkelten T-Shirt folgte.