Читать книгу Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen - Erik Kirschbaum - Страница 11
Teil II
Deutschland, Italien, Monaco und England Der Durchbruch in der Bundesliega
ОглавлениеKlinsmann gelang 1984 ein weiterer großer Schritt nach oben auf der Fußballpyramide, indem er nach sechs Jahren bei den Kickers die Mannschaft wechselte und zum innerstädtischen Rivalen VfB Stuttgart ging. Damit war er endlich in der Bundesliga angekommen. Die 1. Bundesliga zählte bereits in den 80er-Jahren zu den vier besten Ligen der Welt, wenngleich die Qualität und Gehaltsunterschiede zwischen der Bundesliga und den überlegenen Ligen in Italien, England und Spanien immer noch groß waren.
Die Bundesliga wurde als Profiliga erst 1963 gegründet, 89 Jahre nach Gründung des ersten Fußballvereins im Jahre 1874 in Dresden, den einige englische Arbeiter ins Leben gerufen hatten und der den einfachen Namen „Dresden English Football Club“ trug. Die Bundesliga wurde 1963 inmitten einer Krise gegründet, der jahrelange Diskussionen und Widerstand von Seiten der Regionalligen vorausgegangen waren. Die Regionalligen wehrten sich dagegen, ihre Macht und ihren Status von einer einzigen zentralisierten Profiliga geschmälert zu sehen.
Vor 1963 wurde Fußball in Deutschland auf semiprofessionellem Niveau und im Amateurbereich gespielt, mit einer Reihe von regionalen Ligen. Die Meisterschaft wurde über ein K.-o.- System bestimmt. Der DFB war auch lange gegen eine einzelne zentral gesteuerte Profiliga, da man befürchtete, dass der Einfluss von Geld und Kommerzialisierung dem Spiel die Unschuld nehmen würde. Das Fehlen einer professionellen Liga hatte die Entwicklung des Fußballs in der Bundesrepublik im Vergleich zu anderen Ländern eindeutig ins Hintertreffen gebracht. Auch die Nationalmannschaft litt zusehends darunter, und sie konnte bei den Weltmeisterschaften 1958 und 1962 nicht im Ansatz an den Erfolg von 1954 anknüpfen. Der internationale Fußball hatte sich seit 1954 weiterentwickelt, aber in der Bundesrepublik schien er stehen geblieben zu sein.
Erst eine Krise führte aus der Sackgasse heraus. Das Problem wurde nämlich unübersehbar, als die deutsche Nationalmannschaft bei der WM 1962 in Chile durch ein demütigendes 0:1 beim Viertelfinale gegen Jugoslawien aus dem Turnier ausschied. Aus deutscher Sicht war dieses Ergebnis völlig inakzeptabel, nachdem die Erwartungen nach dem Triumph von 1954 enorm gestiegen waren. Mit typisch deutschem Pragmatismus nutzten einige die Niederlage als Chance, um die längst überfälligen Reformen durchzusetzen, wie zum Beispiel die Gründung der Bundesliga. Der DFB und Sepp Herberger, der damalige Nationaltrainer, waren zuvor gegen eine deutsche Profiliga. Nach der enttäuschenden Niederlage bei der WM 1962 erkannten sie, dass die Ehre der Nation auf dem Spiel stand und dass eine Profiliga notwendig war, um auf internationaler Ebene wettbewerbsfähig zu bleiben. Vier Jahre später, 1966, nachdem die Bundesliga etabliert worden war, schlug sich die deutsche Mannschaft bei der WM in London wieder deutlich besser: Sie erreichten das Finale, verloren allerdings mit dem umstrittenen 4:2 in der Nachspielzeit gegen Gastgeber England. Dies geschah an Klinsmanns zweitem Geburtstag.
Die Bundesliga gilt inzwischen als eine der drei Top-Ligen der Welt neben Englands Premier League und Spaniens Primera División. Amerikas Major League Soccer wird im Allgemeinen nicht einmal unter den 15 weltbesten Teams eingeordnet. Die Bundesligamannschaften hatten in der Saison 2014/15 Zuschauerzahlen von durchschnittlich 43.500 und damit mehr als alle anderen Fußball-Ligen der Welt, vor der an zweiter Stelle stehenden Premier League mit 36.695 Zuschauern pro Spiel. Die einzige andere Profiliga, die mehr Zuschauer aufweisen kann als die Bundesliga, ist die NFL in den USA mit einer durchschnittlichen Zuschauerzahl von 68.776 in der Saison 2014/15
Der Wechsel in die Bundesliga war für Klinsmann ein Riesensprung. Aus persönlicher Sicht war es jedoch auch etwas unangenehm für ihn, da er zuvor geschworen hatte, niemals für die reichen Lokalrivalen zu spielen. Im westlichen Teil von Stuttgart, aus dem Klinsmanns kam, betrachtete man den VfB mit an Verachtung grenzender kritischer Distanz. Schließlich hatte er die vergangenen sechs Jahre bei den Kickers verbracht und fühlte sich den „Blauen“ und ihren Fans tief verbunden. Der Transfer von den „Blauen“, der Mannschaft, die er liebte zu den „Roten“, die er so lange abgelehnt hatte, war für Klinsmann dadurch sehr emotional und nicht leicht. Diese intensiven „Lokalderbys“ spielen eine wichtige Rolle, auch wenn es für Außenstehende manchmal schwer nachvollziehbar ist, auf welche Weise sich zwei konkurrierende Mannschaften aus derselben Stadt oder Region wie Erzfeinde gegenübertreten.
Der Präsident der Kickers, der großzügige und großherzige Industrielle Axel Dünnwald-Metzler, der die Mannschaft ein Jahr zuvor nach Florida eingeladen hatte, musste Klinsmann geradezu überreden, das Angebot vom VfB Stuttgart anzunehmen. Der VfB Stuttgart war gerade deutscher Meister geworden und war bereit, die damals stolze Transfersumme von 700.000 DM für den talentierten jungen Stürmer zu zahlen. Dünnwald-Metzler musste Klinsmann von seinem früheren Versprechen „niemals“ zum VfB zu wechseln befreien. Für Dünnwald-Metzler ging es dabei in seinen Überlegungen in erster Linie nicht um die Transfersumme. Es war offensichtlich, dass Klinsmann für den Sprung in die Bundesliga mehr als bereit war. Er hatte erkannt, dass Klinsmann einfach zu gut geworden war, um in der 2. Bundesliga zu bleiben. Dünnwald-Metzler wollte auch, dass dieser energiegeladene Spieler, der dabei war, sich rasch zu einem der besten jungen Stürmer des Landes zu entwickeln, wenigstens weiter in Stuttgart spielen würde, wo er dank seiner vielen Tore, seines Kampfgeistes und seiner Arbeitseinstellung bereits eine Fangemeinde hatte. Klinsmann empfand für Dünnwald-Metzler nach sechs Jahren bei den Kickers ebenfalls großen Respekt. „Er war immer auch an deiner Entwicklung als Mensch interessiert, nicht nur als Spieler“, erinnert sich Klinsmann.
Es war in jedem Fall ein stolzer Augenblick für Klinsmann, als er 1984 im Alter von 20 Jahren zum VfB Stuttgart kam. Von der D-Jugend beim TB Gingen bis hierher war es ein langer und aufregender Weg gewesen. In der Bundesliga war er in der Saison 1984/85 einer von 379 Profispielern. Zur Erinnerung, es gab in der bundesdeutschen Fußballpyramide insgesamt etwa drei Millionen Spieler mit weniger als 400 an der Spitze in der Bundesliga. Von Klinsmanns Start in der D-Jugend bis nach oben lässt sich gedanklich eine gerade Linie direkt bis zur Spitze ziehen – als einer von 10.000, der diesen Weg geschafft hat. Die Etablierung eines derart klaren Modells, wie es in Europa üblich ist, ist eines von Klinsmanns Zielen für den Fußball in den USA.
Als jemand, der sich auch als Teenager schon viele Gedanken machte und immer überlegte, wie er Dinge besser machen könnte, war Klinsmann fest entschlossen, das Bestmögliche aus seiner Chance in der 1. Bundesliga herauszuholen. In den Monaten vor dem Wechsel in die höchste Liga war er keinesfalls träge oder selbstgefällig. Er wollte in der Bundesliga sofort einen guten Start hinlegen; auch unter dem Aspekt, dass dies vielleicht seine einzige Chance sein würde. Er war daher zu dem Schluss gekommen, dass es eventuell ein kleiner aber wichtiger Vorteil wäre, wenn er am ersten Tag des Saisonvorbereitungstrainings in einem Top-Trainingszustand erschiene. Bevor also die Saisonvorbereitung des VfB überhaupt offiziell begann, trainierte er während der Sommerpause für sich selbst besonders intensiv. „Ich wollte mit einem konditionellen Vorsprung zum ersten Training kommen“, erzählt er Roland Eitel.
Seine Entschlossenheit, das Bestmögliche aus sich und seinen Fähigkeiten herauszuholen und jede Gelegenheit zu nutzen, seine Erfolgschancen zu verbessern, zeigt sich auch sehr schön an dem Beispiel, dass Klinsmann vor seiner ersten Bundesligasaison sogar mit einem eigenen Sprintcoach arbeitete. Er wollte unbedingt seine Schnelligkeit verbessern, selbst wenn er nur den winzigen, vielleicht ausschlaggebenden Bruchteil einer Sekunde gewinnen würde. Dieses Extra-Sprinttraining war letztendlich nicht nur hilfreich für Klinsmann als Spieler, sondern mehr noch, Jahre später, für Klinsmann als Trainer, da es ihm die Augen für das Potenzial öffnete, das sich durch ein spezialisiertes Training ausschöpfen ließ.
Schnelligkeit ist besonders für einen Stürmer sehr wichtig und Klinsmann dachte, dass er schon recht schnell sei, um in Kombination mit seinem immer besser werdenden Instinkt zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle vor dem Tor zu sein. Aber bevor er sein Debüt in der Bundesliga beim VfB hatte, gab sein älterer Bruder ihm ungefragt einen Ratschlag, den Klinsmann zunächst mit wenig Begeisterung entgegennahm. Horst Klinsmann, Zehnkämpfer im örtlichen Sportverein, war aufgefallen, dass Jürgens Schnelligkeit gegen Ende der Spiele abzunehmen schien. „Als mein älterer Bruder mich spielen sah und ihm auffiel, dass ich nach einer Stunde müde wurde, sagte er mir eines Tages einfach: Weißt du, Jürgen, du hast keine Kraft im Oberkörper, und du verlierst gegen Ende des Spiels viel an Schnelligkeit, weil du müde wirst und deine Koordination beim Laufen schlechter wird. Du musst dein Laufen wirklich verbessern, weil du zwar Grundschnelligkeit hast, aber sie auf dem Platz nicht voll ausnutzen kannst.“, erinnert sich Klinsmann. „Und ich dachte: Wovon redet er? Aber er hatte recht. In jedem Spiel fing die gegnerische Mannschaft nach etwa einer Stunde an, mich herumzuschubsen, und ich verlor an Koordination. So begann ich zweimal die Woche zusätzlich mit diesem Coach zu trainieren.“
Der Lauftrainer seines Bruders, Horst Allmann, hielt zunächst fest, dass Klinsmann die Hundertmeterstrecke in 12,0 Sekunden lief. Anschließend arbeiteten sie daran, seine Technik und Kraft zu verbessern. Dies alles geschah heimlich, weil seine Fußballtrainer davon nicht begeistert wären. Klinsmann ließ sich von Allmann am Anfang eine Stoppuhr geben und arbeitete sowohl alleine als auch ergänzend zu den Trainingseinheiten beim VfB an seinen Sprints. Und ein Jahr später lief Klinsmann die gleichen 100 Meter in 11,0 Sekunden, eine ganze Sekunde schneller. „Wir haben die Zeiten genau gemessen, weil wir sichergehen wollten. Ich wollte wissen, ob es einen Unterschied machen würde“, erzählt Klinsmann „Ich begann mit einem Sprinttrainer zu arbeiten, um stärker und schneller zu werden. Aber meine (Fußball-)Trainer wollten es nicht. Also musste ich es machen, ohne dass sie davon wussten. Es half mir tatsächlich, sehr viel schneller zu werden. Ich bekam mehr Kraft in den Oberarmen und wurde gegen Ende des Spiels nicht mehr so viel herumgeschubst. Ich hatte am Ende mehr Kraft, und weil ich mit meiner Energie wesentlich effizienter umgehen konnte, hielt ich die 90 Minuten gut durch. Im Fußball passieren die meisten Dinge in den letzten zwanzig Minuten des Spiels. Also fing ich an, die Leute am Ende des Spieles in Grund und Boden zu rennen. Ich konnte sehen, wenn sie nach 70 Minuten müde wurden und ich sagte dann zu mir: Jetzt mache ich euch fertig.“
Es war für Klinsmann eine extrem wertvolle Erkenntnis, die bleibende Wirkung zeigte. Es ging nicht nur darum, schneller zu werden, sondern auch darum, Hilfe von einem spezialisierten Personaltrainer zu bekommen, lange bevor irgendjemand in der Bundesrepublik von diesem Konzept gehört hatte, und darum, einen kleinen aber wichtigen Teil des Spiels zu verbessern. Seine Philosophie ist es, dass diese schrittweisen Verbesserungen an irgendeinem Punkt entlang des Weges einen bedeutenden Effekt haben können, dass sie den Unterschied ausmachen können zwischen ein oder zwei Toren mehr pro Jahr und ein paar mehr gewonnenen oder verlorenen Spielen pro Jahr. Außerdem bestätigte es seine Theorie, dass jeder Spieler durch harte Arbeit und selektives Training von Verbesserungen in seinem Spiel oder seiner Fitness zu profitieren vermag, unabhängig davon, ob diese Verbesserungen groß oder klein sind. „Es war eine großartige Lehre, dass du hartnäckig sein musst“, sagt er. „Du musst dich durch Sachen durchbeißen, weiter daran arbeiten und bloß nicht aufgeben, nur weil die Dinge sich im Moment nicht in deinem Sinne entwickeln. In den USA gibt es diese Kultur, nach der viele Leute erwarten, dass sie sofort für ihre Anstrengung belohnt werden. Unglücklicherweise gibt es diese Einstellung in einigen Ländern, nach der die Leute erwarten, sofort belohnt zu werden. Manchmal braucht es aber Zeit. Und wenn du diese ganze Extraarbeit auf dich nimmst, wird es sich auf Dauer auszahlen.“
Er sagt, es sei frustrierend, dass einige seiner ehemaligen Mitspieler nicht immer in der Lage waren, das Beste aus ihrem Talent zu machen. Ebenso verwundert ihn eine schleichende Selbstgefälligkeit, die manchmal das Größerwerden junger Spieler in den USA und anderswo verhindert, wenn sie ein bestimmtes Leistungsniveau erreicht haben. Was ist aus dem Antrieb geworden, der sie zunächst überhaupt so weit gebracht hat? Wo ist der Hunger geblieben, die nächste Stufe erreichen zu wollen?
Was das Spiel in den USA braucht, sind Spieler, die ständig nach vorne drängen, auch nachdem sie einen gewissen Erfolg erlangt haben. Was ist bei der, wie Klinsmann sie manchmal nennt, „Facebook-Twitter-Instagram“-Generation aus dem Killerinstinkt geworden? „Das ist für mich manchmal schwer zu verstehen“, sagt er. „Wenn du Spielern sagst, was sie besser machen können oder woran sie arbeiten sollen, antworten sie, dass sie verstünden. Man hofft dann, dass sie dagegen oder dafür etwas tun, aber viele tun das nicht. Wenn man sagt: Du musst beweglicher sein oder: Du brauchst mehr Stabilität oder: Du brauchst mehr Schnelligkeit oder: Du brauchst mehr Eins-zu-Eins-Training oder was auch immer bei der Analyse herauskommt, und es macht nicht wirklich ‚Klick‘. Manche Spieler entwickeln nicht diesen Antrieb zu sagen: Okay, ich verstehe, dass es das ist, woran ich arbeiten muss, also gehe ich jetzt jeden Tag nach oder vor dem Training hin und arbeite daran.“ Klinsmann betont, dass es auch in der „Face-book-Twitter-Instagram“-Generation Spieler gibt, deren innerer Antrieb niemals zu brennen aufhört. „Deswegen ist Cristiano Ronaldo, wer er ist und deswegen ist Lionel Messi, wer er ist. Sie gehen raus und üben auch nach dem Training noch eine halbe Stunde Freistöße oder sie arbeiten an diesem oder jenem nach dem Training. Sie hören nie auf zu arbeiten.“
Die eigenen Schwächen, schwindende Schnelligkeit am Ende des Spiels zu identifizieren und einen eigenen Weg zu finden, sich zu verbessern mit einem ganzen Jahr Arbeit, war eine erleuchtende Entdeckung für Klinsmann. Die Lektion, die er hierbei gelernt hat, machte ihn nicht nur ein paar Schritte schneller, sondern lehrte ihn, immer offen dafür zu sein, was er besser machen könnte – auf dem Spielfeld und außerhalb. Diesen inneren Antrieb sich zu verbessern, auch nachdem man ein bestimmtes Erfolgsniveau erreicht hat, ist ein Gebiet, auf dem viele Spieler noch Luft nach oben haben, besonders in den Vereinigten Staaten.