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Schu­le oder Fuß­ball?

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Es war für Klins­mann ein aus­schlag­ge­ben­der Mo­ment, als er im Al­ter von 16 Jah­ren einen Pro­fi­ver­trag an­ge­bo­ten be­kam. Er war hin- und her­ge­ris­sen zwi­schen dem Wunsch, im Fuß­ball so weit wie mög­lich zu kom­men und dem Ge­dan­ken, das Gym­na­si­um zu be­su­chen und an­schlie­ßend zu stu­die­ren. Er war ein neu­gie­ri­ger, wiss­be­gie­ri­ger Tee­na­ger, der hung­rig da­nach war zu ler­nen. Be­vor in den deut­schen Pro­fi­ver­ei­nen 1998 und 2000 weit­rei­chen­de Re­for­men ein­ge­führt wur­den mit der Ein­rich­tung von Fuß­bal­l­aka­de­mi­en für ta­len­tier­te jun­ge Spie­ler, wel­che die schu­li­sche Aus­bil­dung und Leis­tungs­fuß­ball ver­ban­den, gab es für die über­wie­gen­de Mehr­heit der Spie­ler nur die­sel­be Wahl wie für Klins­mann: Fuß­ball zu spie­len oder wei­ter zur Schu­le zu ge­hen.

Klins­mann ging ei­gent­lich gern zur Schu­le und hat­te viel Freu­de am Ler­nen. Er woll­te bis zu dem Zeit­punkt spä­ter Pi­lot wer­den. Er hat­te bis zu dem An­ge­bot von den Kickers nicht dar­an ge­dacht, Pro­fi­fuß­bal­ler zu wer­den. Und den­noch gab es so vie­le Fuß­ball­spie­ler in der Bun­des­re­pu­blik, dass die Wahr­schein­lich­keit Er­folg zu ha­ben, sehr ge­ring war.

„Das Flie­gen hat mich im­mer fas­zi­niert“, er­zählt Klins­mann. „Wenn ir­gend­je­mand mich als Kind frag­te, was ich wer­den wol­le, war die Ant­wort: Pi­lot. Ich dach­te im­mer: Ich wer­de ei­nes Ta­ges Flug­zeu­ge flie­gen. Fuß­ball war et­was, das ich zum Spaß mach­te und ich hat­te beim Spie­len im­mer viel Spaß.“ Das Ver­trags­an­ge­bot von den Stutt­gar­ter Kickers än­der­te die­se Plä­ne und zwang ihn, sei­ne flie­ge­ri­schen Am­bi­tio­nen auf Eis zu le­gen, wenn auch nicht für im­mer. Er er­warb ein Vier­tel­jahr­hun­dert spä­ter eine Flug­li­zenz für Hub­schrau­ber und ge­nießt es, auf die­se Wei­se Süd­ka­li­for­ni­en zu er­kun­den. Das An­ge­bot be­wirk­te dar­über hi­n­aus, dass der neu­gie­ri­ge jun­ge Mann, der so gern lern­te, sich dazu durch­rin­gen muss­te, sei­ne Aus­bil­dungs­plä­ne zu än­dern. Auf ab­seh­ba­re Zeit be­deu­te­te das für ihn, sich von dem Ge­dan­ken zu stu­die­ren ver­ab­schie­den zu müs­sen – auch, als ei­ni­ge sei­ner Freun­de aus Geis­lin­gen zur Uni gin­gen.

Die deut­schen Gym­na­si­en sind be­tont aka­de­misch aus­ge­rich­tet, als Vor­be­rei­tung auf die Uni­ver­si­tät. Nur etwa die Hälf­te al­ler Kin­der schafft die Auf­nah­me auf ein Gym­na­si­um. Im Ver­gleich zur ame­ri­ka­ni­schen High School ler­nen die Kin­der auf dem Gym­na­si­um viel mehr.

Die in Deutsch­land im Al­ter von etwa 15 Jah­ren frü­he Ent­schei­dung für eine Kar­rie­re­rich­tung mag man­chem fast grau­sam und für Spät­ent­wick­ler als be­son­ders un­fair er­schei­nen. Ei­ni­ge dür­fen die schnel­le aka­de­mi­sche Lauf­bahn vom Gym­na­si­um di­rekt zur Uni­ver­si­tät ge­hen, wäh­rend die an­de­ren eine Be­rufs­aus­bil­dung be­gin­nen und häu­fig für den Rest ih­res Le­bens in dem er­lern­ten Be­ruf wei­ter­ar­bei­ten. Als Klins­mann 15 war, gab es kaum Pro­fi­fuß­bal­ler, die das Gym­na­si­um be­sucht hat­ten. Heut­zu­ta­ge ist dies dank der Fuß­bal­l­aka­de­mi­en an­ders, wel­che die schu­li­sche Aus­bil­dung par­al­lel zum Fuß­ball för­dern, so dass jetzt mehr als die Hälf­te al­ler Pro­fi­spie­ler ihr Ab­itur macht.

Für Klins­mann stell­te die­se Ent­schei­dung eine schwie­ri­ge und schwer­wie­gen­de Weg­schei­de dar. „Mei­ne No­ten wa­ren nicht gut ge­nug, um di­rekt aufs Gym­na­si­um zu ge­hen“, er­zählt er. Er zog in Er­wä­gung, aufs Wirt­schafts­gym­na­si­um zu ge­hen, um doch stu­die­ren zu kön­nen. Aber das hät­te be­deu­tet, dass er sich in Voll­zeit auf die Schu­le hät­te kon­zen­trie­ren müs­sen, und zwar ins­ge­samt 13 Schul­jah­re bis zum Al­ter von 19 Jah­ren. „Zur sel­ben Zeit ka­men die Kickers auf mich zu und bo­ten mir einen Pro­fi­ver­trag. Ich war noch kei­ne 16, son­dern im­mer noch 15 Jah­re alt. Ich frag­te mei­nen Va­ter: Was soll ich ma­chen? Ich wür­de gern in der Schu­le blei­ben, ob­wohl mei­ne No­ten nicht die bes­ten sind, aber ich den­ke, ich soll­te wei­ter zur Schu­le ge­hen. Er sag­te, er ver­ste­he mich, aber er mach­te mir auch klar, dass ich, wenn ich wei­ter zur Schu­le ge­hen wol­le, den Ver­trag mit den Kickers nicht un­ter­schrei­ben kön­ne.“

Sieg­fried Klins­mann woll­te, dass sein Sohn we­nigs­tens einen Be­ruf er­ler­nen soll­te, auf den er im Not­fall zu­rück­grei­fen könn­te, falls es mit sei­ner Kar­rie­re als Pro­fi­fuß­bal­ler nicht klap­pen wür­de. Ein prag­ma­ti­scher Rat­schlag. Es gab zu der Zeit in der Tat hun­der­te, wenn nicht so­gar tau­sen­de jun­ger Fuß­bal­ler in Deutsch­land, de­ren Träu­me von der Pro­fi­kar­rie­re sich manch­mal schlag­ar­tig in Luft auf­lös­ten und von de­nen sich vie­le in ei­ner Sack­gas­se ge­fan­gen sa­hen, weil sie für die­se Si­tua­ti­on nicht vor­ge­sorgt hat­ten. An­de­re hat­ten si­cher­ge­stellt, dass sie auf je­den Fall einen Ab­schluss in der Ta­sche hat­ten: Ei­ni­ge von Klins­manns Vor­gän­gern in der Na­tio­nal­mann­schaft hat­ten mit 15 eben­falls die Schu­le ver­las­sen, um eine Leh­re zu ma­chen: Franz Be­cken­bau­er war ge­lern­ter Ver­si­che­rungs­kauf­mann, Ber­ti Vogts hat­te Werk­zeug­ma­cher ge­lernt, Rudi Völ­ler war Bü­ro­kauf­mann und Joa­chim Löw war von Hau­se aus Groß- und Au­ßen­han­dels­kauf­mann.

Wenn Klins­mann sich für den aka­de­mi­schen Weg ent­schie­den hät­te, wäre er mit dem Ab­itur nicht bis zu sei­nem 19. Le­bens­jahr fer­tig ge­wor­den, wenn sei­ne Kar­rie­re als Pro­fi­fuß­bal­ler be­gon­nen und sei­ne ge­sam­te Zeit in An­spruch ge­nom­men hät­te. Viel­leicht hät­te er ein oder zwei Jah­re vor dem Ab­itur die Schu­le ab­ge­bro­chen und da­mit ohne Ab­schluss da­ge­stan­den. Sein Va­ter be­fürch­te­te, dass Jür­gen im schlech­tes­ten Fall dann mit lee­ren Hän­den da­stün­de, ohne ir­gend­ei­nen Ab­schluss und ohne Fuß­ball­kar­rie­re. Es war für Klins­mann eine schwie­ri­ge Ent­schei­dung, die Schu­le mit 15 zu ver­las­sen und manch­mal scheint es, heut­zu­ta­ge, als wäre dies ei­nes der we­ni­gen Din­ge, die er be­dau­ert, trotz der Tat­sa­che, dass er seit­dem auf an­de­re Wei­se im­men­ses Wis­sen er­wor­ben und vier Fremd­spra­chen er­lernt hat.

Es war für Fuß­ball­spie­ler nicht un­ge­wöhn­lich, mit 15 Jah­ren von der Schu­le ab­zu­ge­hen, in ei­nem Al­ter, in dem Mil­lio­nen jun­ge Leu­te den re­gu­lä­ren Schul­be­trieb ver­las­sen, um eine Leh­re zu be­gin­nen. „Mein Va­ter sag­te: Okay, wenn du bei mir eine Leh­re als Bä­cker ab­sol­vierst und dei­nen Ge­sel­len­brief be­kommst, hast du we­nigs­tens eine ab­ge­schlos­se­ne Be­rufs­aus­bil­dung, auf die du zu­rück­grei­fen kannst, falls ir­gend­et­was mit dei­nem Fuß­ball­kram pas­siert.“ Klins­mann er­zählt: „Er nann­te es im­mer ‚Fuß­ball­kram’. Ich sag­te: Okay, ja, das macht Sinn. Ich wuss­te be­reits, was es prak­tisch hei­ßen wür­de, Bä­cker zu wer­den, weil ich da­mit auf­ge­wach­sen war, alle die Din­ge her­zu­stel­len, die man in ei­ner Bä­cke­rei se­hen kann. Da­her war das kein Pro­blem.“

Ei­ni­ge Jah­re spä­ter, als Klins­mann in Ita­li­en bei In­ter Mai­land spiel­te, un­ter­nahm er einen wei­te­ren Ver­such, das Gym­na­si­um zu be­en­den – auf Ita­lie­nisch – und ver­brach­te vie­le Stun­den mit zwei Pri­vat­leh­rern, um das Äqui­va­lent ei­nes Ab­itur­zeug­nis­ses zu er­lan­gen. Aber in sei­ner letz­ten Sai­son in Ita­li­en, als In­ter Mai­land auf dem Spiel­feld zu kämp­fen hat­te, muss­te er die­ses Vor­ha­ben auf­ge­ben. „Zu stu­die­ren war et­was, was ich mir gut vor­stel­len konn­te zu tun, aber es wur­de mir plötz­lich klar, dass ich eine Art Uni­ver­si­täts­aus­bil­dung be­kom­men könn­te, in­dem ich in ver­schie­de­nen Län­dern leb­te“, er­in­nert er sich. „Ich habe viel­leicht nicht so vie­le theo­re­ti­sche Stun­den wie in ei­nem Klas­sen­zim­mer be­kom­men, ... aber ich hat­te un­zäh­li­ge prak­ti­sche Un­ter­richts­stun­den, in­dem ich mit Men­schen in vie­len ver­schie­de­nen Län­dern zu tun hat­te. Das war mei­ne Aus­bil­dung.“

Im Rah­men sei­ner Leh­re in der Fa­mi­li­en­bä­cke­rei in Stutt­gart be­gann Klins­mann ganz in der Früh, noch lan­ge vor Son­nen­auf­gang mit der Ar­beit und back­te die le­cke­ren Bret­zeln, Bröt­chen, Ku­chen und Brot­lai­be, wel­che die Deut­schen am liebs­ten je­den Mor­gen frisch aus dem Ofen bei ih­rer Bä­cke­rei um die Ecke kau­fen. Klins­manns be­vor­zug­tes Ge­bäck war die schwä­bi­sche Bret­zel, die sich von der baye­ri­schen Bret­zel da­hin­ge­hend un­ter­schei­det, dass sie dün­ne­re „Arme“ und einen di­cke­ren „Bauch“ hat.

Einen Tag in der Wo­che ging er in die Be­rufs­schu­le im na­he­ge­le­gen Hop­pen­lau. „Der prak­ti­sche Teil der Aus­bil­dung war kein Pro­blem für mich, weil ich da­mit auf­ge­wach­sen bin“, er­zählt Klins­mann. Er ging mor­gens zu den Trai­nings­ein­hei­ten der 1. Her­ren­mann­schaft der Kickers und spiel­te die Punkt­spie­le am Wo­chen­en­de in der Mann­schaft der un­ter 18-Jäh­ri­gen. 1982 be­stand er sei­ne Prü­fung als Bäcker­ge­sel­le.

„Al­les lief am Ende wun­der­bar und es stell­te sich als großer Vor­teil dar, weil mich der Trai­ner der Kickers nur we­ni­ge Mo­na­te spä­ter frag­te, ob ich mit der ers­ten Mann­schaft trai­nie­ren woll­te. Das war et­was, das bis da­hin noch nie vor­ge­kom­men war“, sagt Klins­mann in dem Be­wusst­sein, dass das ein Glücks­tref­fer war. Er war da­mit schon in der Po­si­ti­on, in die er sich selbst im­mer lie­ber be­gab: noch ein we­nig zu schwie­rig und au­ßer­halb sei­ner Kom­fort­zo­ne. „Ich hat­te auch mei­nen Ab­schluss als Bä­cker in der Ta­sche. Es war eine Zeit des Überg­angs. Du kannst als 16-Jäh­ri­ger je­den Tag mit den Pro­fis trai­nie­ren, aber du weißt, dass du kör­per­lich noch nicht ganz so stark bist und dass du noch nicht ganz da bist, wo du hin willst. Aber du weißt auch, dass du bes­ser wer­den wirst, wenn du täg­lich hart trai­nierst und dein Selbst­be­wusst­sein steigt. Und so durf­te ich mit 17 Jah­ren zum ers­ten Mal in der ers­ten Mann­schaft spie­len. Es war ein groß­ar­ti­ges Ge­fühl.“

Klins­mann stand wäh­rend sei­ner Leh­re um 3 Uhr mor­gens auf, ar­bei­te­te bis un­ge­fähr 7.30 Uhr, früh­stück­te und ging bis um 10 Uhr zum Trai­ning. So­gar am Sams­tag, dem Tag, an dem in der Bä­cke­rei am meis­ten zu tun war, ar­bei­te­te er von 3 Uhr bis 7.30 Uhr mor­gens, um dann vor sei­nen Punkt­spie­len am Nach­mit­tag noch ein we­nig zu schla­fen. „Ich ar­bei­te­te auch an den Ta­gen, an de­nen ich ein Spiel hat­te“, er­zählt er. „Ich den­ke, das ist ein­fach die Ar­beitseinstel­lung, die du in dei­ner Um­ge­bung mit­be­kommst. Mei­ne El­tern wa­ren ge­nau­so und so war man au­to­ma­tisch auch so. Du siehst es, du machst es selbst so und du denkst ein­fach, das sei nor­mal. Es ist eine Ge­ne­ra­ti­on, die es ge­wohnt war, hart zu ar­bei­ten und die gern hart ge­ar­bei­tet hat. Ich könn­te auch nie­mals den gan­zen Tag am Strand sit­zen. Das wäre un­mög­lich für mich.“

Im sel­ben Jahr, 1981, be­gann er im Al­ter von 17 Jah­ren bei den Stutt­gar­ter Kickers sei­ne Pro­fi­kar­rie­re un­ter Trai­ner Slo­bo­dan Cen­dic, der ihm in zahl­rei­chen ex­tra Trai­nings­ein­hei­ten zeig­te, wie er sei­ne Schnel­lig­keit bes­ser aus­nut­zen den Ball bes­ser ab­schir­men konn­te. Es war ein be­deu­ten­der Mo­ment in Klins­manns Le­ben, ob­wohl die Ge­häl­ter in der Bun­des­li­ga da­mals noch be­schei­den wa­ren. Sein An­fangs­ge­halt be­trug laut Ei­tel 1.500 DM. Mit etwa 18.000 Mark Jah­res­ein­kom­men ver­dien­te er nur et­was mehr als die Hälf­te des durch­schnitt­li­chen Jah­res­ein­kom­mens in der da­ma­li­gen Bun­de­re­pu­blik, aber es war in ei­nem Land, das auf eine ge­wis­se Ge­rech­tig­keit bei der Lohn­ver­tei­lung Wert legt, trotz­dem nicht schlecht für einen 17-Jäh­ri­gen. Als Schwa­be be­hielt Klins­mann sei­nen be­schei­de­nen Le­bens­stil auch als Pro­fi­spie­ler bei und konn­te einen Groß­teil sei­nes be­schei­de­nen Ge­halts spa­ren. Er kon­zen­trier­te sich dar­auf, auf dem Spiel­feld bes­ser zu wer­den. Am 27. März 1982 gab er als jüngs­ter Spie­ler der 1. Her­ren­mann­schaft in der Ge­schich­te der Kickers sein De­büt. Er kam in je­ner Sai­son bei sechs Spie­len zum Ein­satz und hat­te viel von dem neu­en Kickers-Trai­ner Jür­gen Sun­der­mann ge­lernt – vor al­lem über Mo­ti­va­ti­on und wie man sich im­mer wie­der auf­rap­peln muss. In sei­ner ers­ten kom­plet­ten Sai­son 1982/83 schaff­te er es, bis in die Star­telf zu kom­men, und am Ende der Sai­son 1983/84 war er mit 19 To­ren für sei­nen Ver­ein ei­ner der Top-Stür­mer der 2. Bun­des­li­ga.

Die Stutt­gar­ter Kickers ge­rie­ten 1983/84 un­ter Trai­ner Horst Buhtz, der ihm wie auch sein Trai­neras­sis­tent Die­ter Ren­ner un­heim­lich viel bei­ge­bracht hat­te, in einen an­stren­gen­den, aber auf­re­gen­den Ab­stiegs­kampf. Jür­gen Klins­mann war 19 Jah­re alt und es war sei­ne drit­te Sai­son als Pro­fi. Er ist über­zeugt, dass dies eine wei­te­re prä­gen­de Er­fah­rung war, durch die er ein bes­se­rer Spie­ler wur­de, und es ist aus sei­ner Sicht eine Lek­ti­on fürs Le­ben, die er gern auch den ame­ri­ka­ni­schen Spie­lern na­he­brin­gen wür­de. Die Re­le­ga­ti­onss­pie­le in Deutsch­land und an­de­ren eu­ro­päi­schen und in­ter­na­tio­na­len Li­gen bie­ten einen Ner­ven­kit­zel und Spie­le, wie es sie in kaum ei­ner an­de­ren Sport­art zu se­hen gibt und in de­nen es um al­les oder nichts geht. Sie sind un­wei­ger­lich span­nungs­ge­la­de­ne, ner­ven­auf­rei­ben­de Kämp­fe ums Über­le­ben, wel­che oft span­nen­der sind als der Wett­kampf um die Meis­ter­schaft zwi­schen den Top-Ver­ei­nen. Es ist ein dar­wi­nis­ti­scher Über­le­bens­kampf, der den Kampf­geist in den Spie­lern weckt, wel­che den stän­di­gen Druck auf ih­ren Schul­tern zu spü­ren be­kom­men. Die letz­ten vier Mann­schaf­ten von den 20 Zweit­li­ga­teams, zu de­nen die Kickers ge­hör­ten, stei­gen am Ende der Sai­son in die Ober­li­ga ab. Die Kon­se­quen­zen solch ei­nes Ab­stiegs sind hart und fast exis­ten­zi­ell: Zahl­rei­che Mit­glie­der des Club­per­so­nals ver­lie­ren nach dem Ab­stieg ih­ren Job; das Bud­get des Ab­stiegs­ver­eins sinkt dras­tisch, und die bes­se­ren Spie­ler wer­den oft von an­de­ren Teams aus der Zwei­ten Liga auf­ge­kauft, und zwar für ge­wöhn­lich zu so nied­ri­gen Trans­fer­prei­sen wie bei ei­nem Not­ver­kauf. Kurz ge­sagt, kann sich ein Ab­stieg für die be­trof­fe­nen Ver­ei­ne an­füh­len wie das Ende der Welt, selbst wenn das Fe­ge­feu­er nur kurz­le­big ist. So dau­ert es oft nur eine Sai­son oder zwei, bis ein Ver­ein den Wie­der­auf­stieg schafft. Ein Auf­stieg ist eine wei­te­re auf­re­gen­de, herz­er­wär­me­n­de Ge­schich­te des Sie­ges, des Über­win­dens von Wid­rig­kei­ten, die Clubs und Städ­te in al­len Fuß­ball­na­tio­nen die­ser Erde glei­cher­ma­ßen be­trifft.

Aber manch­mal stei­gen Mann­schaf­ten in­ner­halb von we­ni­gen Sai­sons von ganz oben aus der Bun­des­li­ga bis nach ganz un­ten in den Ama­teur­be­reich bis hin zur 5. oder 6. Liga ab. Ale­man­nia Aa­chen zum Bei­spiel spiel­te 2007 in der 1. Bun­des­li­ga, stieg dann in der Sai­son in die 2. Bun­des­li­ga ab, an­schlie­ßend in die 3. Liga, wel­che die höchs­te Ama­teur­li­ga ist, um 2014 ein wei­te­res Mal ab­zu­stei­gen in die 4. Liga oder Re­gio­nal­li­ga West.

Na­tür­lich gibt es auch vie­le Ge­schich­ten der ge­ra­de­zu ko­me­ten­haf­ten Auf­stie­ge, die den um­ge­kehr­ten Weg be­schrei­ben. Die Ge­schich­te des Klein­stadt­ver­eins der Turn- und Sport­ge­mein­schaft Hof­fen­heim 1899, kurz TSG Hof­fen­heim 1899, ist eine der be­mer­kens­wer­tes­ten in der deut­schen Fuß­ball­ge­schich­te. Mit ei­ner Ein­wohner­zahl von nur 3.270 Men­schen in Hof­fen­heim hat der Ver­ein sei­ne Wur­zeln in der Tur­ner­be­we­gung des spä­ten 19. Jahr­hun­derts. Die Fuß­ball­mann­schaft des TSG Hof­fen­heim war ein un­be­deu­ten­des Team in der 5. Liga, das noch im Jah­re 2000 im Ama­teur­be­reich düm­pel­te. Dann stie­gen die Hof­fen­hei­mer vier Li­gen in nur acht Sai­sons auf und er­reich­ten so 2008 die 1. Bun­des­li­ga. Und in der ma­gi­schen ers­ten Sai­son des Ver­eins in der 1. Liga kämpf­te sich Hof­fen­heim so­gar bis an die Spit­ze. Hof­fen­heim ge­wann in der Sai­son den in­of­fi­zi­el­len Ti­tel des Herbst­meis­ters der Bun­des­li­ga, be­vor er bis zum Ende der Sai­son wie­der auf den sieb­ten Platz zu­rück­fiel.

Für Klins­mann war das Er­leb­nis, mit sei­ner Mann­schaft den Ab­stiegs­kampf ge­won­nen zu ha­ben, un­ver­gess­lich. Die Kickers bahn­ten sich in der zwei­ten Hälf­te der Sai­son 1983/84 ih­ren Weg aus der Ab­stiegs­zo­ne und be­en­de­ten die Sai­son mit ei­nem re­spek­ta­blen neun­ten Platz. Da­mit wa­ren sie mit großem Si­cher­heits­ab­stand von der Ab­stiegs­zo­ne ent­fernt, in wel­cher der FC St. Pau­li (Platz 17), der VfR Bürstadt (Platz 18), Kickers Of­fen­bach (Platz 19) und der SSV Ulm 1846 (Platz 20) in die 3. Liga ab­stie­gen, wäh­rend der 1. FC Nürn­berg, Han­no­ver 96 und der 1. FC Saar­brücken den Auf­stieg in die Bun­des­li­ga schaff­ten.

Als Be­loh­nung für sei­ne Spie­ler, die sich ih­ren Weg aus der Ab­stiegs­zo­ne he­r­aus­ge­kämpft hat­ten, ver­sprach der Prä­si­dent der Kickers, Axel Dünn­wald-Metz­ler, sei­nen Spie­lern in der Mit­te der Sai­son eine Rei­se nach Flo­ri­da. Er mach­te die­ses Ver­spre­chen, dass er al­len einen Som­mer­ur­laub spen­die­ren wür­de, wenn die Mann­schaft min­des­tens den zehn­ten Ta­bel­len­rang oder bes­ser er­reich­te, als sei­ne Mann­schaft auf dem vor­letz­ten Ta­bel­len­platz stand.

Die­ser ers­te Ab­stiegs­kampf als Pro­fi ist Klins­mann in wun­der­ba­rer Er­in­ne­rung ge­blie­ben. „Es ist ein an­de­rer, ganz emo­tio­na­ler Teil des Fuß­ball­sports, den die Men­schen in Ame­ri­ka be­dau­er­li­cher­wei­se nicht er­le­ben kön­nen“, sagt er über die Ach­ter­bahn­fahrt, die er in je­ner Sai­son durch­kämp­fen muss­te, um den Ab­stieg zu ver­hin­dern. Klins­mann ist ja ein kla­rer Be­für­wor­ter des in­ten­si­ven Wett­be­werbs, den das Auf­stiegs-Ab­stiegs-Sys­tem mit sich bringt, da es die Spie­ler und Ver­ei­ne al­ler Li­gen bis zum Ende der Sai­son auf Trab hält. Er er­zählt, dass er auch in Ka­li­for­ni­en im­mer noch je­des Jahr im Früh­ling vor Son­nen­auf­gang auf­steht, um die­se be­son­de­ren Spie­le der Bun­des­li­ga oder Pre­mier League, in de­nen von An­fang bis zum Ende ge­kämpft wird, um in der höchs­ten Liga blei­ben zu kön­nen, live im Fern­se­hen zu ver­fol­gen. „Es be­deu­tet, dass du im­mer Leis­tung zei­gen musst“, sagt er.

Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen

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