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Der Auf­stieg

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Klins­manns un­ge­heu­re Tor­jä­ger­fä­hig­kei­ten als Ju­gend­li­cher blie­ben 20 Jah­re nach der Welt­meis­ter­schaft von 1954 nicht lan­ge un­be­merkt, ganz be­son­ders in ei­nem Land mit zahl­rei­chen Sport­jour­na­lis­ten und Tal­ents­couts, de­ren Haupt­au­gen­merk auf dem Fuß­ball­sport lag.

Es gibt in Deutsch­land hun­der­te von Ta­ges­zei­tun­gen und dut­zen­de Sport­zei­tun­gen und Ma­ga­zi­ne. Bei so viel Me­di­en­prä­senz und ei­nem großen Netz­werk an eh­ren­amt­li­chen und pro­fes­sio­nel­len Tal­ents­couts ist die Wahr­schein­lich­keit ge­ring, dass ein viel­ver­spre­chen­des, leuch­ten­des jun­ges Ta­lent wie Klins­mann lan­ge un­ent­deckt bleibt. Die­ses Netz­werk wur­de in den letz­ten zehn Jah­ren mit mehr als 50 über ganz Deutsch­land ver­teil­ten DFB-Leis­tungs­zen­tren, in de­nen ta­len­tier­te jun­ge Spie­ler ge­sich­tet, be­treut und trai­niert wer­den und die der Trai­ne­r­aus­bil­dung die­nen, noch wei­ter aus­ge­baut.

Im Al­ter von zehn Jah­ren wur­den Klins­manns Am­bi­tio­nen be­reits deut­lich. Im klei­nen „Teich“ Gin­gen wur­de er bald der buch­stäb­lich „große Fisch“ und streb­te selbst nach neu­en He­r­aus­for­de­run­gen. Ein Nach­bar, Wer­ner Gass, der ei­ni­ge Jah­re äl­ter als Klins­mann war, trai­nier­te eine Ju­gend­mann­schaft, wäh­rend er gleich­zei­tig in der Her­ren­mann­schaft ei­nes grö­ße­ren Ver­eins spiel­te, dem SC Geis­lin­gen, das etwa 11 Ki­lo­me­ter von Gin­gen ent­fernt liegt.

Die Stadt Geis­lin­gen war mit ei­ner Ein­wohner­zahl von etwa 26.000 mehr als sechs­mal so groß wie Gin­gen. Der SC Geis­lin­gen war in ei­nem wei­ten Um­kreis als ei­ner der Bes­ten im Be­reich der Nach­wuchs­för­de­rung be­kannt. Gass trai­nier­te da­mals die D-Ju­gend, die un­ter Zwölf­jäh­ri­gen des SC Geis­lin­gen, wäh­rend er mit sei­nen 18 Jah­ren selbst Spie­ler in der 1. Her­ren­mann­schaft war, die in der 4. Bun­des­li­ga oder Re­gio­nal­li­ga spiel­te. Spä­ter spiel­te er beim VfB Stutt­gart.

Ent­schlos­sen wie er war, woll­te auch Klins­mann nun in ei­ner hö­he­ren Liga spie­len. Er war be­reits selbst­be­wusst und mu­tig ge­nug, die­sen Schritt zu ge­hen und die Din­ge in die Hand zu neh­men. Da­bei zeig­te er das glei­che Ge­spür, den Mut und die Ei­genini­tia­ti­ve, die ihn wäh­rend sei­ner ge­sam­ten Kar­rie­re als Spie­ler und Trai­ner be­glei­te­ten.

„Ei­nes Ta­ges dach­te ich, dass es an der Zeit sei, den nächs­ten Schritt zu ma­chen“, er­in­nert sich Klins­mann. „Ich woll­te für Geis­lin­gen spie­len. Ich wuss­te, wo Wer­ner wohn­te. Sein Haus war nicht weit von der Bä­cke­rei ent­fernt. Also ging ich ei­nes Ta­ges ein­fach rü­ber, klopf­te ein­fach an sei­ne Tür und sag­te: Ich möch­te in dei­ner Mann­schaft spie­len. Und er ant­wor­te­te: Ja, klar.“

Klins­mann hat­te die ein­ein­halb Jah­re in sei­nem Hei­mat­club in Gin­gen ge­nos­sen. Aber da­durch, dass er täg­lich mit den an­de­ren Kin­dern in der Nach­bar­schaft trai­nier­te, war er schnell so viel bes­ser als die meis­ten sei­ner Al­ters­ge­nos­sen ge­wor­den, dass Gin­gen, wo es nur eine Trai­nings­ein­heit und ein Spiel pro Wo­che gab, ihm kei­ne He­r­aus­for­de­rung mehr bie­ten konn­te. „Es war so, dass ich oft einen lan­gen Ball von ei­nem Mit­spie­ler be­kom­men und den Rest al­lei­ne ge­macht habe, wäh­rend die an­de­ren oft nur he­r­um­ge­stan­den und zu­ge­guckt ha­ben“, er­zählt Klins­mann. „Je­der sag­te: Der kann hier nicht mehr spie­len, der ist ein­fach zu gut. So kam ich ei­nes Ta­ges nach ei­nem Spiel zu dem Schluss: Ich muss hier raus.“

Sei­ne Be­stre­bung nach neu­en He­r­aus­for­de­run­gen zeigt, dass Klins­mann schon früh ent­schlos­sen war, bes­ser zu wer­den und die nächs­te Stu­fe zu er­klim­men, eine Ent­schlos­sen­heit, die ihn wäh­rend sei­ner gan­zen Kar­rie­re als Spie­ler und dann auch als Trai­ner be­glei­te­te. Trotz der Ent­beh­run­gen und Ri­si­ken, die mit dem Ver­las­sen der „Kom­fort­zo­ne“ ver­bun­den wa­ren, war die­ser kind­li­che Ehr­geiz ein Vor­bo­te des­sen, was in den Jah­ren da­nach folg­te. Die D-Ju­gend in Geis­lin­gen trai­nier­te häu­fi­ger und in­ten­si­ver, und die Trai­ner wa­ren er­fah­re­ner und bes­ser aus­ge­bil­det. Klins­mann be­merk­te den Un­ter­schied so­fort. Das Trai­ning fand drei­mal die Wo­che statt mit zu­sätz­lich ei­nem Punkt­spiel am Sonn­abend.

Klins­mann war erst zehn Jah­re alt und muss­te sich nun auch über­le­gen, wie er von Gin­gen zum Trai­ning nach Geis­lin­gen kom­men könn­te. „Die ers­ten zwei Jah­re hol­te mich Wer­ner zum Trai­ning ab und brach­te mich wie­der nach Hau­se, oder ich muss­te die Stre­cke mit dem Fahr­rad fah­ren.“

Selbst als sich sei­ne Fä­hig­kei­ten wei­ter ver­bes­ser­ten und sein Ta­lent als Stür­mer mehr Auf­merk­sam­keit zu er­re­gen be­gann, dach­te Klins­mann nach wie vor nicht ein­mal im Traum dar­an, Pro­fi wer­den zu kön­nen. Er er­freu­te sich dar­an, die Fuß­ball­py­ra­mi­de Stu­fe um Stu­fe hö­her hi­n­auf­zu­stei­gen und war­te­te mit Neu­gier ab, wie weit er in ei­nem Um­feld kom­men konn­te, das im­mer kom­pe­ti­ti­ver wur­de. „Mein Ziel als Kind war es, mit der Mann­schaft in der Ver­bands­li­ga zu spie­len. Wenn man das er­reicht hat, setzt man sich das nächst­hö­he­re Ziel. Ich woll­te dann in der 1. Her­ren­mann­schaft spie­len, die in der Re­gio­nal­li­ga war. Es ging also dar­um, von ei­nem Ziel zum nächs­ten zu ge­hen, einen Schritt nach dem an­de­ren.“

Als Klins­mann 1974 in den SC Geis­lin­gen ein­trat und die Tri­kots in den schwarz-wei­ßen Club­far­ben trug, schenk­te sein Va­ter ihm ein „Re­kord­buch“, in das er sei­ne Spiel­sta­tis­ti­ken, Er­geb­nis­se und Tore ein­tra­gen konn­te. Sieg­fried Klins­mann ver­sah das Buch mit ei­ner Wid­mung, die Klins­mann alle Jah­re be­her­zig­te: „Olym­pisch sein heißt: ehr­lich im Kampf, be­schei­den im Sieg, neid­los in je­der Nie­der­la­ge und sau­ber in dei­ner Ge­sin­nung. Das hofft Dein Va­ter und Turn­ka­me­rad, Sieg­fried Klins­mann.“

„Ich habe die­ses Buch im­mer noch zu Hau­se“, sagt Klins­mann mit nicht ge­rin­gem Stolz und er­gänzt, dass die­se Wid­mung ihm spä­ter wäh­rend sei­ner Kar­rie­re sehr viel be­deu­tet habe, auch wenn er den vol­len Sinn an­fangs nicht habe er­fas­sen kön­nen.

„Mein Va­ter gab mir das Buch, weil er dach­te, wenn er schon den gan­zen Tag nur vom To­re­schie­ßen re­det, soll­te er viel­leicht dar­über Buch füh­ren, wie vie­le Tore er schießt. So habe ich wäh­rend mei­ner gan­zen Ju­gend­kar­rie­re Buch ge­führt. Bis zu mei­nem letz­ten Tor in der höchs­ten Ju­gend­li­ga ist je­des Tor dar­in ver­zeich­net. Ich habe es im­mer noch zu Hau­se. Du kannst es ger­ne an­schau­en. Es gab mir ein gu­tes Ge­fühl, wenn ich nach Hau­se kam und ein wei­te­res Tor in das Buch ein­tra­gen konn­te. Und ich dach­te dann bei mir: Hey, heu­te war ein gu­ter, pro­duk­ti­ver Tag.“

Klins­mann war sei­nem Va­ter eng ver­bun­den. Er be­wun­der­te des­sen stoi­sche Hin­ga­be und un­er­müd­li­che Ar­beitseinstel­lung. Er war ein be­schei­de­ner Mann, der sechs­mal in der Wo­che zwi­schen Mit­ter­nacht und drei Uhr mor­gens auf­stand und die Nacht durch­ar­bei­te­te, um recht­zei­tig fri­sches Brot, Bröt­chen, Ku­chen und Ge­bäck fer­tig zu ba­cken, be­vor die Bä­cke­rei Klins­mann mor­gens um 6.30 Uhr öff­ne­te. „Ich weiß, was es heißt, zwölf oder mehr Stun­den täg­lich zu ar­bei­ten“, er­zählt Klins­mann und fügt hin­zu, dass sein Va­ter manch­mal so­gar 14 bis 16 Stun­den am Tag ge­ar­bei­tet habe. Er sagt, er habe nie­mals ver­stan­den, wie sein Va­ter es so gut schaff­te, mit die­ser ge­rin­gen Men­ge Schlaf aus­zu­kom­men. Von sei­nem Va­ter und sei­ner Mut­ter über­nahm Klins­mann sei­ne le­bens­lan­ge Wert­schät­zung für har­te Ar­beit. „Mei­nen El­tern habe ich das Meis­te zu ver­dan­ken.“

Die Klins­manns ge­hör­ten zu Deutsch­lands brei­ter Mit­tel­klas­se der 60er-, 70er- und 80er-Jah­re, die we­der Teil der klei­nen Grup­pe der wohl­haben­den Eli­te noch Teil der klei­nen Grup­pe der Be­dürf­ti­gen bil­de­ten. In den 1970er-Jah­ren war die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land zu ei­nem der reichs­ten Län­der der Welt ge­wor­den, und die­ser wirt­schaft­li­che Er­folg war groß­flä­chig auf eine brei­te Mit­tel­klas­se ver­teilt. Mit ei­ner um­fas­sen­den ge­setz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung für je­den und gu­ten Schu­len im gan­zen Land ver­mit­tel­te die so­zia­le Markt­wirt­schaft den Bür­gern ein wun­der­ba­res Ge­fühl der Gleich­heit. Das groß­zü­gi­ge so­zia­le Netz ver­hin­der­te, dass ir­gend­je­mand, selbst wenn er ar­beits­los wur­de, durch das so­zia­le Netz fal­len und in Exis­tenz be­dro­hen­de fi­nan­zi­el­le Not kom­men konn­te. Gleich­zei­tig wirk­ten die re­la­tiv ho­hen Steu­ern ei­ner An­häu­fung großer Ver­mö­gen ent­ge­gen oder ver­hin­der­ten zu­min­dest eine sehr of­fen­sicht­li­che Zur­schau­stel­lung von Reich­tum. Die meis­ten Deut­schen ar­bei­te­ten den­noch hart, um über die Run­den zu kom­men und Klins­manns Er­zie­hung in der Fa­mi­li­en­bä­cke­rei form­te ihn in wich­ti­ger Wei­se.

„Er war selbst Sport­ler, ein be­geis­ter­ter Tur­ner und Rad­fah­rer und mei­ne In­ter­es­se an Sport habe ich von ihm ge­erbt“, sagt Klins­mann über sei­nen Va­ter, der 2005 mit 71 Jah­ren starb. Für Klins­mann war dies, ein Jahr be­vor er die Deut­schen bei der Welt­meis­ter­schaft 2006 im ei­ge­nen Land trai­nier­te, ein schwe­rer Schlag. „Als Bä­cker war es für ihn je­des Mal eine He­r­aus­for­de­rung, zu mei­nen Spie­len am Sams­tagnach­mit­tag zu kom­men. Für eine Bä­cke­rei ist der Sams­tag der an­stren­gends­te Tag der Wo­che. Mein Va­ter hat­te die Nacht durch­ge­ar­bei­tet und kämpf­te ge­gen sei­ne Mü­dig­keit an. Mei­ne Spie­le be­gan­nen erst um zwei oder drei Uhr nach­mit­tags. Es war manch­mal hart für ihn, die Au­gen of­fen­zu­hal­ten, weil er so müde war. Er kam mit ei­ner großen Tüte Bret­zeln zum Spiel­feld, für die gan­ze Mann­schaft ..., und die an­de­ren konn­ten es gar nicht er­war­ten, nach dem Spiel ihre Bret­zel zu be­kom­men. Er sah sich die Spie­le im­mer von hin­ter dem Tor aus an. Er stand nur da. Er tat dies bis zu der Zeit, in der ich an­fing, als Pro­fi zu spie­len. Er war wahr­schein­lich sehr, sehr müde, aber ihn dort ste­hen zu se­hen, be­deu­te­te mir sehr viel.“ Klins­mann sagt, dass sein Va­ter ihn nie­mals ge­drängt habe, Fuß­ball zu spie­len und nie­mals ver­sucht habe, sich in sei­ne Kar­rie­re ein­zu­mi­schen, dass er aber stets da war, um sein wach­sen­des In­ter­es­se an dem Na­tio­nal­sport zu un­ter­stüt­zen. „Er kam zu je­dem Spiel, zu dem er es ir­gend­wie schaf­fen konn­te, ohne et­was zu sa­gen, egal ob ich gut oder schlecht ge­spielt hat­te. Er kom­men­tier­te nie­mals ein Spiel, da er sag­te: Ich bin nicht mit Fuß­ball auf­ge­wach­sen; ich bin Tur­ner. Hab ein­fach Spaß! Das ein­zi­ge, was er mich im­mer frag­te, war: Hat es dir heu­te Spaß ge­macht? Hat­test du eine gute Zeit? Ich war in der glück­li­chen Lage, mei­ne ge­sam­te Kind­heit über die­se Art von An­lei­tung und Un­ter­stüt­zung zu ha­ben.“

Schon als Kind war Klins­mann als ehr­gei­zi­ger Sport­ler be­kannt, der es hass­te, zu ver­lie­ren; et­was, was auch heu­te noch der Fall ist, sei es als Spie­ler oder als Trai­ner oder so­gar, wenn er mit sei­nen Spie­lern Tisch­ten­nis spielt. Als Trai­ner wurmt es ihn im­mer noch, wenn ein Spie­ler sein Ta­lent ver­geu­det oder sein Po­ten­zi­al nicht voll aus­schöpft. Klins­mann be­saß schon in sei­ner Ju­gend auf dem Spiel­feld einen aus­ge­präg­ten Wil­len zu kämp­fen und zu sie­gen, der oft die gan­ze Mann­schaft mit­zog und das Spiel­ni­veau sei­nes gan­zen Teams er­höh­te, ins­be­son­de­re spä­ter bei großen Tur­nie­ren mit der deut­schen Na­tio­nal­mann­schaft. „Mich macht es ra­send, wenn ei­ner nicht das Op­ti­mum bringt“, sagt Klins­mann. Ob­wohl je­der Spie­ler ein­mal einen schlech­ten Tag ha­ben kann, war sein Mot­to: „Kämp­fen bis zum Um­fal­len“, selbst wenn man einen schlech­ten Tag hat­te. In sei­nem Buch Klins­mann, Stür­mer, Trai­ner, Welt­meis­ter schreibt der deut­sche Sport­jour­na­list Mi­cha­el Ho­re­ni, dass Klins­mann we­gen sei­ner Ar­beitseinstel­lung bei den Fans enorm be­liebt war, egal wo er spiel­te: „Sei­ne Kar­rie­re war von An­fang an ge­prägt von sei­ner enor­men Wil­lens­kraft, Dis­zi­plin und Ehr­geiz. Es ist kein Zu­fall, dass er zu den we­ni­gen Pro­fis ge­hö­ren soll­te, de­nen die Zu­schau­er nie den Vor­wurf ma­chen konn­ten, auf dem Fuß­ball­platz nicht al­les ge­ge­ben zu ha­ben.“

So lei­den­schaft­lich Klins­mann be­züg­lich sei­ner Leis­tung und der sei­ner Mann­schafts­ka­me­ra­den auf dem Platz war, zeig­te Klins­mann als Ju­gend­li­cher nur sel­ten sei­ne Wut über eine Nie­der­la­ge oder ein ent­täu­schen­des Er­geb­nis. Statt­des­sen brü­te­te er ein­fach lei­se vor sich hin, bis sich der Frust von sel­ber lang­sam auf­ge­löst hat­te. Manch­mal dau­er­te dies ei­ni­ge Stun­den, manch­mal ein paar Tage, manch­mal so­gar ei­ni­ge Wo­chen, be­son­ders spä­ter als Pro­fi, wenn bei­spiels­wei­se eine deut­sche Mann­schaft vol­ler ta­len­tier­ter Spie­ler bei der WM 1994 in den USA be­reits im Vier­tel­fi­na­le ge­gen Bul­ga­ri­en aus­schied. Klins­mann er­zählt, sein Va­ter und sei­ne Mann­schafts­ka­me­ra­den hät­ten die In­ten­si­tät sei­ner Ent­täu­schung ver­stan­den, die er schon als klei­ner Jun­ge emp­fun­den habe, und ihm viel Raum ge­las­sen, wenn er „Dampf ab­las­sen“ muss­te. „Mein Va­ter sah, dass ich manch­mal sau­er war, weil wir ver­lo­ren hat­ten oder weil ich viel­leicht kein Tor ge­schos­sen hat­te. Dann ließ er mich in Ruhe, weil er wuss­te, dass es das Bes­te war, mir ein­fach ein we­nig Zeit zu ge­ben. Die­se Be­ru­hi­gungs­pha­sen konn­ten zwi­schen ei­ni­gen Stun­den und ei­nem Tag dau­ern, auch als ich noch in Gin­gen spiel­te. Also lie­ßen mich die an­de­ren in Ruhe. Manch­mal muss­te ich mich hin­ter­her bei ih­nen ent­schul­di­gen, weil ich so sau­er war. Aber sie lern­ten da­mit um­zu­ge­hen. Dass ich im­mer Zeit brauch­te, um run­ter­zu­kom­men, ist et­was, was sich bei mir nie ge­än­dert hat.“

Mit der gan­zen Übung und Ent­schlos­sen­heit be­fand sich Klins­manns Kar­rie­re auf ei­nem stei­len Weg nach oben. Eine re­gio­na­le Fuß­ball­zei­tung schrieb 1977 einen vor­au­sah­nen­den Be­richt über den 13-jäh­ri­gen Jür­gen Klins­mann mit der Über­schrift „Auf den Spu­ren Gerd Mül­lers“. Mül­ler war Deutsch­lands Top-Stür­mer in den 70er-Jah­ren. Der Ar­ti­kel be­schrieb Geis­lin­gens jun­gen Mit­tel­stür­mer als „blond, schlank und rank, nicht über­mä­ßig groß, doch un­ge­mein wen­dig, pfeil­schnell und mit ‚Dy­na­mit` in den Bei­nen“. Der Ar­ti­kel in dem Blatt aus der D- und C-Ju­gend­zeit hielt fest, dass Klins­mann die un­glaub­li­che Zahl von 250 To­ren für Geis­lin­gen in we­ni­ger als vier Sai­sons ge­schos­sen hat­te, und der Au­tor schloss mit ei­ner Vor­her­sa­ge, auf die er Jah­re spä­ter sehr stolz ge­we­sen sein muss: „Eine große Zu­kunft steht ihm of­fen.“ Jür­gen Klins­mann spiel­te von 1974 bis 1978 für den SC Geis­lin­gen. Er spiel­te so­gar wei­ter für den Ver­ein, nach­dem sei­ne Fa­mi­lie von Gin­gen nach Stutt­gart-Botn­ang ge­zo­gen war, etwa 45 Ki­lo­me­ter west­lich von Geis­lin­gen. Die Fa­mi­lie über­nahm dort ein drei­stö­cki­ges Haus mit ei­ner ei­ge­nen Bä­cke­rei im Erd­ge­schoss. Aber Jür­gen fühl­te sich Geis­lin­gen ver­bun­den und woll­te wei­ter in der er­folg­rei­chen Mann­schaft spie­len, die ei­ni­ge der grö­ße­ren und bes­se­ren Clubs der Re­gi­on zwi­schen Stutt­gart bis nach Ulm „auf­ge­mischt“ hat­te. Klins­mann hat­te auch vie­le Freun­de und Mann­schafts­ka­me­ra­den in Geis­lin­gen, mit de­nen er über die Jahr­zehn­te in en­gem Kon­takt ge­blie­ben ist. „Es ist dei­ne Ent­schei­dung, du musst da­mit glück­lich sein“, sag­te sein Va­ter zu ihm. Er woll­te sei­nen Söh­nen von klein auf Ver­ant­wor­tungs­ge­fühl und Un­ab­hän­gig­keits­sinn ver­mit­teln und ih­nen klar­ma­chen, dass sie für ihre Ent­schei­dun­gen sel­ber ver­ant­wort­lich wä­ren.

Er war erst 13 und trotz ver­lo­cken­der An­ge­bo­te, zu grö­ße­ren und pres­ti­ge­träch­ti­ge­ren Clubs wie den Stutt­gar­ter Kickers oder dem VfB Stutt­gart zu wech­seln, ent­schied sich Klins­mann, wei­ter für Geis­lin­gen zu spie­len. Die hel­len Lich­ter der Lan­des­haupt­stadt und die schi­cken Na­men ih­rer Fuß­ball­ver­ei­ne konn­ten ihn nicht weg­lo­cken. Er war glück­lich, wei­ter in der Pro­vinz bei sei­nem Klein­stadt­ver­ein zu spie­len. Un­ge­fähr ein hal­bes Jahr lang pen­del­te er mehr­mals die Wo­che nach der Schu­le ei­ni­ge Stun­den von Stutt­gart nach Geis­lin­gen hoch auf die Schwä­bi­sche Alb, um am Trai­ning teil­zu­neh­men. Er hat­te das Glück, nach der Schu­le von ei­nem Pend­ler aus Geis­lin­gen, der in Stutt­gart ar­bei­te­te, mit­ge­nom­men zu wer­den und nahm dann nach dem Trai­ning oft den Zug nach Hau­se oder schlief bei ei­nem Freund in Geis­lin­gen. „Ich spiel­te wei­ter in Geis­lin­gen, weil ich mei­ne Freun­de nicht ver­las­sen woll­te und weil wir bes­ser wa­ren als die Stutt­gar­ter Mann­schaf­ten“, er­zählt Klins­mann mit ei­nem La­chen und ei­nem An­flug sei­nes Wett­kampf­geis­tes, der auch fast 40 Jah­re spä­ter noch vor­han­den ist. „So sa­hen wir das da­mals. Wir hat­ten mit Geis­lin­gen die Lan­des­meis­ter­schaf­ten der un­ter Zwölf- und un­ter Vier­zehn­jäh­ri­gen ge­won­nen und wa­ren bes­ser als die Ju­gend­mann­schaf­ten der Kickers und des VfB Stutt­gart. Als dort be­kannt wur­de, dass mei­ne El­tern nach Stutt­gart zo­gen, woll­ten bei­de Clubs mich ha­ben. Ich ant­wor­te­te: Nein, ist schon okay, ich neh­me den Zug nach Geis­lin­gen.“

Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen

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