Читать книгу Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen - Erik Kirschbaum - Страница 5
Teil I
Klinsmann – die frühen Jahre Wie alles begann
ОглавлениеJürgen Klinsmann war ein achtjähriges blondes Energiebündel, als er das erste Mal in einem Verein Fußball spielte. Das war 1973, und wie die meisten Jungs in seinem Alter nutzte er zuvor schon seit frühester Kindheit jede Gelegenheit, um mit seinen Kumpels Fußball zu spielen: auf der Straße, in Parks und in den Pausen auf dem Schulhof.
Bevor Jürgen Klinsmann mit acht Jahren erstmals in einer Mannschaft spielte, mit Regeln, Trikots und einem Trainer, hatte er es ein Jahr zuvor mit Turnen versucht, wozu ihn sein Vater animiert hatte. Siegfried Klinsmann, zu der Zeit 40 Jahre alt und von Beruf Bäckermeister, hatte in seiner Jugend geturnt und war in seiner Freizeit Trainer im örtlichen Turnverein, dem TB Gingen. Er dachte, dass Turnen für seinen Sohn eine gute Herausforderung sein könne und ein Ventil, einen Teil von Jürgens reichlich vorhandener Energie abzubauen. Also nahm er seinen zweitältesten Sohn mit in den Turnverein, als dieser sieben war. Aber das Bodenturnen, der Grätschsprung und der Balancierbalken hinterließen bei Jürgen keinen bleibenden Eindruck. Es fehlten ihm Spannung und „Action“, wie er sich erinnert. Ein wenig später nahmen ihn seine Kumpels mit zum Handballtraining. Aber auch das konnte ihn nicht nachhaltig überzeugen.
Im Winter 1973, einige Monate nachdem Deutschland 1972 die erste von drei Europameisterschaften gewonnen hatte, nahmen Freunde ihn mit zum Training der Fußballmannschaft des Turnerbund Gingen. Er war damals achteinhalb Jahre alt und liebte das Spiel in seiner organisierten Form sofort genauso, wie er zuvor das Kicken mit Freunden geliebt hatte. Die Schnelligkeit, Bewegung, die Energie des Sports faszinierten ihn und ganz besonders das Freudengefühl, wenn es ihm gelang, ein Tor zu schießen.
„Ich habe es einfach geliebt, viel zu laufen, alle Energie auf dem Feld herauslassen zu können, und ich liebte das großartige Gefühl danach“, erzählt Klinsmann in der Erinnerung an seine ersten Trainingseinheiten im Verein. „Fußball war ein so wunderbares Ventil für all die Energie, die ich hatte. Ich war besessen davon, zu rennen und zu spielen. Ich hatte so viel Energie, dass ich stundenlang Fußball spielen konnte. Es machte mir einfach großen Spaß und ich liebte es von Anfang an. Es gab mir ein richtig gutes Gefühl.“
Er wurde Mitglied im Fußballverein und trug die rot-weißen Trikots des TB Gingen. Vergleicht man die Hierarchie des Fußballs mit einer Pyramide, so befand sich der TB Gingen ganz am Fuße derselben, auf der Eingangsstufe des organisierten Fußballs. Aber für Jürgen führte der Weg von der breiten Pyramidenbasis in den darauffolgenden Jahren stetig nach oben bis zur Spitze. Tausende Jungen in seinem Alter begannen 1973 in einem Verein Fußball zu spielen, aber nur wenige erreichten die obere Stufe der Pyramide, die Bundesliga, und noch weniger schafften es wie er bis zur Spitze, in die Nationalmannschaft.
In den USA fehlen diese klaren Strukturen in der Fußballpyramide noch immer, und es ist eine nicht unwichtige Sache, die Klinsmann zu ändern versucht, seit er 2011 Trainer und 2013 Technischer Direktor der amerikanischen Nationalmannschaft wurde.
Als Kind hatte Klinsmann keine Vorstellung davon, wie weit er es im Fußball bringen würde. Er liebte es einfach, Fußball zu spielen und gemeinsam mit seinen Mannschaftskameraden und Freunden seine Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Sein Ziel damals war es, in die erste Mannschaft des TB Gingen zu kommen, einem Verein, der 1870 als Turnverein gegründet wurde. Im Laufe der Zeit kamen eine Handball-, eine Leichtathletik- und eine Fußballabteilung dazu. Viele Turnvereine wurden in Deutschland als Teil der nationalen Bewegung des 19. Jahrhunderts gegründet, lange bevor im Jahre 1874 der Fußball aus England importiert wurde. Aus diesem Grund tragen auch heute noch viele deutsche Spitzenclubs den Zusatz „Turnen“ im Vereinsnamen.
Jürgen Klinsmann genoss es, in einer Mannschaft Fußball zu spielen und merkte, wie sich seine Fähigkeiten durch das stundenlange Üben im Verein und zu Hause rasch und wie von selbst verbesserten. Im Gegensatz zu den USA gibt es in Deutschland keine Sportclubs als Teil der schulischen Aktivitäten, so dass die Kinder und Jugendlichen für diese Wettkampfaktivitäten Mitglied in einem Sportverein werden müssen. Klinsmanns tiefe langjährige Verbundenheit mit dem Fußballsport geht also ganz klar auf seine Zeit im TB Gingen zurück.
Es gibt zwischen den Städten in den USA und in Deutschland viele kleinere und größere kulturelle Unterschiede. Ein wichtiger Unterschied besteht darin, dass in einem Dorf wie Gingen, einer verschlafenen 4.000-Seelen-Ortschaft am Ufer des Flusses Fils, die vor mehr als 1.000 Jahren gegründet wurde, Zeit und Fortschritt mit einem anderen Maßstab gemessen werden als in den USA. Wenn die Bewohner eines Städtchens mit mehr als 1.000-jähriger Geschichte von einer Langzeitperspektive sprechen, so meinen sie damit nicht Wochen oder Monate. Geduld ist ein Bestandteil ihres Lebens. Wenn Jürgen Klinsmann von einer Langzeitperspektive für den US-amerikanischen Fußball spricht, dann tut er dies vor dem Hintergrund seiner deutschen Wurzeln und denkt dabei in Zeiträumen von Jahren oder Dekaden oder eventuell sogar Generationen anstatt von Monaten oder ein bis zwei Jahren.
Die Wochenend-Spiele des TB Gingen zogen dutzende von Zuschauern aus dem Ort an und zwar nicht nur Eltern und Freunde, sondern zahlreiche Bürger, die Freude daran fanden, den Kindern bei der Ausübung des beliebtesten deutschen Sports zuzuschauen. Klinsmanns Vater kam regelmäßig auf den Platz und schaute, wenn irgend möglich, bei jedem Spiel zu, nachdem die Arbeit in der Bäckerei für den Tag getan war.
Der organisierte Fußball ist bekanntermaßen eine ernsthafte Angelegenheit in ganz Deutschland. Der DFB, der Deutsche Fußball Bund, ist mit 6,9 Millionen Mitgliedern die größte Organisation dieser Art weltweit. Als sich Klinsmann beim TB Gingen einschrieb, war er damit eines von 112.858 Kindern in der Bundesrepublik Deutschland, die 1973 Mitglied eines Fußballvereins wurden. Die Mitgliedsgebühren waren mit ungefähr 30 DM im Jahr bezahlbar, so wie sie es auch heute noch sind. Trainer waren damals wie heute meist ehemalige Vereinsspieler, welche die Traineraufgabe in der Regel ehrenamtlich übernahmen. Dies steht in einem weiteren Gegensatz zur Situation in den Vereinigten Staaten, wo Trainer meistens hauptamtlich tätig sind, dafür aber nicht unbedingt über eigene Erfahrungen als Spieler verfügen. Dadurch, dass Fußball in Deutschland seit jeher eine relativ preiswerte Sportart war, war und ist er bei Kindern aus allen gesellschaftlichen Schichten beliebt, vor allem in Familien mit eingeschränkten finanziellen Mitteln. „Wir kamen alle aus Familien mit einem bescheidenen Einkommen und haben uns durchgekämpft“, erzählt Klinsmann. „International betrachtet, ist Fußball ein Sport, den hauptsächlich Kinder aus Familien der Unter- und Mittelschicht ausüben. In den USA ist dies anders.“
Es gab 1973 insgesamt 98.911 Mannschaften in den 15.980 Clubs, die damals beim DFB registriert waren. Von 1972 bis 1973, dem Jahr, in dem Klinsmann Vereinsmitglied wurde, stieg die Mitgliederzahl der beim DFB eingeschriebenen Spieler von 3.084.901 auf 3.197.759 an. In den nächsten vier Jahrzehnten verdoppelte der DFB seine Mitgliederzahl auf 6.889.115 im Jahr 2015. Anders ausgedrückt, spielten 2015 in Deutschland mehr Menschen Fußball, als Dänemark, Finnland oder Jordanien Einwohner haben.
Die Punktspiele der Kinder und Jugendlichen waren in vielen kleinen und größeren Städten in ganz Deutschland wichtige Ereignisse, die nicht nur den Kindern ein Ventil boten, sondern gleichzeitig eine wichtige gesellschaftliche Funktion in den Gemeinden einnahmen, die sportbegeisterte Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern und innerhalb der Gemeinden verbinden. Die Zahl der neuen Vereinsmitglieder steigt normalerweise in den auf einen EM- oder WM-Sieg der deutschen Nationalmannschaft folgenden Jahren signifikant an, nachdem praktisch die gesamte Nation das Turnier im Fernsehen verfolgt hat mit Rekordeinschaltquoten von bis zu 86 %. Das Jahr 1973, ein Jahr, nachdem die Bundesrepublik die Sowjetunion mit 3:0 geschlagen hat und damit bei der EM in Belgien erstmals den Europameistertitel gewann, stellte hierbei keine Ausnahme dar. Tausende Kinder im ganzen Land wurden wie Klinsmann dadurch motiviert, Mitglied in einem Fußballverein zu werden.
Die klassische amerikanische „soccer mom“ gibt es in Deutschland in dieser Form nicht und erfordert in Deutschland und in vielen anderen Ländern der Welt großen Erklärungsbedarf. Denn Fußball ist in Deutschland ein Sport, der Menschen aller gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen gleichermaßen begeistert und ist nicht auf die Hausfrauen aus den besser gestellten Vororten beschränkt, die ihre Kinder zu diversen außerschulischen Aktivitäten kutschieren. In Deutschland schauen bei den Spielen Mütter, Väter, Geschwister, Tanten und Onkel, Oma und Opa zu und fahren und begleiten ihre Kinder, Geschwister oder andere Familienmitglieder freudig zum Training und zu Punktspielen. „Als Kind wird man von seiner Umgebung geprägt, und meine Umgebung war halt ein kleiner Verein in meinem Heimatort, der verschiedene Sportarten anbot – Turnen, Handball und Fußball“, erzählt Klinsmann, der in den USA versucht, eine ähnlich breitbasige Struktur für den Fußballsport aufzubauen, die Spieler aus den Jugendmannschaften bis ganz an die Spitze führt. „Meine Familie war dem Turnen verbunden, daher probierte man das zuerst aus. Dann nimmt ein Freund dich mit zum Handballtraining, und du versuchst es damit. Der nächste Freund nimmt dich dann zum Fußballtraining mit, und dort stellst du fest, dass dir das am meisten Spaß macht. So funktionierte es damals in Deutschland. Das ist das Schöne an dem dortigen Vereinssystem. Du kannst ganz einfach verschiedene Dinge ausprobieren, um herauszufinden, was das Richtige für dich ist. Es hängt außerdem viel davon ab, was deine besten Freunde machen und das wird in Deutschland in 90 % der Fälle Fußball sein.“
Klinsmann wurde am 30. Juli 1964 in Göppingen geboren, in der Nähe von Gingen. Dieses Jahr markierte den Gipfel des Babybooms in Deutschland mit der Rekordgeburtenrate von 1.357.304 Kindern in West- und Ostdeutschland zusammengenommen. Niemals davor oder danach wurden in Deutschland in einem einzigen Jahr so viele Kinder geboren.
Klinsmann war von den Wettbewerbsbedingungen innerhalb der Jugendmannschaft des TB Gingen fasziniert und gleichzeitig durch seine sich ständig verbessernden Leistungen angespornt. Schon im zarten Alter von acht Jahren war er hoch motiviert und besaß den unstillbaren Wunsch, sich zu verbessern. Er wollte der beste Spieler auf dem Platz sein und in den Spielen so viel wie möglich eingesetzt werden. Natürlich wollte er außerdem gewinnen und möglichst viele Tore schießen – ein Ehrgeiz, der ihn das nächste Vierteljahrhundert über antreiben und bis ganz nach oben bringen sollte.
Klinsmann vermeidet es im Großen und Ganzen, in der Vergangenheit zu schwelgen. Dennoch huscht ein Lächeln über sein Gesicht, wenn er an seine Fußballbegeisterung als Kind zurückdenkt. „In dieser kleinen Gemeinschaft war man einfach davon besessen, Fußball zu spielen. Also machst du das mit deinen Kumpels auf der Straße, und irgendwann probierst du es im örtlichen Fußballverein. So habe ich angefangen. Damals war acht Jahre in etwa das früheste Einstiegsalter, um im Verein zu spielen. Für jüngere Kinder gab es damals noch keine Strukturen. Das hat sich heute komplett geändert. Heutzutage fangen viele Kinder bereits mit fünf Jahren an, im Verein zu spielen!“
Fußball war ein Jahrzehnt vor Klinsmanns Geburt ein wichtiger Baustein der nationalen Identität geworden. Dies resultierte zum Teil aus der Euphorie, die ausbrach, als das Land 1954 durch den Sieg über Ungarn die Weltmeisterschaft gewann und aus den Nachwirkungen dieses historischen Triumphes. Der unerwartete Erfolg des Teams der jungen Bundesrepublik war einer der auslösenden Faktoren des deutschen „Wirtschaftswunders“ und der unerwartete Aufstieg aus den Ruinen des 2. Weltkrieges. Der starke Einfluss, den der Fußball auf die deutsche Psyche ausübte, kann zu einem erheblichen Anteil auf diesen legendären Weltmeisterschaftssieg zurückgeführt werden. Der Gewinn der Weltmeisterschaft nach und in so schwierigen Zeiten leistete einen wichtigen Beitrag zu einer sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Kettenreaktion, von der Volkswirtschaftler behaupten, dass sie geholfen habe, das legendäre Wirtschaftswunder, den Boom der 50er-Jahre auszulösen. Nach einem Jahrzehnt der Nachkriegsdepression und Verzweiflung hellte sich die Stimmung schlagartig auf. Der Fußball half mehr als alles andere, das Land aus seiner Nachkriegslethargie zu befreien. Der Titelgewinn 1954 verbesserte die Grundstimmung und half Millionen von Deutschen, sich nach Jahrzehnten der Ächtung und Isolation als Folge der Nazi-Vergangenheit wieder als Teil der Weltgemeinschaft fühlen zu können. Verständlicherweise war und ist Fußball seitdem mehr als nur ein Spiel für die Deutschen.
Klinsmanns zweiter Geburtstag hätte ein Freudentag für ganz Deutschland werden können, wurde stattdessen aber ein Tag der Trauer. Das Land war weder 1958 noch 1962 in der Lage, den Erfolg des Weltmeisterschaftssieges von 1954 zu wiederholen. 1958 verloren sie das Halbfinale gegen den Gastgeber Schweden 3:1 und 1962 schieden sie durch eine 1:0-Niederlage gegen Jugoslawien im Viertelfinale aus. Aber 1966 waren sie nahe dran, nach zwölf Jahren wieder eine Weltmeisterschaft zu gewinnen. Sie erreichten das Finale gegen Gastgeber England. Aber sie verloren, als Englands Geoff Hurst in der elften Minute der 30-minütigen Nachspielzeit ein umstrittenes Tor zugesprochen wurde und der Spielstand dann 3:2 lautete. Hursts Schuss war gegen die Latte geprallt und auf, aber eventuell nicht ganz über die Linie gesprungen, bevor ein deutscher Verteidiger den Ball aus dem Torbereich klären konnte. War es wirklich ein Tor oder nicht? Es ist eine der ganz großen Kontroversen des Fußballs und wird vermutlich nie abschließend gelöst werden. England schoss eine Minute vor Abpfiff ein viertes Tor, als Deutschland nach vorne stürmte in dem verzweifelten Versuch, ein Ausgleichstor zu schießen.
Eine Woche, nachdem Jürgen Klinsmann 1973 in die Jugendmannschaft des TB Gingen eingetreten war und einen ersten Eindruck vom Fußball mit festen Regeln bekommen hatte, wurde er in den letzten zehn Minuten eines Punktspiels gegen einen Verein namens FTSV Kuchen als Ersatzspieler eingesetzt. Er wurde aufs Feld geschickt, nachdem man ihm noch eine kurze Einweisung in eine Regel gegeben hatte, um die sich beim Spielen mit seinen Kumpels bisher niemand Gedanken gemacht hatte. „Hei, was isch eigentlich Abseits?“, fragte Klinsmann, bevor er aufs Feld lief. So beschreibt Roland Eitel Klinsmanns Anfänge beim TB Gingen in seiner Biografie Jürgen Klinsmann – Der Weg nach oben. Beim nächsten Spiel, eine Woche später gegen den SV Altenstadt, schoss Klinsmann bei einem 5:1-Sieg für seine Mannschaft sein erstes Tor. In der E-Jugend, in der die Acht- bis Zehnjährigen spielen, wurde Klinsmann für sein Talent als Torjäger bald bekannt.
Wie man weiß, sind die Deutschen in den meisten Dingen sehr gut organisiert, und das trifft ganz besonders auf den Fußball zu. Obwohl er in seiner offiziellen Form wenig an Schulen und Universitäten gespielt wird – im Gegensatz zu den USA –, gibt es das eingangs beschriebene pyramidenförmige System mit seiner klaren Hierarchie, in der Spieler nach Alter und nach Leistung Stufe für Stufe erklimmen können.
Als Klinsmann anfing Vereinsfußball zu spielen, begann die nach Alter strukturierte Einteilung mit der E-Jugend, in der im Gegensatz zu den Jugend- und Erwachsenenteams nur sieben statt elf Spieler auf dem Feld sind. Im Jugendbereich folgten auf die E-Jugend vier weitere Altersstufen, D (11 bis 13 Jahre), C (14 bis 15 Jahre), B (16 bis 17 Jahre) und A (18 bis 19 Jahre), bevor die Jugendlichen in die Erwachsenenmannschaft aufgenommen werden konnten. Wobei spätestens nach dem Durchlaufen der A-Jugend viele Spieler den Vereinsfußball zunächst verließen, da sie entweder leistungsmäßig nicht mithalten konnten oder wollten beziehungsweise oft durch Beruf oder Studium anderweitig eingebunden waren.
Dies hat sich bis heute kaum geändert. Der Unterschied besteht vor allem darin, dass die Kinder heutzutage wesentlich früher anfangen, in einer Mannschaft zu spielen, sodass es bereits eine G-Jugend für die unter Siebenjährigen gibt und eine F-Jugend für die Sieben- bis Achtjährigen. „Durch diese organsierte Form des Fußballsports werden auch für die Jüngeren die Ergebnisse aufgeschrieben, man hat seine feste Mannschaft in einer vorgegebenen Liga und man trägt Mannschaftstrikots“, sagt Klinsmann. „Dies ist der Moment, in dem man das, was man beim Spielen auf der Straße gelernt hat, auf den organisierten Fußball überträgt und weiterentwickelt.“
Unterschwellig verbreitet dieses strikte Einteilungssystem eine subtile Botschaft, indem es den Kindern und Jugendlichen einen ständigen Anreiz bietet, die nächsthöhere Stufe zu erreichen. Es weckt ab einem frühen Alter bei den Kindern den Wunsch, besser zu werden. Die subtilen Druckmittel und Belohnungen, die in diesem System versteckt sind, sollen die Spieler beständig darin bestärken, die nächste Stufe der Pyramide erklimmen zu wollen und ihnen gleichzeitig das Gefühl geben, dies sei die natürlichste Sache der Welt.
Klinsmann hatte als Achtjähriger eine unbegrenzte Energie und Antrieb, aber nicht die leiseste Ahnung, dass er eines Tages seinen Lebensunterhalt durch Fußball spielen verdienen würde und noch viel weniger, dass er mit elf Toren bei drei Weltmeisterschaften einer der profiliertesten Torschützen seines Landes werden würde. Wie die meisten seiner Freunde beim TB Gingen überstieg es seine Vorstellungskraft, dass er im Fußball weit genug kommen würde, um dies beruflich auszuüben. Er liebte es einfach, zu spielen und genoss von Anfang an den damit einhergehenden Leistungsdruck. „Zu dem Zeitpunkt hast du keine Ahnung, wie sich dein Leben entwickeln wird“, sagt er. „Du spielst Fußball, weil es dir Spaß macht und weil es das ist, was deine Freunde tun.“
Klinsmann bewahrte sich diese kindliche und ansteckende Begeisterung auf dem Spielfeld, während er Stufe um Stufe die Pyramide des Fußballs höherstieg. Auch in späteren Jahren war es für Klinsmann-Fans eine Freude zu sehen, dass er sich diese jugendliche Begeisterung bewahrt hatte, die sich vor allem in seinen ungebremsten Freudenstürmen bei Toren für sein Land oder seine jeweiligen Vereine in Deutschland, Italien, Frankreich und England zeigte. Diese sorglose Unschuld schien im Widerspruch zu stehen zu seinem Alter, seiner jahrelangen Erfahrung und seinem Status als Profi. Der Jubel, wenn er ein Tor schoss, schien sich nicht von dem zu unterscheiden, wie der zehnjährige Jürgen Klinsmann seine Tore für den TB Gingen gefeiert hatte. Sogar vier Jahrzehnte später muss sich jeder, der beobachtet, wie Klinsmann sich beim Training auf dem Platz mit den Spielern der amerikanischen Nationalmannschaft in „5 gegen 2“-Fußball-drills stürzt, über die jugendliche Begeisterung dieses über 50-jährigen Trainers wundern.
In einem auf Fußball fixierten Land wie Deutschland lag eine mögliche Karriere als Profi für die meisten Jugendlichen außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Die Bundesliga und gar der Profibereich schienen Lichtjahre entfernt. Die Bundesligaspiele wurden damals nicht einmal live im Fernsehen übertragen. Stattdessen gab es die Sportschau, in der die Höhepunkte der einzelnen Spiele oft in kurzen Filmbeiträgen zusammengefasst und diskutiert wurden. Zu der Zeit hatte Klinsmann ganz andere Zukunftspläne. Er erzählte jedem, der ihn danach fragte, dass er Pilot werden wolle, wenn er groß sei. Fußball spielte er nur zum Spaß. „In diesem Umfeld einer Fußballnation hatte jedes Kind, das mit ein bisschen Talent gesegnet war, zunächst ein einziges Ziel, und zwar jenes, das sich direkt vor ihnen in Sicht- und Reichweite befand“, erzählt Klinsmann. Er bewundert das kühne Selbstbewusstsein der Kinder des 21. Jahrhunderts in den USA, wo die Träume groß sind und die Kinder sich ohne zu zögern vorstellen, dass sie später selbst einmal die Stars in einem NBA-Finale, einem Super Bowl oder einem Weltcup sein könnten. „Als ich ein Kind war, dachte man eher: Du wirst niemals gleich ein Ziel erreichen, das hunderte von Kilometern entfernt liegt. Das war alles so weit weg“, erzählt er mit nicht wenig Verwunderung über die Fähigkeit junger Amerikaner, ihre Ziele so hoch zu stecken.
Er war im Juli 1973 gerade neun Jahre alt geworden und hatte hart trainiert, sowohl im Verein beim TB Gingen als auch zu Hause mit Freunden, wo sie stundenlang gegen Wände und Garagentore spielten. Eines Tages spielte er für Gingen gegen einen Fußballclub aus Aichelberg. Obwohl er erst seit wenigen Monaten im Verein spielte, schoss Klinsmann 16 Tore, und seine Mannschaft gewann 20:0. Das Ergebnis war umso beeindruckender, wenn man bedenkt, dass die Punktspiele in dieser Altersklasse nur aus zwei Halbzeiten à 20 Minuten bestehen. Klinsmann fühlte, dass sich die tausenden Stunden, die er mit seinen Freunden und im Verein geübt hatte, auszuzahlen begannen. Seine Pässe, sein Ballgefühl und seine Schüsse wurden kontinuierlich besser. Für Klinsmann war das eine wichtige Lektion über den Sinn und den Lohn harter Arbeit, die er für sein ganzes weiteres Leben verinnerlichte.
„Es war dieser enorme Antrieb durch das Spielen in der Nachbarschaft“, erinnert sich Klinsmann. „Der Verein war mit einem Spiel und einer Trainingseinheit nur eine Ergänzung. Das echte Training fand in einer Umgebung statt, die sich selbst antrieb, jeden Tag. Das war meine Hauptfreizeitbeschäftigung in der Nachbarschaft damals. Ich ging nach draußen und spielte täglich nach der Schule – oder wenn ich mit meinen Hausaufgaben fertig war – drei, vier oder fünf Stunden Fußball. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie gut oder wie schlecht ich war. Ich wollte einfach besser werden – und Tore schießen. Ich hatte keine Ahnung, wie die Dinge sich entwickeln würden. Ich liebte ganz einfach das Gefühl, Tore zu schießen, egal ob beim Punktspiel auf dem Feld oder zwischen zwei Stöcken oder zwei Kleiderhaufen. Wann immer ich ein Tor schoss, rannte ich in das Tor hinein, holte den Ball und brachte ihn so schnell ich konnte zurück zur Mittellinie. Ich legte den Ball ab und sagte zu der anderen Mannschaft: Los, weiter.“
Klinsmanns Erfolgsbilanz nach seiner denkwürdigen ersten Saison in der Jugendmannschaft belief sich auf 106 Tore in 18 Spielen. Anders ausgedrückt also sechs Tore pro Spiel. Das war eine beachtliche Leistung für einen Neuling in einer Gegend, die als eine von vielen Brutstätten des Fußballs in Deutschland galt. Seine Torerfolge weckten Klinsmanns Appetit auf mehr ...
„Kurz nach seinem neunten Geburtstag wurde er sogar über die engen Grenzen von Gingen hinaus bekannt“, schreibt Eitel über diesen außerordentlichen Star in seiner Biografie über Klinsmann. Eitel war Sportreporter für die Stuttgarter Zeitung und wurde später Klinsmanns Freund und sein Medienberater in Deutschland. „Das große Talent Jürgen Klinsmann wurde dort in Gingen entdeckt. Es dauerte nicht lange, bis er, die Sporttasche tragend, die fast so groß war wie er selbst, nach Hause kam und auf Schwäbisch verkündete: Mir hen g’wonne, i han a Tor g’schosse. Mit der Zeit betrat Jürgen immer öfter am späten Samstagnachmittag das Haus der Klinsmanns mit dieser Kunde.“