Читать книгу Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen - Erik Kirschbaum - Страница 6
Der Anfang: die deutsche Einstellung
ОглавлениеDie modernen Fußballregeln wurden 1863 zunächst in England standardisiert. Aber in der Folgezeit wurde der Fußballsport untrennbar mit der deutschen Geschichte verwoben. Man könnte sogar behaupten, dass er der deutschen Nation seit 1954 einen neuen Lebenssinn gegeben hat, nämlich in dem Jahr, in dem die Außenseiter aus der Bundesrepublik Deutschland allen Einschätzungen zum Trotz die Weltmeisterschaft gewannen. Mit insgesamt vier WM-Titeln 1954, 1974, 1990 und 2014 sowie dem zehnmaligen Erreichen des Halbfinales bei den letzten 13 Weltmeisterschaften zählt Deutschland zur weltweit erfolgreichsten Fußballnation der letzten 60 Jahre. Das Spiel mag in England erfunden worden sein, aber perfektioniert wurde es in Deutschland. Warum? Warum ist Deutschland so erfolgreich?
Zunächst ist die Anzahl der Deutschen, die Fußball spielen, im internationalen Vergleich erstaunlich hoch. Es gibt weltweit keine andere Fußballorganisation oder eine andere Sportorganisation mit so vielen Mitgliedern wie dem deutschen Fußballbund. Wie schon beschrieben, hatte der DFB 2015 6.822.233 Mitglieder, die in 165.229 Mannschaften spielten. Im Jahr 1900 gegründet, bedeutet der DFB das Rückgrat des Spiels in Deutschland, dem mit 82 Millionen Menschen einwohnerreichsten Land Westeuropas. Ein wichtiger Grund, dass Fußball ein so hohes Ansehen in Deutschland genießt, ist eindeutig die Weltmeisterschaft von 1954 und der Einfluss, den sie auf die wiederauferstandene deutsche Nation hatte. Das Turnier wurde erstmals 1930 in Uruguay als separater Wettkampf ausgetragen. Davor war es seit 1900 Teil der Olympischen Spiele. Bei den Spielen von 1932 in Los Angeles stand es allerdings, welch Überraschung, nicht auf dem Plan, da es in den USA als nicht beliebt genug angesehen war.
Bei der Weltmeisterschaft 1934 wurde Deutschland Dritter; 1938 schieden sie in der ersten Runde aus. Die Weltmeisterschaften 1942 und 1946 fielen wegen des Zweiten Weltkrieges aus. 1945 wurde Deutschland geteilt und von den Siegermächten USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion besetzt. Von der Weltmeisterschaft 1950 in Brasilien wurde Deutschland ausgeschlossen. Als sie 1954 wieder eingeladen wurde teilzunehmen, galt die zusammengestückelte bundesdeutsche Mannschaft bei dem Turnier in der Schweiz als ungesetzter sicherer Verlierer. Umso größer war die Überraschung, als das Team in Bern bis zum Finale kam. Die deutsche Mannschaft hatte bei ihrem zweiten Spiel des Turniers schon einmal 3:8 gegen die Ungarn, die amtierenden Olympiasieger, verloren. Ungarns „Goldene Elf“ („Aranycsapat“ auf Ungarisch) hatte auf dem Weg ins Finale gegen Deutschland seit 32 Spielen während der letzten zwei Jahre eine beeindruckende Siegessträhne.
Das Spiel wurde am regnerischen Nachmittag des 4. Juli 1954 auf einem durchgeweichten Spielfeld im Wankdorf-Stadion durchgeführt. In der Bundesrepublik gab es zu der Zeit nur 4.000 Fernsehgeräte, aber Millionen verfolgten das Spiel im Radio und die Straßen waren wie leergefegt. Die Menschen in Deutschland hockten dichtgedrängt in Kneipen oder in den Häusern der Leute, die ein Radio besaßen und lauschten, als die deutsche Mannschaft nach den ersten acht Minuten schon 2:0 zurücklag, bevor sie tapfer zurückschlug, den Ausgleich zum 2:2 erreichte und schließlich dank eines späten Tors von Helmut Rahn mit 3:2 siegte. Die Deutschen waren wie in Trance, als der Radioreporter Herbert Zimmermann die unsterblichen Worte brüllte: „Aus, aus, aus, das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“
Zimmermanns emotionale Berichterstattung treibt manch einem Deutschen, der alt genug ist und das Spiel damals live verfolgt hat, immer noch Tränen in die Augen und auch die jüngeren, nach 1954 geborenen Deutschen bekommen eine Gänsehaut. Dieser völlig unerwartete Weltmeistertitel gab der Bundesrepublik von damals 52 Millionen Menschen eine neue Lebenszuversicht und einen Grund, ihren Kopf wieder aufrecht zu tragen. Der Zweite Weltkrieg war erst seit neun Jahren zu Ende und dieser Sieg im Fußball half, die internationale Isolierung zu überwinden, die viele Deutsche nach dem Krieg erlebt hatten. Dieser unerwartete Triumph bei dem Turnier, an dem 16 Mannschaften teilnahmen, wurde in der Bundesrepublik als das „Wunder von Bern“ bekannt. Es gab dem gebrochenen, zerbombten, vom Krieg erniedrigten und entehrten Land eine neue Identität –„Fußballweltmeister“. Besonders für die jüngere Generation, wie für Klinsmanns damals 21-jährigen Vater, bedeutete der Gewinn der Weltmeisterschaft einen Wendepunkt in der Geschichte ihres Landes. „Wir sind wieder wer“, war das Gefühl, das die Deutschen empfanden und aussprachen. „Mein Vater sprach viel über 1954 und wie viel der Weltmeisterschaftssieg damals bedeutete“, erzählt Klinsmann, der als Trainer im Jahr 2004 sicherging, dass auch die jüngeren Spieler in der Mannschaft alles über den Zauber von 1954 wussten, indem er CDs mit den Höhepunkten des Spiels von Bern verteilte. „Das Land machte damals nach dem Krieg eine schwierige Zeit durch, und Fußball gab den Leuten Hoffnung und etwas, an das sie wieder glauben konnten.“
Einige Historiker haben den Gewinn der Weltmeisterschaft als den Augenblick bezeichnet, in dem die Nation wiedergeboren wurde. Dieses Ereignis durfte in mancher Hinsicht wichtiger gewesen sein als die neue Verfassung und die Wahl des ersten Nachkriegsparlamentes 1949. Es war vielleicht sogar bedeutsamer als Zündung für das „Wirtschaftswunder“ als die Währungsreform 1948, bei der die Deutsche Mark die Reichsmark ersetzte und sogar wichtiger als die „Stunde Null“, als der Krieg in dem besiegten Land im Mai 1945 vorüber war. Der Gewinn der Weltmeisterschaft 1954 war ein Augenblick des unbeschreiblichen Stolzes für die junge Bundesrepublik Deutschland. Es war ein unverhoffter Sieg, der in der Tat half, Deutschlands legendäres ökonomisches Wunder, das „Wirtschaftswunder“, in Gang zu bringen. Es führte zu einer Phase des schnellen wirtschaftlichen Wachstums und Wohlstands, durch welche das Land aus der Nachkriegsrezession herausgelangte. Deutschlands Wirtschaft bewegte sich auf einem atemberaubenden Expansionskurs. Am Ende des Jahrzehnts gehörte es zu den führenden Industrienationen der Welt.
Angefeuert von der Phase der intensiven Glücksgefühle, die der Weltmeisterschaft folgten, stieg das Bruttoinlandsprodukt der Bundesrepublik 1954 um 10,5 %. Dies war der höchste jährliche Anstieg des Bruttoinlandsproduktes, das jemals in Deutschland verzeichnet wurde. Die Gehälter stiegen 1955 auf der Welle der Euphorie des Weltmeisterschaftstitels ebenfalls um 10 % und die Zahl der Autos auf den Straßen erhöhte sich um 19 %. Dieser rasante Anstieg führte zu einem in Deutschland bis dahin unbekannten Problem des 20. Jahrhunderts: Auf den ursprünglich zu Kriegszwecken gut ausgebauten deutschen Autobahnen entstanden die ersten Staus. Das Wort Wirtschaftswunder wurde 1955 geprägt, um den kraftvollen Aufstieg zu beschreiben, der die Bundesrepublik auf den Weg brachte, bis 1960 die drittgrößte Wirtschaftsmacht nach den USA und Japan zu werden. Bis 1960 war die Industrieproduktion zweieinhalb Mal so hoch wie 1950 und die Arbeitslosenquote war innerhalb jener Zeit von 10,2 % auf ein Nachkriegsrekordtief von 1,2 % gesunken. In den Monaten nach den Weltmeisterschaftssiegen von 1990 und 2014 sowie der starken Drittplatzierung 2006 wurden ähnliche Anstiege im wirtschaftlichen Wachstum verzeichnet. Volkswirtschaftler schrieben diesen Anstieg des Konsumverhaltens den „positiven Gefühlen“ zu und dem irrationalen Eindruck der Konsumenten, dass sie in den Monaten nach diesen Fußballerfolgen mehr verfügbares Einkommen besäßen. Die Deutschen feierten den Sieg als einen hellen, leuchtenden Moment in der jungen Geschichte der Bundesrepublik. Es war der so dringend nötige Balsam zur Überwindung der Nachkriegsdepression und gab den Deutschen Anlass zur Hoffnung und ein neues Selbstwertgefühl. Der positive Effekt, den dieser Weltmeisterschaftssieg auf die Moral der Nation hatte, kann kaum überbewertet werden.
Als Spiegel der Gefühle für die siegreiche Fußballmannschaft standen Zehntausende jubelnd an den Bahnstationen entlang der Reiseroute aus der Schweiz und etwa 500.000 Menschen drängten sich am Münchner Hauptbahnhof, um die Spieler zu Hause zu begrüßen. (Zum Vergleich: Die Stadt München hatte damals eine Einwohnerzahl von 800.000.) Der historische Weltmeisterschaftssieg gab dem Land eine neue Identität und verwandelte die Spieler in Legenden. Selbst nach ihrem Tod werden viele Spieler aus Sepp Herbergers Mannschaft, einschließlich ihres Kapitäns Fritz Walter, immer noch wie ein Mythos verehrt.
Viele Deutsche, die alt genug sind, haben starke Erinnerungen an das Spiel von 1954. Viele können sogar immer noch liebevoll die Namen der Spieler aus der Startelf herunterrattern. In einem Land, in dem die Helden – teils aufgrund seiner kriegerischen Vergangenheit im 20. Jahrhundert – äußerst rar sind, können viele Deutsche detailliert beschreiben, wie der unbezähmbare Helmut Rahn, der Deutschlands erstes und zweites Tor vorbereitet hatte, in der 84. Minute das dramatische Tor zum Turniersieg schoss. Sie können es beschreiben, obwohl sie das Spiel nur im Radio gehört haben und erst Jahre später erstmals Gelegenheit hatten, Rahns flinke Aktion, mit der er drei ungarische Verteidiger ausspielte, in einer grobkörnigen, selbstgefilmten Schwarzweiß-Heimkinovorführung zu sehen. Rahn hatte sich auf den freien Ball außerhalb des Strafraums gestürzt und verwandelte ihn mit dem linken Fuß in einen langen Schuss, der in der unteren linken Torecke landete. „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt – Tor! Tor! Tor! Tor!“, hatte Radioreporter Zimmermann geschrien.
Fußball war demnach bereits ein Jahrzehnt vor Klinsmanns Geburt mit dem ersten Weltmeisterschaftserfolg etwas Besonderes und mehr als nur irgendeine Sportart in Deutschland. Ein Jahrzehnt nach Klinsmanns Geburt, im Jahr 1974, gewann Deutschland seinen zweiten WM-Titel, nur drei Wochen vor Klinsmanns zehntem Geburtstag. Der dritte WM-Titel folgte 1990 mit dem 25-jährigen Klinsmann als eine der Schlüsselfiguren der Nationalmannschaft. Seinen vierten Stern gewann Deutschland 2014 mit einer Mannschaft, die Klinsmann in seiner Funktion als Nationaltrainer von 2004–2006 mitgeformt hatte.