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Die „Jung­fern­fahrt“ nach Ame­ri­ka

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Die Be­loh­nung für den Er­folg im Ab­stiegs­kampf hat bei Klins­mann einen blei­ben­den Ein­druck hin­ter­las­sen. Er war erst 19 Jah­re alt, als er die zehn­tä­gi­ge Rei­se an­trat, die sein Le­ben ver­än­der­te. Er schmun­zelt über die Iro­nie sei­ner ers­ten Fahrt in die USA, die er seit sei­nem Rück­tritt als Spie­ler 1998 sein Zu­hau­se nennt: Die Be­loh­nung für das Be­ste­hen des Ab­stiegs­kamp­fes in Deutsch­land war eine Rei­se in das ein­zi­ge Land der Welt, das kein Auf­stiegs-Ab­stiegs-Sys­tem kennt. „Also so lern­te ich zum ers­ten Mal die USA ken­nen, we­gen ei­nes Ab­stiegs­kamp­fes“, er­zählt er über die Iro­nie la­chend.

Das Nach­kriegs­deutsch­land war, im Großen und Gan­zen, vol­ler Be­wun­de­rung und An­er­ken­nung für die Ver­ei­nig­ten Staa­ten, ei­nem Land, das nach dem Zwei­ten Welt­krieg sei­nem ehe­ma­li­gen Feind half, schnell wie­der auf die Bei­ne zu kom­men: ab 1948 mit dem Mar­schall­plan und mit 100 Mil­lio­nen CARE-Pa­ke­ten mit Es­sen, die nor­ma­le Ame­ri­ka­ner nor­ma­len Deut­schen im West­teil des Lan­des und an­de­ren Eu­ro­pä­ern schick­ten. Vie­le Nach­kriegs­struk­tu­ren und In­sti­tu­tio­nen in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land fühl­ten sich durch und durch ame­ri­ka­nisch an, weil Ame­ri­ka hier­für oft als Vor­bild diente, an­ge­fan­gen vom fö­de­ra­len Sys­tem über die Bun­des­bank bis hin zur Ver­fas­sung. Als Boll­werk des Wes­tens und in vor­ders­ter Front ge­gen­über den War­schau­er-Pakt-Staa­ten wäh­rend des Kal­ten Krie­ges war die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land die Hei­mat für 250.000 ame­ri­ka­ni­sche Sol­da­ten, die zur Ab­schre­ckung ge­gen jeg­li­che mi­li­tä­ri­sche Be­dro­hung durch den Ost­block in der Bun­des­re­pu­blik sta­tio­niert wa­ren. Ei­ni­ge der Spie­ler mit dop­pel­ter Staats­bür­ger­schaft, die jetzt in Klins­manns Team für die USA spie­len, sind die Kin­der ame­ri­ka­ni­scher Sol­da­ten, die in Deutsch­land sta­tio­niert wa­ren.

Die Men­schen in der Bun­des­re­pu­blik wa­ren auch durch ame­ri­ka­ni­sche Fil­me und Fern­seh­se­ri­en, üb­li­cher­wei­se ins Deut­sche syn­chro­ni­siert, be­reits bes­tens mit dem „Ame­ri­can Way of Life“ ver­traut. Aber in ei­ner Zeit, in der Rei­sen zwi­schen den Kon­ti­nen­ten noch nicht für die Mas­sen er­schwing­lich wa­ren, be­such­ten nur re­la­tiv we­ni­ge Deut­sche die USA. Klins­manns ers­te Rei­se war für den jun­gen Fuß­ball­pro­fi ein ab­so­lu­tes Aha-Er­leb­nis. „Es war Wow“, er­zählt er. „Die Rei­se nach Flo­ri­da er­öff­ne­te mir eine ganz an­de­re Welt, die ich mir nicht ein­mal vor­stel­len konn­te. Wir hat­ten eine fan­tas­ti­sche Zeit dort. Wir wa­ren so fas­zi­niert von Ame­ri­ka. Ich hat­te kei­ne Ah­nung, wie die USA ei­gent­lich wa­ren. Ich hat­te kei­ne Ah­nung, wie Flo­ri­da oder Mi­a­mi wa­ren. Es war Wahn­sinn. In Fort Lau­der­da­le or­ga­ni­sier­te man für uns eine Boots­fahrt auf den Kanä­len, und wir konn­ten nicht glau­ben, was wir sa­hen. Das war nur ein wei­te­res Bei­spiel für die Orte, an die der Fuß­ball dich brin­gen kann. Er öff­net dir die Tü­ren zu Din­gen, von de­nen du dir nie vor­stel­len konn­test, dass du sie ein­mal se­hen wür­dest. Es war al­les so un­glaub­lich.“

Er be­kam auch die Ge­le­gen­heit, einen der Hel­den sei­ner Kind­heit zu tref­fen – den ehe­ma­li­gen deut­schen Top-Stür­mer Gerd Mül­ler. Aber das Tref­fen war ganz und gar nicht so, wie er es sich vor­ge­stellt hat­te. Am Ende sei­ner Kar­rie­re hat­te Mül­ler für drei Sai­sons in der North Ame­ri­can Soc­cer League (NASL) bei den Fort Lau­der­da­le Stri­kers ge­spielt. Jetzt aber hat­te er als Spie­ler schon auf­ge­hört und be­saß ein klei­nes Re­stau­rant in Fort Lau­der­da­le. In Deutsch­land war er eine le­ben­de Fuß­ball­le­gen­de und ei­ner der welt­bes­ten Tor­jä­ger al­ler Zei­ten mit 68 To­ren in 62 Spie­len.

Ge­nannt „der Bom­ber der Na­ti­on“ we­gen sei­ner Re­ak­ti­ons­fä­hig­keit und In­tui­ti­on als Straf­raum­stür­mer par ex­cel­lence, wur­de Mül­ler zum eu­ro­päi­schen Fuß­bal­ler des Jah­res 1970 ge­wählt, nach­dem er bei der Welt­meis­ter­schaft im sel­ben Jahr un­fass­ba­re zehn Tore für Deutsch­land ge­schos­sen hat­te. Er schoss auch bei der WM 1974 vier Tore, ein­schließ­lich des Sie­ges­tref­fers im Fi­na­le ge­gen die Nie­der­lan­de. Mül­ler, der au­ßer­dem für sei­nen Ver­ein Bay­ern Mün­chen in 427 Bun­des­li­ga­spie­len ins­ge­samt 365-mal ge­trof­fen hat­te, war zu­sam­men mit Franz Be­cken­bau­er, dem Nord­iren Ge­or­ge Best von Man­che­s­ter Uni­ted und dem Bra­si­lia­ner Pelé ei­ner der Top-Spie­ler, die in die USA zo­gen, um die im Ent­ste­hen be­grif­fe­ne NASL zu ver­stär­ken.

„Wir spiel­ten dann ir­gend­wann ein Freund­schaftss­piel ge­gen die Fort Lau­der­da­le Stri­kers, weil Gerd Mül­ler dort ge­spielt hat­te“, er­in­nert sich Klins­mann. „Er hat­te zu der Zeit ein Steak­hou­se in Fort Lau­der­da­le. Er war der Stür­mer, zu dem ich in mei­ner Kind­heit im­mer auf­ge­schaut hat­te. Wenn er bei der Welt­meis­ter­schaft 1974 Tore schoss, rann­te ich schrei­end auf un­se­rem klei­nen selbst­ge­bau­ten Fuß­ball­feld in der Nach­bar­schaft he­r­um und spiel­te Gerd Mül­ler. Und dann siehst du ihn in ei­nem Steak­hou­se in Flo­ri­da, wie er deut­sche Tou­ris­ten un­ter­hält? Und du siehst ihn an und denkst: Was tust du da? Du bist Gerd Mül­ler! Es ist ein­fach ir­gend­wie schwie­rig, weil du die­ses Bild im Kopf hast von je­man­dem sehr, sehr Be­son­de­rem und dann siehst du ihn in Fort Lau­der­da­le, und das passt ein­fach nicht zu­sam­men. Gerd Mül­ler? Steak­hou­se in Fort Lau­der­da­le?“

Es war ein ab­schre­cken­des Bei­spiel für Klins­mann, einen Spie­ler zu se­hen, den er einst wie Mil­lio­nen Deut­sche so sehr für sei­ne hel­den­haf­ten Auf­trit­te auf dem Spiel­feld be­wun­dert hat­te, wie er jetzt von der Ver­gan­gen­heit leb­te und im bes­ten Al­ter, mit 39 Jah­ren, sei­nen Na­men als Ge­schich­ten­er­zäh­ler für deut­sche Tou­ris­ten in ei­nem Steak­hou­se ver­wen­de­te. Es war eine Be­geg­nung, die Klins­mann nie­mals ver­ges­sen wür­de und ist ei­ner der Grün­de, warum Klins­mann kein In­ter­es­se dar­an hat, stän­dig über sein ei­ge­nes Le­ben als Spie­ler zu sin­nie­ren. Er will ein­fach nie­mals ein Ge­fan­ge­ner sei­ner Ver­gan­gen­heit wer­den. „Du musst an heu­te und an mor­gen den­ken, nicht dar­an, was du schon ge­tan hast“, sagt er. „Wann im­mer ich auf eine Grup­pe von Leu­ten tref­fe, die mit Sät­zen an­fan­gen wie: Hey, er­in­nerst du dich vor zehn Jah­ren, als ... oder: Weißt du noch vor 15 Jah­ren, als ..., ver­su­che ich so schnell wie mög­lich da weg­zu­kom­men. Es geht nur um das Heu­te und das Mor­gen. Das ist das Fan­tas­ti­sche im Fuß­ball: Es geht im­mer vor­wärts, es gibt im­mer schon wie­der das nächs­te Spiel.“

Klins­mann und ein Team­kol­le­ge aus Stutt­gart hat­ten eine so wun­der­vol­le Zeit in Flo­ri­da, dass sie fast so­fort nach ih­rer Rück­kehr nach Deutsch­land ein zwei­tes Mal, auf ei­ge­ne Faust, in die USA zu­rück­kehr­ten. Sie be­sich­tig­ten New York, Chi­ca­go und Ka­li­for­ni­en. Klins­mann er­in­nert sich, dass er sich auf die­sen ers­ten bei­den Rei­sen als Tee­na­ger so­fort Hals über Kopf in die USA ver­lieb­te. Die Ener­gie, Freund­lich­keit der Men­schen und der Op­ti­mis­mus, der ihm über­all be­geg­ne­te, be­ein­druck­ten ihn sehr. Es war so kom­plett an­ders als al­les, was er von zu Hau­se kann­te.

„Für mich war die Of­fen­heit und die Ener­gie in Ame­ri­ka so toll fas­zi­nie­rend“, er­zählt er. „Es ist so ein rie­si­ges Land und für einen klei­nen Jun­gen aus Deutsch­land ein­fach über­wäl­ti­gend. Ich be­kam die Ex­tre­me im Land zu se­hen, die ne­ga­ti­ven, aber auch die un­be­schreib­lich schö­nen. Was ich an Ame­ri­ka im­mer so toll fin­de, ist ein­fach die­ses Ge­fühl, dass al­les mög­lich ist.“

Klins­mann lern­te auf die­sen Rei­sen viel über sich selbst, dar­un­ter zu­al­ler­erst, dass er sein Eng­lisch zum größ­ten Teil ver­ges­sen hat­te, ob­wohl er es jah­re­lang in der Schu­le ge­lernt hat­te. Die Frus­tra­ti­on dar­über, sich in den USA nicht rich­tig aus­drücken zu kön­nen, mo­ti­vier­te ihn in sei­nem tiefs­ten In­ne­ren, sich mehr an­zu­stren­gen, Eng­lisch, und Spra­chen im All­ge­mei­nen, rich­tig zu ler­nen.

„Un­ser Eng­lisch war fürch­ter­lich“, er­zählt er. „Es war mir pein­lich, dass ich das gan­ze Eng­lisch, das ich ver­meint­lich ge­lernt hat­te, ver­ges­sen hat­te. Aber das war gut so, weil es mir so viel An­trieb gab, die Spra­che zu ler­nen. Da­nach stu­dier­te ich mei­ne Eng­lisch­bü­cher und al­les, was ich in die Hän­de be­kam.“

1982, kurz nach­dem Klins­mann im Al­ter von 18 Jah­ren sei­ne Bäcker­leh­re be­en­det hat­te, zog er aus dem Haus sei­ner El­tern über der Bä­cke­rei aus in eine ei­ge­ne Woh­nung, zu­rück in das ru­hi­ge, länd­li­che Geis­lin­gen.

Der Ge­sel­len­brief war für Klins­mann ein wich­ti­ger Mei­len­stein, eine Art In­itia­ti­ons­ri­tus. Der Bäcker­meis­ter Sieg­fried Klins­mann war bei sei­nem Sohn Jür­gen zu Recht stolz dar­auf, als die­ser sei­nen Ge­sel­len­brief in den Hän­den hielt, ge­nau­so wie Jür­gen selbst. „Ich habe ge­lernt, wie man backt, und mein Di­plom hängt in der Bä­cke­rei“, er­zählt er.

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