Читать книгу Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen - Erik Kirschbaum - Страница 7
Der Aufstieg
ОглавлениеKlinsmanns ungeheure Torjägerfähigkeiten als Jugendlicher blieben 20 Jahre nach der Weltmeisterschaft von 1954 nicht lange unbemerkt, ganz besonders in einem Land mit zahlreichen Sportjournalisten und Talentscouts, deren Hauptaugenmerk auf dem Fußballsport lag.
Es gibt in Deutschland hunderte von Tageszeitungen und dutzende Sportzeitungen und Magazine. Bei so viel Medienpräsenz und einem großen Netzwerk an ehrenamtlichen und professionellen Talentscouts ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass ein vielversprechendes, leuchtendes junges Talent wie Klinsmann lange unentdeckt bleibt. Dieses Netzwerk wurde in den letzten zehn Jahren mit mehr als 50 über ganz Deutschland verteilten DFB-Leistungszentren, in denen talentierte junge Spieler gesichtet, betreut und trainiert werden und die der Trainerausbildung dienen, noch weiter ausgebaut.
Im Alter von zehn Jahren wurden Klinsmanns Ambitionen bereits deutlich. Im kleinen „Teich“ Gingen wurde er bald der buchstäblich „große Fisch“ und strebte selbst nach neuen Herausforderungen. Ein Nachbar, Werner Gass, der einige Jahre älter als Klinsmann war, trainierte eine Jugendmannschaft, während er gleichzeitig in der Herrenmannschaft eines größeren Vereins spielte, dem SC Geislingen, das etwa 11 Kilometer von Gingen entfernt liegt.
Die Stadt Geislingen war mit einer Einwohnerzahl von etwa 26.000 mehr als sechsmal so groß wie Gingen. Der SC Geislingen war in einem weiten Umkreis als einer der Besten im Bereich der Nachwuchsförderung bekannt. Gass trainierte damals die D-Jugend, die unter Zwölfjährigen des SC Geislingen, während er mit seinen 18 Jahren selbst Spieler in der 1. Herrenmannschaft war, die in der 4. Bundesliga oder Regionalliga spielte. Später spielte er beim VfB Stuttgart.
Entschlossen wie er war, wollte auch Klinsmann nun in einer höheren Liga spielen. Er war bereits selbstbewusst und mutig genug, diesen Schritt zu gehen und die Dinge in die Hand zu nehmen. Dabei zeigte er das gleiche Gespür, den Mut und die Eigeninitiative, die ihn während seiner gesamten Karriere als Spieler und Trainer begleiteten.
„Eines Tages dachte ich, dass es an der Zeit sei, den nächsten Schritt zu machen“, erinnert sich Klinsmann. „Ich wollte für Geislingen spielen. Ich wusste, wo Werner wohnte. Sein Haus war nicht weit von der Bäckerei entfernt. Also ging ich eines Tages einfach rüber, klopfte einfach an seine Tür und sagte: Ich möchte in deiner Mannschaft spielen. Und er antwortete: Ja, klar.“
Klinsmann hatte die eineinhalb Jahre in seinem Heimatclub in Gingen genossen. Aber dadurch, dass er täglich mit den anderen Kindern in der Nachbarschaft trainierte, war er schnell so viel besser als die meisten seiner Altersgenossen geworden, dass Gingen, wo es nur eine Trainingseinheit und ein Spiel pro Woche gab, ihm keine Herausforderung mehr bieten konnte. „Es war so, dass ich oft einen langen Ball von einem Mitspieler bekommen und den Rest alleine gemacht habe, während die anderen oft nur herumgestanden und zugeguckt haben“, erzählt Klinsmann. „Jeder sagte: Der kann hier nicht mehr spielen, der ist einfach zu gut. So kam ich eines Tages nach einem Spiel zu dem Schluss: Ich muss hier raus.“
Seine Bestrebung nach neuen Herausforderungen zeigt, dass Klinsmann schon früh entschlossen war, besser zu werden und die nächste Stufe zu erklimmen, eine Entschlossenheit, die ihn während seiner ganzen Karriere als Spieler und dann auch als Trainer begleitete. Trotz der Entbehrungen und Risiken, die mit dem Verlassen der „Komfortzone“ verbunden waren, war dieser kindliche Ehrgeiz ein Vorbote dessen, was in den Jahren danach folgte. Die D-Jugend in Geislingen trainierte häufiger und intensiver, und die Trainer waren erfahrener und besser ausgebildet. Klinsmann bemerkte den Unterschied sofort. Das Training fand dreimal die Woche statt mit zusätzlich einem Punktspiel am Sonnabend.
Klinsmann war erst zehn Jahre alt und musste sich nun auch überlegen, wie er von Gingen zum Training nach Geislingen kommen könnte. „Die ersten zwei Jahre holte mich Werner zum Training ab und brachte mich wieder nach Hause, oder ich musste die Strecke mit dem Fahrrad fahren.“
Selbst als sich seine Fähigkeiten weiter verbesserten und sein Talent als Stürmer mehr Aufmerksamkeit zu erregen begann, dachte Klinsmann nach wie vor nicht einmal im Traum daran, Profi werden zu können. Er erfreute sich daran, die Fußballpyramide Stufe um Stufe höher hinaufzusteigen und wartete mit Neugier ab, wie weit er in einem Umfeld kommen konnte, das immer kompetitiver wurde. „Mein Ziel als Kind war es, mit der Mannschaft in der Verbandsliga zu spielen. Wenn man das erreicht hat, setzt man sich das nächsthöhere Ziel. Ich wollte dann in der 1. Herrenmannschaft spielen, die in der Regionalliga war. Es ging also darum, von einem Ziel zum nächsten zu gehen, einen Schritt nach dem anderen.“
Als Klinsmann 1974 in den SC Geislingen eintrat und die Trikots in den schwarz-weißen Clubfarben trug, schenkte sein Vater ihm ein „Rekordbuch“, in das er seine Spielstatistiken, Ergebnisse und Tore eintragen konnte. Siegfried Klinsmann versah das Buch mit einer Widmung, die Klinsmann alle Jahre beherzigte: „Olympisch sein heißt: ehrlich im Kampf, bescheiden im Sieg, neidlos in jeder Niederlage und sauber in deiner Gesinnung. Das hofft Dein Vater und Turnkamerad, Siegfried Klinsmann.“
„Ich habe dieses Buch immer noch zu Hause“, sagt Klinsmann mit nicht geringem Stolz und ergänzt, dass diese Widmung ihm später während seiner Karriere sehr viel bedeutet habe, auch wenn er den vollen Sinn anfangs nicht habe erfassen können.
„Mein Vater gab mir das Buch, weil er dachte, wenn er schon den ganzen Tag nur vom Toreschießen redet, sollte er vielleicht darüber Buch führen, wie viele Tore er schießt. So habe ich während meiner ganzen Jugendkarriere Buch geführt. Bis zu meinem letzten Tor in der höchsten Jugendliga ist jedes Tor darin verzeichnet. Ich habe es immer noch zu Hause. Du kannst es gerne anschauen. Es gab mir ein gutes Gefühl, wenn ich nach Hause kam und ein weiteres Tor in das Buch eintragen konnte. Und ich dachte dann bei mir: Hey, heute war ein guter, produktiver Tag.“
Klinsmann war seinem Vater eng verbunden. Er bewunderte dessen stoische Hingabe und unermüdliche Arbeitseinstellung. Er war ein bescheidener Mann, der sechsmal in der Woche zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens aufstand und die Nacht durcharbeitete, um rechtzeitig frisches Brot, Brötchen, Kuchen und Gebäck fertig zu backen, bevor die Bäckerei Klinsmann morgens um 6.30 Uhr öffnete. „Ich weiß, was es heißt, zwölf oder mehr Stunden täglich zu arbeiten“, erzählt Klinsmann und fügt hinzu, dass sein Vater manchmal sogar 14 bis 16 Stunden am Tag gearbeitet habe. Er sagt, er habe niemals verstanden, wie sein Vater es so gut schaffte, mit dieser geringen Menge Schlaf auszukommen. Von seinem Vater und seiner Mutter übernahm Klinsmann seine lebenslange Wertschätzung für harte Arbeit. „Meinen Eltern habe ich das Meiste zu verdanken.“
Die Klinsmanns gehörten zu Deutschlands breiter Mittelklasse der 60er-, 70er- und 80er-Jahre, die weder Teil der kleinen Gruppe der wohlhabenden Elite noch Teil der kleinen Gruppe der Bedürftigen bildeten. In den 1970er-Jahren war die Bundesrepublik Deutschland zu einem der reichsten Länder der Welt geworden, und dieser wirtschaftliche Erfolg war großflächig auf eine breite Mittelklasse verteilt. Mit einer umfassenden gesetzlichen Krankenversicherung für jeden und guten Schulen im ganzen Land vermittelte die soziale Marktwirtschaft den Bürgern ein wunderbares Gefühl der Gleichheit. Das großzügige soziale Netz verhinderte, dass irgendjemand, selbst wenn er arbeitslos wurde, durch das soziale Netz fallen und in Existenz bedrohende finanzielle Not kommen konnte. Gleichzeitig wirkten die relativ hohen Steuern einer Anhäufung großer Vermögen entgegen oder verhinderten zumindest eine sehr offensichtliche Zurschaustellung von Reichtum. Die meisten Deutschen arbeiteten dennoch hart, um über die Runden zu kommen und Klinsmanns Erziehung in der Familienbäckerei formte ihn in wichtiger Weise.
„Er war selbst Sportler, ein begeisterter Turner und Radfahrer und meine Interesse an Sport habe ich von ihm geerbt“, sagt Klinsmann über seinen Vater, der 2005 mit 71 Jahren starb. Für Klinsmann war dies, ein Jahr bevor er die Deutschen bei der Weltmeisterschaft 2006 im eigenen Land trainierte, ein schwerer Schlag. „Als Bäcker war es für ihn jedes Mal eine Herausforderung, zu meinen Spielen am Samstagnachmittag zu kommen. Für eine Bäckerei ist der Samstag der anstrengendste Tag der Woche. Mein Vater hatte die Nacht durchgearbeitet und kämpfte gegen seine Müdigkeit an. Meine Spiele begannen erst um zwei oder drei Uhr nachmittags. Es war manchmal hart für ihn, die Augen offenzuhalten, weil er so müde war. Er kam mit einer großen Tüte Bretzeln zum Spielfeld, für die ganze Mannschaft ..., und die anderen konnten es gar nicht erwarten, nach dem Spiel ihre Bretzel zu bekommen. Er sah sich die Spiele immer von hinter dem Tor aus an. Er stand nur da. Er tat dies bis zu der Zeit, in der ich anfing, als Profi zu spielen. Er war wahrscheinlich sehr, sehr müde, aber ihn dort stehen zu sehen, bedeutete mir sehr viel.“ Klinsmann sagt, dass sein Vater ihn niemals gedrängt habe, Fußball zu spielen und niemals versucht habe, sich in seine Karriere einzumischen, dass er aber stets da war, um sein wachsendes Interesse an dem Nationalsport zu unterstützen. „Er kam zu jedem Spiel, zu dem er es irgendwie schaffen konnte, ohne etwas zu sagen, egal ob ich gut oder schlecht gespielt hatte. Er kommentierte niemals ein Spiel, da er sagte: Ich bin nicht mit Fußball aufgewachsen; ich bin Turner. Hab einfach Spaß! Das einzige, was er mich immer fragte, war: Hat es dir heute Spaß gemacht? Hattest du eine gute Zeit? Ich war in der glücklichen Lage, meine gesamte Kindheit über diese Art von Anleitung und Unterstützung zu haben.“
Schon als Kind war Klinsmann als ehrgeiziger Sportler bekannt, der es hasste, zu verlieren; etwas, was auch heute noch der Fall ist, sei es als Spieler oder als Trainer oder sogar, wenn er mit seinen Spielern Tischtennis spielt. Als Trainer wurmt es ihn immer noch, wenn ein Spieler sein Talent vergeudet oder sein Potenzial nicht voll ausschöpft. Klinsmann besaß schon in seiner Jugend auf dem Spielfeld einen ausgeprägten Willen zu kämpfen und zu siegen, der oft die ganze Mannschaft mitzog und das Spielniveau seines ganzen Teams erhöhte, insbesondere später bei großen Turnieren mit der deutschen Nationalmannschaft. „Mich macht es rasend, wenn einer nicht das Optimum bringt“, sagt Klinsmann. Obwohl jeder Spieler einmal einen schlechten Tag haben kann, war sein Motto: „Kämpfen bis zum Umfallen“, selbst wenn man einen schlechten Tag hatte. In seinem Buch Klinsmann, Stürmer, Trainer, Weltmeister schreibt der deutsche Sportjournalist Michael Horeni, dass Klinsmann wegen seiner Arbeitseinstellung bei den Fans enorm beliebt war, egal wo er spielte: „Seine Karriere war von Anfang an geprägt von seiner enormen Willenskraft, Disziplin und Ehrgeiz. Es ist kein Zufall, dass er zu den wenigen Profis gehören sollte, denen die Zuschauer nie den Vorwurf machen konnten, auf dem Fußballplatz nicht alles gegeben zu haben.“
So leidenschaftlich Klinsmann bezüglich seiner Leistung und der seiner Mannschaftskameraden auf dem Platz war, zeigte Klinsmann als Jugendlicher nur selten seine Wut über eine Niederlage oder ein enttäuschendes Ergebnis. Stattdessen brütete er einfach leise vor sich hin, bis sich der Frust von selber langsam aufgelöst hatte. Manchmal dauerte dies einige Stunden, manchmal ein paar Tage, manchmal sogar einige Wochen, besonders später als Profi, wenn beispielsweise eine deutsche Mannschaft voller talentierter Spieler bei der WM 1994 in den USA bereits im Viertelfinale gegen Bulgarien ausschied. Klinsmann erzählt, sein Vater und seine Mannschaftskameraden hätten die Intensität seiner Enttäuschung verstanden, die er schon als kleiner Junge empfunden habe, und ihm viel Raum gelassen, wenn er „Dampf ablassen“ musste. „Mein Vater sah, dass ich manchmal sauer war, weil wir verloren hatten oder weil ich vielleicht kein Tor geschossen hatte. Dann ließ er mich in Ruhe, weil er wusste, dass es das Beste war, mir einfach ein wenig Zeit zu geben. Diese Beruhigungsphasen konnten zwischen einigen Stunden und einem Tag dauern, auch als ich noch in Gingen spielte. Also ließen mich die anderen in Ruhe. Manchmal musste ich mich hinterher bei ihnen entschuldigen, weil ich so sauer war. Aber sie lernten damit umzugehen. Dass ich immer Zeit brauchte, um runterzukommen, ist etwas, was sich bei mir nie geändert hat.“
Mit der ganzen Übung und Entschlossenheit befand sich Klinsmanns Karriere auf einem steilen Weg nach oben. Eine regionale Fußballzeitung schrieb 1977 einen vorausahnenden Bericht über den 13-jährigen Jürgen Klinsmann mit der Überschrift „Auf den Spuren Gerd Müllers“. Müller war Deutschlands Top-Stürmer in den 70er-Jahren. Der Artikel beschrieb Geislingens jungen Mittelstürmer als „blond, schlank und rank, nicht übermäßig groß, doch ungemein wendig, pfeilschnell und mit ‚Dynamit` in den Beinen“. Der Artikel in dem Blatt aus der D- und C-Jugendzeit hielt fest, dass Klinsmann die unglaubliche Zahl von 250 Toren für Geislingen in weniger als vier Saisons geschossen hatte, und der Autor schloss mit einer Vorhersage, auf die er Jahre später sehr stolz gewesen sein muss: „Eine große Zukunft steht ihm offen.“ Jürgen Klinsmann spielte von 1974 bis 1978 für den SC Geislingen. Er spielte sogar weiter für den Verein, nachdem seine Familie von Gingen nach Stuttgart-Botnang gezogen war, etwa 45 Kilometer westlich von Geislingen. Die Familie übernahm dort ein dreistöckiges Haus mit einer eigenen Bäckerei im Erdgeschoss. Aber Jürgen fühlte sich Geislingen verbunden und wollte weiter in der erfolgreichen Mannschaft spielen, die einige der größeren und besseren Clubs der Region zwischen Stuttgart bis nach Ulm „aufgemischt“ hatte. Klinsmann hatte auch viele Freunde und Mannschaftskameraden in Geislingen, mit denen er über die Jahrzehnte in engem Kontakt geblieben ist. „Es ist deine Entscheidung, du musst damit glücklich sein“, sagte sein Vater zu ihm. Er wollte seinen Söhnen von klein auf Verantwortungsgefühl und Unabhängigkeitssinn vermitteln und ihnen klarmachen, dass sie für ihre Entscheidungen selber verantwortlich wären.
Er war erst 13 und trotz verlockender Angebote, zu größeren und prestigeträchtigeren Clubs wie den Stuttgarter Kickers oder dem VfB Stuttgart zu wechseln, entschied sich Klinsmann, weiter für Geislingen zu spielen. Die hellen Lichter der Landeshauptstadt und die schicken Namen ihrer Fußballvereine konnten ihn nicht weglocken. Er war glücklich, weiter in der Provinz bei seinem Kleinstadtverein zu spielen. Ungefähr ein halbes Jahr lang pendelte er mehrmals die Woche nach der Schule einige Stunden von Stuttgart nach Geislingen hoch auf die Schwäbische Alb, um am Training teilzunehmen. Er hatte das Glück, nach der Schule von einem Pendler aus Geislingen, der in Stuttgart arbeitete, mitgenommen zu werden und nahm dann nach dem Training oft den Zug nach Hause oder schlief bei einem Freund in Geislingen. „Ich spielte weiter in Geislingen, weil ich meine Freunde nicht verlassen wollte und weil wir besser waren als die Stuttgarter Mannschaften“, erzählt Klinsmann mit einem Lachen und einem Anflug seines Wettkampfgeistes, der auch fast 40 Jahre später noch vorhanden ist. „So sahen wir das damals. Wir hatten mit Geislingen die Landesmeisterschaften der unter Zwölf- und unter Vierzehnjährigen gewonnen und waren besser als die Jugendmannschaften der Kickers und des VfB Stuttgart. Als dort bekannt wurde, dass meine Eltern nach Stuttgart zogen, wollten beide Clubs mich haben. Ich antwortete: Nein, ist schon okay, ich nehme den Zug nach Geislingen.“