Читать книгу Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen - Erik Kirschbaum - Страница 4
Anmerkungen des Autors
ОглавлениеGemeinsam mit Millionen amerikanischer Baby-Boomer wuchs ich, was Fußball betrifft, in den USA im Dunkeln auf. Zunächst leider ziemlich unfähig, die Attraktivität dieses Spiels zu schätzen und zu verstehen, in dem so wenige Tore fallen, das so anders und unamerikanisch schien, von dem es kaum Fernsehübertragungen gab, das so fremdländisch anmutete, blieben die Feinheiten und der Reiz des Fußballs über Jahrzehnte für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Ich konnte die Begeisterung für eine Sportart, bei der für so wenige Tore so viel herumgerannt wird, einfach nicht begreifen.
Wie Millionen uneingeweihter Amerikaner behielt ich die Scheuklappen auf, in unbekümmerter Unkenntnis der Finessen dieses Spiels, das dem Rest der Welt schon lange ganz einfach als „the beautiful game“ bekannt war. Weltmeisterschaftsspiele wurden in den USA bis 1982 nicht einmal im Fernsehen übertragen und erst seit der WM 1998 in Frankreich werden alle Spiele live übertragen, wie dies in den meisten Ländern der Welt schon lange der Fall war.
Demnach war es für mich als Teenager 1976, unterwegs zu meinem ersten Fußballspiel im Stadion – ein New-York-Cosmos-Play-off-Spiel –, ein Schock, als ein Freund versuchte mir klarzumachen, dass Fußball tatsächlich die weltweit beliebteste Sportart sei. Was? Niemals! Der Rest der Welt muss da komplett falschliegen, war unsere ethnozentrische Denkweise im Bus auf dem Weg zum Shea-Stadion, um das Spiel zu sehen. Ausländer waren vermutlich nicht in der Lage, die Feinheiten von amerikanischen Sportarten wie Fußball, Basketball und Baseball zu verstehen. Behaltet nur euren Fußball zusammen mit eurem seltsamen metrischen System! Abgesehen davon machte die Erkenntnis, dass die Welt den Fußball Sportarten wie American Football vorzog, das Spiel für mich umso rätselhafter. Wie bizarr, dass so viele Leute einen Sport spielten und verfolgten, in dem es nicht einmal erlaubt war, die Hände zu benutzen – die geschicktesten Körperteile!
Sogar viele Jahre später, nachdem ich 1982 zum ersten Mal in das fußballverrückte Deutschland umgezogen war, schenkte ich der Sportart kaum Beachtung. Stattdessen blieb ich bis weit nach Mitternacht europäischer Zeit auf, um verwackelte NFL- oder NBA-Übertragungen auf dem American Forces Network (AFN) zu verfolgen, ein Kanal ohne Werbeunterbrechungen, der für die amerikanischen Streitkräfte eingerichtet worden war, die in Westdeutschland stationiert waren. Ich spielte in der Freizeit Touch Football (sanftere Art des American Football, bei dem der Gegner berührt wird, statt zu Fall gebracht zu werden) mit anderen amerikanischen Expatriates, und wir waren die Exoten in den Parkanlagen, wo es überall sonst von spontanen Fußballspielen wimmelte. Und ich erinnere mich daran, wie ich in Diskussionen mit deutschen Freunden und Arbeitskollegen stur darauf beharrte, dass die National Football League (NFL), National Basketball League (NBA) und Major League Baseball (MLB) alle weit interessanter seien als die Fußball-Bundesliga in Westdeutschland und sogar als die Fußball-Weltmeisterschaft – aber all diese Argumente entstammten meiner Ignoranz und waren auf bedauerliche Weise engstirnig.
Die Offenbarung kam spät in meinem Leben, nämlich 2004, als ich schon weit über 40 war und insgesamt fast zwei Jahrzehnte in Deutschland, Österreich und England verbracht hatte. Es dämmerte mir plötzlich, warum Fußball in Ländern wie Deutschland und England so viel mehr als ein Sport ist und warum seine Beliebtheit Kulturen, Grenzen, Religion und Politik überschreitet. 2004 feierte Deutschland das 50-jährige Jubiläum seines ersten Weltmeistertitels von 1954 und der Deutschlandfunk sendete eine Wiederholung der Rundfunkübertragung des Endspiels von 1954, in dem Westdeutschland Ungarn schlug. Die Übertragung wurde komplett wiederholt, und zwar zu der gleichen Uhrzeit wie die Originalübertragung am 4. Juli 1954. Es war ein magisches Erlebnis für mich, ein halbes Jahrhundert zurückversetzt zu werden und die Kraft dieses wunderbaren Momentes deutscher Fußballgeschichte nachzufühlen – die Ursprünge der Liebesaffäre dieses Landes mit dem Fußball zu verstehen und plötzlich den tiefen Einfluss zu begreifen, den dieses Spiel auf die Kultur dieses Landes, seine Psyche, Identität und seine gesamte Nachkriegsgeschichte ausübt.
Zur selben Zeit 2004 war es für einen Journalisten verwunderlich, Deutschlands monatelange, mühsame Suche nach einem neuen Fußballtrainer zu verfolgen, nachdem das Team bei der Europameisterschaft unerwartet in der ersten Runde ausgeschieden war, ohne ein einziges seiner Gruppenspiele zu gewinnen. Zeitweise schien für die meisten Deutschen die Suche nach einem neuen Fußballtrainer sogar wichtiger zu sein als ein neuer Bundeskanzler, und alle anderen Nachrichten in Deutschland verschwanden für fast einen Monat von den Titelseiten, während der DFB sich wochenlang abmühte, einen Trainer zu finden, der unerschrocken genug war, diesen schwierigen Job anzunehmen – und das nur zwei Jahre, bevor Deutschland Gastgeber der WM 2006 sein würde. Was als ein Problem begann, wurde zur kompletten Farce. Aber letztendlich entwickelte sich die Krise zu einer fantastischen Gelegenheit zur Veränderung, als die vom DFB ins Leben gerufene „Trainerfindungskommision“ (TFK) das Zepter an Jürgen Klinsmann überreichte.
Es war faszinierend, Klinsmann dann von einem Platz in der ersten Reihe aus zu sehen: ein Ex-Spieler ohne Erfahrung als Trainer, wie er dem ehrwürdigen DFB selbstbewusst seine revolutionären Reformen mit seinen weitreichenden Konsequenzen vorstellte. Er vollbrachte bei der deutschen Nationalmannschaft wahre Wunder mit seinen Ideen, die er zum Teil in den USA gesammelt hatte. Dass Klinsmann es schaffte, aus fast 10.000 Kilometer Entfernung von seiner Wahlheimat Kalifornien aus den DFB zu modernisieren und quasi einer Generalüberholung zu unterziehen, macht die ganze Geschichte umso spannender. Es war, wie Klinsmann selbst gerne sagt, eine dieser unglaublichen Geschichten, die nur der Fußball schreibt.
Mit seiner universellen Popularität hat Fußball die Kraft, die Weltgeschichte zu beeinflussen. Ganze Länder feiern vereint in der Hoffnung auf einen Sieg oder kollabieren gemeinsam bei einer Niederlage. Es ist fesselnd, das Schicksal, Wohlbefinden und Glücksgefühl einer ganzen Nation davon abhängig zu sehen, wie sich ihre Nationalmannschaft bei einem großen Turnier wie einer Weltmeisterschaft oder einer Europameisterschaft anstellt.
Es gibt viele Zutaten, die diesen Sport besonders machen, und er ist zugegebenermaßen etwas für Kenner. Für einen Amerikaner, der wie ich ohne Fußball im Fernsehen zu sehen aufwuchs und stattdessen aktiv und passiv mit einer Fülle an anderen Sportarten großgeworden ist, kann es eine Weile dauern, bis man die Schnelligkeit, das Können, die Kunstfertigkeit, das Durchhaltevermögen, die Genialität und die unglaubliche Athletik wertschätzen kann, welche die weltbesten Fußballer aufzeigen. Football, Baseball und Basketball erscheinen mir inzwischen viel weniger interessant, ja fast langweilig mit all ihren ständigen Unterbrechungen und Wiederanfängen, trotz der hohen Torfrequenz. Ich habe schon lange aufgehört, in Europa bis spät in die Nacht aufzubleiben um irgendwelche amerikanischen Sportarten im Fernsehen zu verfolgen und kann mich nicht einmal dazu aufraffen, wenn ich in den Vereinigten Staaten bin. Stattdessen herrschen bei mir inzwischen umgekehrte Verhältnisse, was so weit geht, dass ich extra früh aufstehe, um den europäischen Fußball zu verfolgen, wenn ich in den Vereinigten Staaten bin und in Übersee die Ergebnisse nachschaue.
Im Fußball gibt es keine Werbeunterbrechungen und keine Verletzungsauszeiten – es ist wie im wahren Leben, wo es keine Möglichkeit gibt, die Uhr anzuhalten. Es ist ein Sport, dessen Spiele seit seiner Erfindung vor mehr als einem Jahrhundert 90 Minuten dauern, die lediglich durch eine kurze Halbzeitpause unterbrochen werden. Es gibt nur wenige Sportmomente, die so fesselnd sind wie die ununterbrochene und unaufhaltsame Dramatik der letzten zwei oder drei Minuten eines engen Fußballspiels, in dem ein Team verzweifelt darum kämpft, ein Tor zu schießen, um das Spiel zu gewinnen oder ein Unentschieden zu erzielen – oder alles daransetzt, dies zu verhindern. Und es gibt nichts, was an die Freude herankommt, die in fast jedem Stadion auf der ganzen Welt ausbricht, wenn eine Mannschaft in einem wichtigen Spiel endlich ein Tor schießt. „Über Fußball macht man sich oft lustig, weil so wenige Tore fallen, aber eben weil Tore so rar sind, ist die Freude darüber größer als in jedem anderen Sport“, argumentierten Simon Kuper und Stefan Szymanski in ihrem 2009 erschienenen Buch Soccernomics.
Fußball kann so starke Emotionen auslösen, dass dadurch sogar einmal ein Krieg zwischen Honduras und El Salvador wurde. Dieser sogenannte „Fußballkrieg“ ereignete sich 1969 und dauerte 100 Stunden. Seine Ursachen gingen über den Fußball hinaus, aber er entbrannte unglaublicherweise, nachdem El Salvador Honduras mit 2:1 Spielen in der Qualifikation für die Weltmeisterschaft 1970 geschlagen hatte. Bei der Weltmeisterschaft 1994 schied Kolumbien aus, nachdem die USA die Südamerikaner dadurch 2:1 besiegt hatten, dass Kolumbiens Verteidiger Andrés Escobar durch ein Eigentor den Siegestreffer für die Vereinigten Staaten erzielt hatte. Escobar hatte versucht, den Pass von Amerikas Mittelfeldspieler John Harkes abzufangen, dabei den Ball aber versehentlich ins eigene Tor gelenkt. Zehn Tage später wurde er mit sechs Schüssen ermordet – der Täter schrie beim Schießen „Tor!“.
Fußball ist ein Sport, den Menschen eines jeden Alters auf sechs Kontinenten spielen. Es vereint die Welt wie keine andere Sportart, besonders während der alle vier Jahre ausgetragenen Weltmeisterschaften. Interessanterweise ist es ein Spiel, mit dem sich die Vereinigten Staaten in der internationalen Arena, wo Fußball mit so viel Leidenschaft gespielt wird, aus verschiedensten Gründen immer noch in der Lernphase befinden. Aber es ist auch ein Sport, in welchem die USA eines Tages zu den Weltbesten gehören könnten; vorausgesetzt, die Amerikaner wären in der Lage, Fußball als etwas ganz anderes wertzuschätzen und zu akzeptieren, dass es ein Sport mit internationalen Standards und Abläufen ist und kein Spiel, dessen Regeln und Richtlinien die Vereinigten Staaten bestimmen können.
Die USA haben ein enormes bisher ungenutztes Potenzial, was den Fußball angeht. Außerdem sind sie in der glücklichen Lage, einen der weltbesten Trainer zu haben mit einem reichen Erfahrungsschatz sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten – Jürgen Klinsmann.
Er gewann als Stürmer für Deutschland die Weltmeisterschaft 1990, indem er drei Tore schoss, und ist einer der erfolgreichsten WM-Torschützen aller Zeiten mit elf Toren in drei Turnieren. Nach seinem Rücktritt als Spieler zog er 1998 in die USA und erreichte später als Trainer der deutschen Nationalmannschaft den dritten Platz bei der WM 2006, während sein Hauptwohnsitz in Kalifornien blieb und er nach Deutschland pendelte: 42 Langstreckenflüge im Laufe jener zwei Jahre. 2011 wurde er als Trainer der amerikanischen Nationalmannschaft engagiert – nach einer rekordverdächtigen Anwerbephase, die mit vielem Hin und Her insgesamt fünf Jahre dauerte. Er brachte durchgreifende, teils umstrittene Reformen auf den Weg, die der amerikanischen Nationalmannschaft 2013 zu einem Rekord-Erfolgsjahr verhalfen. Die Mannschaft hatte zwölf Siege in Folge, qualifizierte sich zum siebten Mal für die Weltmeisterschaft und übertraf mit dem Erreichen der Runde der letzten 16 Mannschaften alle Erwartungen, nachdem das Team in der sogenannten „Todesgruppe“, der schwierigsten Vierergruppe des Turniers, Zweiter hinter Deutschland geworden war. Hierfür wurde Jürgen Klinsmann von der FIFA als einer von zehn Trainern für die Wahl zum weltbesten Trainer des Jahres nominiert. Klinsmann ist ein furchtloser, reformorientierter Trainer und technischer Leiter mit unerschütterlichen Überzeugungen, der innerhalb des wichtigen westeuropäischen Fußballnetzwerkes, Wiege des Sports, dessen Ursprungsländer bisher die Weltmeisterschaften dominierten, über gute Verbindungen verfügt. Klinsmann weiß, was nötig ist, um eine der weltbesten Fußballnationen zu formen, und die Herausforderungen dieser langen Reise faszinieren ihn.
Fußball ist anders. Seine Regeln, Bräuche, Traditionen und sein Erbe unterscheiden sich komplett von anderen amerikanischen Sportarten, obwohl es in den 20er-Jahren vor dem Zusammenbruch der Aktienmärkte und der folgenden Weltwirtschaftskrise eine bemerkenswert „goldene Ära“ gab, als Fußball, dank der hohen Anzahl neu angekommener Immigranten aus Europa, in einigen Gegenden der USA für eine kurze Zeit tatsächlich populärer als Football war. Aber rivalisierende Ligen und die steigende Popularität des College Footballs trugen zusammen mit dem Börsencrash zu einem frühen Niedergang des Profifußballs bei.
Dennoch ist Fußball kein Spiel, das leicht in das amerikanische Sportraster hineinpasst mit seiner Vorliebe für Fernseh-Auszeiten, mit Ausscheidungsspielen nach der Saison (post-season play-offs), mit der Parität der Ligen und amerikanischer Vorherrschaft. Es ist ein Spiel der Geduld und des Genusses, sowohl subtil als auch spektakulär. Es ist ein Spiel, in dem die Spieler auf dem Feld den Großteil der Entscheidungen treffen. Es ist ein Spiel mit etwa 400 oder mehr Pässen pro Mannschaft und eines, in dem der einzelne Spieler den Ball im Durchschnitt nur ungefähr 50 Sekunden hat, was bedeutet, dass er die verbleibenden 89 Minuten damit verbringt, zu laufen und zu versuchen, den Ball in die richtige Position zu bringen, um ein Tor zu schießen oder zu verhindern. Fußballspiele können durch Entscheidungen gedreht werden, die im Bruchteil einer Sekunde gefällt werden. So kann sogar eine überlegene Mannschaft innerhalb eines winzigen Moments von einem unterlegenen Gegner, einem Außenseiter, geschlagen werden, wenn er es schafft, einen „Glückstreffer“ zu erzielen, so wie ein deklassierter Boxer, der allen Wetten zum Trotz mit einem „lucky punch“ einen Knock-out-Sieg erlangt. Und es ist ein ungewöhnlich unvorhersehbares Spiel, in dem unterlegene Mannschaften überlegene Teams durch Angriffslust, Willenskraft und den wortwörtlichen „Schuss ins Blaue hinein“ so aus dem Konzept bringen können, dass der hohe Favorit letztlich als Verlierer vom Platz geht.
Auch über Fußball zu schreiben ist anders als bei anderen Sportarten. Wenn 50 Sportjournalisten zusammen auf der Pressetribüne sitzen, um über ein Fußballspiel zu berichten, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass hinterher 50 verschiedene Interpretationen des Spielverlaufs dabei herauskommen. Fußball ist wie eine weiße Leinwand mit 22 Künstlern auf dem Feld, die sich abrackern, nachdenken, sprinten, angreifen und kämpfen und dabei ein Meisterwerk erschaffen mit Spielzügen und Bewegungen, die niemals wiederholt werden können. Einen ebenso wichtigen Bestandteil der Fußballkultur bilden die endlosen Diskussionen nach den Spielen darüber, wer gut oder wer schlecht gespielt hat, wer das Spiel für seine Mannschaft entschieden oder ruiniert hat, welches Team verdient hat zu gewinnen oder nicht, war es ein Tor oder war es keins? Fußballspiele lassen viel mehr Raum für Interpretationen als andere gängige amerikanische Sportarten, weil es so wenig messbare „Statistiken“ oder „Resultate“ aus den 90 Minuten gibt, abgesehen natürlich von den erzielten Toren, Eckstößen, Gelben oder Roten Karten oder gelaufenen Kilometern. Es gibt außerdem nur drei Schiedsrichter, um die 22 Spieler zu beaufsichtigen, was noch mehr Raum für Irrtümer, Interpretationen und Diskussionen schafft. Viele Deutsche beispielweise beharren heute noch darauf, dass Geoff Hursts Tor für England, in der Nachspielzeit des Weltmeisterschaftsfinales im Londoner Wembley-Stadion im Jahre 1966, also vor einem halben Jahrhundert, nicht über der Linie war und daher nicht hätte gezählt werden dürfen. Es ging als neues Wort sogar in die deutsche Sprache ein, indem das „Wembleytor“ zum Synonym für unverdiente oder unrechtmäßige Gewinne wurde.
Es mag sein, dass es in jedem Spiel besondere Wendepunkte gibt wie bei anderen Sportarten, auf die sich Sportjournalisten fokussieren. Aber Fußball ist weniger die Summe der Ergebnisse aus jedem Spiel, wie dies beim Football, Baseball oder Basketball der Fall ist. Stattdessen ist es ein Spiel voller Überraschungen, Impulsänderungen, blitzartiger Gegenangriffe, brillanter Rettungsaktionen von den Außenseitern, die plötzlich „entgegen dem Spielverlauf“ ein fabelhaftes Gegentor schießen, ausgeführt von einer Mannschaft, die zuvor komplett an die Wand gespielt schien. Und dann sind da die wirklich magischen Spiele, in denen beide Mannschaften plötzlich geradezu über sich hinauszuwachsen scheinen und die Menge mit kreativen Angriffen und nervenkitzelnden Torchancen oder Toren mitreißen.
Manchmal kann man geradezu fühlen, wie sich die Kraft der jubelnden Zuschauermenge von den Rängen hinunter auf das Spielfeld übertragt, ein Energiestoß, der die Spieler anzutreiben scheint, schneller zu rennen und alles zu geben.
Egal ob man auf dem Flughafen in Athen, in einem Bus in Berlin, in einem Café in Kairo, in einer Fan-Bar in Florenz, in einem Hotel in Helsinki, auf einem Markt in Moskau, in einem Nachtclub in Nigeria, in einem Pub in Pretoria, in einem Restaurant in Rio, in einem Taxi in Tokyo, in einer Sauna in Schweden oder sogar in einem Zoo in Zaire sitzt – die Chancen stehen gut, dass man es schafft, mit egal wem ins Gespräch zu kommen, wenn man anfängt, von Fußball zu sprechen, von dem letzten Champions-League-Spiel, der letzten Weltmeisterschaft oder der nächsten Weltmeisterschaftsqualifikation.
Fußball ist das Spiel, das die Welt mehr zusammenführt als die Vereinten Nationen. „Große Fußballereignisse liefern etwas von dem Gemeinsinn, für den früher Gewerkschaften, Kirchen und royale Hochzeiten zuständig waren“, schrieben Simon Kuper und Stefan Szymanski in Soccernomics. Wichtige Fußballspiele haben in fast allen europäischen Ländern diese einende Rolle ... Es gibt nichts, was eine Gesellschaft in der Weise zusammenschweißt wie eine Weltmeisterschaft, wenn die eigene Mannschaft dabei ist. Ausnahmsweise schaut fast jeder im Land plötzlich dasselbe Fernsehprogramm und spricht am nächsten Tag bei der Arbeit darüber.
Bezeichnenderweise nehmen die amerikanischen Soldaten Fußbälle, keine Football- oder Baseballbälle, wenn sie in der Nähe ihrer Militärstationen im Irak, in Afghanistan oder Lateinamerika versuchen, Kontakt zu den einheimischen Kindern aufzubauen. Mehr als Englisch ist Fußball die Lingua franca des 21. Jahrhunderts. Es ist das Spiel, das die Welt spielt. Warum ein Buch über Jürgen Klinsmann? Ich hatte das Glück, Jürgen Klinsmann während der zwei Jahre bis zur Weltmeisterschaft 2006 kennenzulernen, in denen er Trainer der deutschen Nationalmannschaft war.
Anfangs war ich nur einer der vielen nervigen Journalisten, die bei den Pressekonferenzen in Deutschland unbequeme Fragen stellten. Zu meiner angenehmen Überraschung beantwortete Klinsmann die Fragen mit klaren, ehrlichen und intelligenten Antworten, anstatt mit den üblichen Klischees oder „cleveren“ Ausweichmanövern zu reagieren. So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt. Ich hatte während dieser zwei Jahre auch mehrere Gelegenheiten, Klinsmann zu interviewen, zum Teil in seiner Wahlheimat in Südkalifornien, wo er jeden Monat einige Wochen zwischen den Spielen und Trainingseinheiten in Deutschland verbrachte. Ich lernte ihn als interessanten, unkomplizierten, unprätentiösen, ehrlichen und unglaublich sympathischen Gesprächspartner kennen. Als Journalist bewundere ich seit jeher Persönlichkeiten, die keine Angst haben, angestammte Weisheiten beziehungsweise den Status quo anzuzweifeln und Klinsmann war einer der mutigsten, der sich ohne Angst getraut hat, das System aufzurütteln und Dinge ins Rollen zu bringen. Wir setzten unsere Gespräche fort, nachdem Klinsmann aufgehört hatte, die deutsche Nationalmannschaft zu trainieren. Wir trafen uns teils in Deutschland, teils in den USA und die Gespräche drehten sich nicht notwendigerweise nur um Fußball, aber egal worüber wir uns unterhielten, waren sie gleichermaßen aufschlussreich, inspirierend und zutiefst erfreulich.
Die Interviews mit Jürgen Klinsmann zählen zu den denkwürdigsten, die ich in 40 Berufsjahren als Journalist hatte. Er war nicht nur enthusiastisch bezüglich seines Jobs und seiner Ziele, sondern sprühte auch vor Ideen. Er war neugierig und diese Neugierde beschränkte sich nicht nur auf den Sport. Ein paar Mal freute er sich zwar, mich zu treffen, wollte aber eigentlich kein Interview geben. Manchmal brachte ich meine Tochter oder meinen Sohn mit; einmal war auch seine Tochter dabei. Manchmal unterhielten wir uns auf Deutsch, manchmal auf Englisch. Dabei waren meine Deutschkenntnisse ähnlich seinen Englischkenntnissen: eigentlich ganz gut, aber mit unüberhörbarem Akzent. Manchmal stellte er mir fast genauso viele Fragen darüber, woran ich gerade arbeite und wie es mir ging, wie ich ihm stellte. Oft sprachen wir über die Vor- und Nachteile des Lebens in den USA im Vergleich zu Deutschland. Wir haben uns auch über Sprachen unterhalten und darüber, dass dabei war Spanisch zu lernen, unter anderem, um die vielen spanischsprachigen Fernsehübertragungen von Fußballspielen in den USA zu verstehen und um mit den aus Lateinamerika stammenden Spielern besser kommunizieren zu können; aber auch ganz einfach, weil er gern Fremdsprachen lernt. Gelegentlich unterhielten wir uns auch darüber, was er bei seinen mehrwöchigen Hospitanzen bei den Los Angeles Lakers oder dem USC-Football-Team gerade gelernt hatte. Jürgen Klinsmann zeichnet eine unstillbare Neugierde aus, und obwohl er zu der Zeit nicht als Trainer tätig war, löste es bei mir den Wunsch aus, seine Ideen und seine Art, den Status quo infrage zu stellen und immer nach einem Weg zu suchen, wie man die Dinge noch besser machen kann, in Ruhe und in der Tiefe in einem Buch nachlesen zu können. Aber ich musste feststellen, dass es ein solches Buch über Klinsmann nicht gab.
Also fragte ich ihn vor etwa acht Jahren, warum es keine englischsprachigen Biografien oder Bücher über seine Ideen gäbe und ob er sich vorstellen könne, dass ich ein Buch über sein Leben und seine Trainingsphilosophie schreiben würde. Ich fand den Gedanken spannend, Klinsmanns Wissen, Neugier und Tatkraft sowie seine Ideen bezüglich Fußball und Training im Allgemeinen auch in den USA einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Aber Klinsmanns Antwort lautete immer höflich, aber bestimmt: „Nein danke!“
Er war einfach nicht interessiert zurückzuschauen. Klinsmann genoss es sichtlich, in Kalifornien in relativer Anonymität leben zu können. Er genoss diese Freiheit und zeigt keine Spur von Eitelkeit. Über sich selbst zu sprechen, bereitet ihm irgendwie ein gewisses Unbehagen. Klinsmann wechselt in diesem Fall entweder zügig das Thema oder nutzt statt des „Ichs“ das unpersönliche „Man“. Eine rückblickende Biografie war das Allerletzte, was ihm wichtig war. Womöglich könnte irgendeine Zeitung sogar auf die Idee kommen, einzelne Aussagen aus dem Zusammenhang zu nehmen, um sie für eine reißerische Schlagzeile zu missbrauchen. Jürgen Klinsmann hatte keine alten Rechnungen zu begleichen und war mit sich im Reinen. Er sah überhaupt keine Notwendigkeit, in die Vergangenheit zurückzublicken. Das war eben nicht sein Ding.
Kurz nach der Weltmeisterschaft 2014, inmitten einer weiteren spannenden Diskussion darüber, wie unterschiedlich Amerikaner beziehungsweise besser und Deutsche die Begriffe Geduld und „Langzeitperspektive“ betrachten, wagte ich einen letzten Versuch, ihn doch noch umzustimmen: „Hey Jürgen, ich bin ein Amerikaner, der sein halbes Leben in Deutschland verbracht hat und du bist ein Deutscher, der bereits fast die Hälfte seines Lebens in den USA gelebt hat. Wer also könnte besser als ich in einem Buch für die Amerikaner darüber schreiben, woher du kommst und was du in den USA mit dem Fußball verwirklichen möchtest?“ Er lächelte und antwortete dieses Mal plötzlich anders: „Okay, ich denke mal darüber nach.“ Vielleicht gefiel ihm die Hartnäckigkeit? Oder dachte er, dass jemand, der die Dinge von außen betrachtet, vielleicht doch interessante Perspektiven aufzeigen könnte? Oder wollte er nur endlich seine Ruhe vor mir haben? Einige Wochen später rief er mich an und sagte mir, dass er auf keinen Fall eine Autobiografie wolle, dass er aber nichts dagegen habe, wenn ich unsere Gespräche und unsere Interviews in Form eines Buches veröffentliche.
Zu unseren frühmorgendlichen Treffen, oft bei bestem Kaffee in der Sonne Kaliforniens oder vor Freundschaftsspielen der amerikanischen Nationalmannschaft in Europa, hatte ich immer eine Menge Fragen im Gepäck. Manchmal schafften wir es nur, ein oder zwei oder drei dieser Fragen zu besprechen, weil seine Begeisterung über Fußball an sich und die Rolle des Fußballs in den Vereinigten Staaten derart mit ihm „durchging“, dass wir stundenlang nur darüber sprachen. Jürgen Klinsmann beantwortete geduldig Fragen zu seiner Vergangenheit, aber war eindeutig mehr an der Zukunft interessiert. Ich hatte mich immer gefragt, warum er in früheren Interviews Fragen zu seiner Vergangenheit als Spieler nur ungern beantwortet hatte. Jetzt verstand ich ihn: „Den Spieler Klinsmann gibt es nicht mehr“, sagte er.
Es wurde in unseren Gesprächen klar, dass Jürgen Klinsmann als Trainer der amerikanischen Nationalmannschaft nur ein Ziel hat und zwar, das Beste aus der Mannschaft herauszuholen und seiner so lieb gewonnenen Wahlheimat eines Tages vielleicht sogar zum Weltmeisterschaftstitel zu verhelfen. Die Erfolgsformel ist dabei der ähnlich, mit der er der deutschen Nationalmannschaft von 2004–2006 so sehr geholfen hat, aus der Versenkung heraus wieder an die Weltspitze zu kommen und mit deren Hilfe er den FC Bayern München zu einer neuen Stärke in der Champions League führte. Dabei ist sich Klinsmann bewusst, dass Wunschdenken und Wünsche allein nicht ausreichen. Herausforderungen müssen gemeistert werden und auch unbequeme Wahrheiten zur Sprache kommen.