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An­mer­kun­gen des Au­tors

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Ge­mein­sam mit Mil­lio­nen ame­ri­ka­ni­scher Baby-Boo­mer wuchs ich, was Fuß­ball be­trifft, in den USA im Dun­keln auf. Zu­nächst lei­der ziem­lich un­fä­hig, die At­trak­ti­vi­tät die­ses Spiels zu schät­zen und zu ver­ste­hen, in dem so we­ni­ge Tore fal­len, das so an­ders und un­ame­ri­ka­nisch schi­en, von dem es kaum Fern­seh­über­tra­gun­gen gab, das so fremd­län­disch an­mu­te­te, blie­ben die Fein­hei­ten und der Reiz des Fuß­balls über Jahr­zehn­te für mich ein Buch mit sie­ben Sie­geln. Ich konn­te die Be­geis­te­rung für eine Sport­art, bei der für so we­ni­ge Tore so viel he­r­um­ge­rannt wird, ein­fach nicht be­grei­fen.

Wie Mil­lio­nen un­ein­ge­weih­ter Ame­ri­ka­ner be­hielt ich die Scheu­klap­pen auf, in un­be­küm­mer­ter Un­kennt­nis der Fi­nes­sen die­ses Spiels, das dem Rest der Welt schon lan­ge ganz ein­fach als „the be­au­ti­ful game“ be­kannt war. Welt­meis­ter­schaftss­pie­le wur­den in den USA bis 1982 nicht ein­mal im Fern­se­hen über­tra­gen und erst seit der WM 1998 in Frank­reich wer­den alle Spie­le live über­tra­gen, wie dies in den meis­ten Län­dern der Welt schon lan­ge der Fall war.

Dem­nach war es für mich als Tee­na­ger 1976, un­ter­wegs zu mei­nem ers­ten Fuß­ball­spiel im Sta­di­on – ein New-York-Cos­mos-Play-off-Spiel –, ein Schock, als ein Freund ver­such­te mir klarzu­ma­chen, dass Fuß­ball tat­säch­lich die welt­weit be­lieb­tes­te Sport­art sei. Was? Nie­mals! Der Rest der Welt muss da kom­plett falsch­lie­gen, war un­se­re eth­no­zen­tri­sche Denk­wei­se im Bus auf dem Weg zum Shea-Sta­di­on, um das Spiel zu se­hen. Aus­län­der wa­ren ver­mut­lich nicht in der Lage, die Fein­hei­ten von ame­ri­ka­ni­schen Sport­ar­ten wie Fuß­ball, Bas­ket­ball und Ba­se­ball zu ver­ste­hen. Be­hal­tet nur eu­ren Fuß­ball zu­sam­men mit eu­rem selt­sa­men me­tri­schen Sys­tem! Ab­ge­se­hen da­von mach­te die Er­kennt­nis, dass die Welt den Fuß­ball Sport­ar­ten wie Ame­ri­can Foot­ball vor­zog, das Spiel für mich umso rät­sel­haf­ter. Wie bi­zarr, dass so vie­le Leu­te einen Sport spiel­ten und ver­folg­ten, in dem es nicht ein­mal er­laubt war, die Hän­de zu be­nut­zen – die ge­schick­tes­ten Kör­per­tei­le!

So­gar vie­le Jah­re spä­ter, nach­dem ich 1982 zum ers­ten Mal in das fuß­ball­ver­rück­te Deutsch­land um­ge­zo­gen war, schenk­te ich der Sport­art kaum Be­ach­tung. Statt­des­sen blieb ich bis weit nach Mit­ter­nacht eu­ro­päi­scher Zeit auf, um ver­wa­ckel­te NFL- oder NBA-Über­tra­gun­gen auf dem Ame­ri­can Forces Net­work (AFN) zu ver­fol­gen, ein Ka­nal ohne Wer­be­un­ter­bre­chun­gen, der für die ame­ri­ka­ni­schen Streit­kräf­te ein­ge­rich­tet wor­den war, die in West­deutsch­land sta­tio­niert wa­ren. Ich spiel­te in der Frei­zeit Touch Foot­ball (sanf­te­re Art des Ame­ri­can Foot­ball, bei dem der Geg­ner be­rührt wird, statt zu Fall ge­bracht zu wer­den) mit an­de­ren ame­ri­ka­ni­schen Ex­pa­tria­tes, und wir wa­ren die Exo­ten in den Park­an­la­gen, wo es über­all sonst von spon­ta­nen Fuß­ball­spie­len wim­mel­te. Und ich er­in­ne­re mich dar­an, wie ich in Dis­kus­sio­nen mit deut­schen Freun­den und Ar­beits­kol­le­gen stur dar­auf be­harr­te, dass die Na­tio­nal Foot­ball League (NFL), Na­tio­nal Bas­ket­ball League (NBA) und Ma­jor League Ba­se­ball (MLB) alle weit in­ter­essan­ter sei­en als die Fuß­ball-Bun­des­li­ga in West­deutsch­land und so­gar als die Fuß­ball-Welt­meis­ter­schaft – aber all die­se Ar­gu­men­te ent­stamm­ten mei­ner Igno­ranz und wa­ren auf be­dau­er­li­che Wei­se engstir­nig.

Die Of­fen­ba­rung kam spät in mei­nem Le­ben, näm­lich 2004, als ich schon weit über 40 war und ins­ge­samt fast zwei Jahr­zehn­te in Deutsch­land, Ös­ter­reich und Eng­land ver­bracht hat­te. Es däm­mer­te mir plötz­lich, warum Fuß­ball in Län­dern wie Deutsch­land und Eng­land so viel mehr als ein Sport ist und warum sei­ne Be­liebt­heit Kul­tu­ren, Gren­zen, Re­li­gi­on und Po­li­tik über­schrei­tet. 2004 fei­er­te Deutsch­land das 50-jäh­ri­ge Ju­bi­lä­um sei­nes ers­ten Welt­meis­ter­ti­tels von 1954 und der Deutsch­land­funk sen­de­te eine Wie­der­ho­lung der Rund­funk­über­tra­gung des End­spiels von 1954, in dem West­deutsch­land Un­garn schlug. Die Über­tra­gung wur­de kom­plett wie­der­holt, und zwar zu der glei­chen Uhr­zeit wie die Ori­gi­nal­über­tra­gung am 4. Juli 1954. Es war ein ma­gi­sches Er­leb­nis für mich, ein hal­bes Jahr­hun­dert zu­rück­ver­setzt zu wer­den und die Kraft die­ses wun­der­ba­ren Mo­men­tes deut­scher Fuß­ball­ge­schich­te nach­zu­füh­len – die Ur­sprün­ge der Lie­bes­af­fä­re die­ses Lan­des mit dem Fuß­ball zu ver­ste­hen und plötz­lich den tie­fen Ein­fluss zu be­grei­fen, den die­ses Spiel auf die Kul­tur die­ses Lan­des, sei­ne Psy­che, Iden­ti­tät und sei­ne ge­sam­te Nach­kriegs­ge­schich­te aus­übt.

Zur sel­ben Zeit 2004 war es für einen Jour­na­lis­ten ver­wun­der­lich, Deutsch­lands mo­na­te­lan­ge, müh­sa­me Su­che nach ei­nem neu­en Fuß­ball­trai­ner zu ver­fol­gen, nach­dem das Team bei der Eu­ro­pa­meis­ter­schaft un­er­war­tet in der ers­ten Run­de aus­ge­schie­den war, ohne ein ein­zi­ges sei­ner Grup­pen­spie­le zu ge­win­nen. Zeit­wei­se schi­en für die meis­ten Deut­schen die Su­che nach ei­nem neu­en Fuß­ball­trai­ner so­gar wich­ti­ger zu sein als ein neu­er Bun­des­kanz­ler, und alle an­de­ren Nach­rich­ten in Deutsch­land ver­schwan­den für fast einen Mo­nat von den Ti­tel­sei­ten, wäh­rend der DFB sich wo­chen­lang ab­müh­te, einen Trai­ner zu fin­den, der un­er­schro­cken ge­nug war, die­sen schwie­ri­gen Job an­zu­neh­men – und das nur zwei Jah­re, be­vor Deutsch­land Gast­ge­ber der WM 2006 sein wür­de. Was als ein Pro­blem be­gann, wur­de zur kom­plet­ten Far­ce. Aber letzt­end­lich ent­wi­ckel­te sich die Kri­se zu ei­ner fan­tas­ti­schen Ge­le­gen­heit zur Ver­än­de­rung, als die vom DFB ins Le­ben ge­ru­fe­ne „Trai­ner­fin­dungs­kom­mi­si­on“ (TFK) das Zep­ter an Jür­gen Klins­mann über­reich­te.

Es war fas­zi­nie­rend, Klins­mann dann von ei­nem Platz in der ers­ten Rei­he aus zu se­hen: ein Ex-Spie­ler ohne Er­fah­rung als Trai­ner, wie er dem ehr­wür­di­gen DFB selbst­be­wusst sei­ne re­vo­lu­tio­nären Re­for­men mit sei­nen weit­rei­chen­den Kon­se­quen­zen vor­stell­te. Er voll­brach­te bei der deut­schen Na­tio­nal­mann­schaft wah­re Wun­der mit sei­nen Ide­en, die er zum Teil in den USA ge­sam­melt hat­te. Dass Klins­mann es schaff­te, aus fast 10.000 Ki­lo­me­ter Ent­fer­nung von sei­ner Wahl­hei­mat Ka­li­for­ni­en aus den DFB zu mo­der­ni­sie­ren und qua­si ei­ner Ge­ne­ral­über­ho­lung zu un­ter­zie­hen, macht die gan­ze Ge­schich­te umso span­nen­der. Es war, wie Klins­mann selbst ger­ne sagt, eine die­ser un­glaub­li­chen Ge­schich­ten, die nur der Fuß­ball schreibt.

Mit sei­ner uni­ver­sel­len Po­pu­la­ri­tät hat Fuß­ball die Kraft, die Welt­ge­schich­te zu be­ein­flus­sen. Gan­ze Län­der fei­ern ver­eint in der Hoff­nung auf einen Sieg oder kol­la­bie­ren ge­mein­sam bei ei­ner Nie­der­la­ge. Es ist fes­selnd, das Schick­sal, Wohl­be­fin­den und Glücks­ge­fühl ei­ner gan­zen Na­ti­on da­von ab­hän­gig zu se­hen, wie sich ihre Na­tio­nal­mann­schaft bei ei­nem großen Tur­nier wie ei­ner Welt­meis­ter­schaft oder ei­ner Eu­ro­pa­meis­ter­schaft an­stellt.

Es gibt vie­le Zuta­ten, die die­sen Sport be­son­ders ma­chen, und er ist zu­ge­ge­be­ner­ma­ßen et­was für Ken­ner. Für einen Ame­ri­ka­ner, der wie ich ohne Fuß­ball im Fern­se­hen zu se­hen auf­wuchs und statt­des­sen ak­tiv und pas­siv mit ei­ner Fül­le an an­de­ren Sport­ar­ten groß­ge­wor­den ist, kann es eine Wei­le dau­ern, bis man die Schnel­lig­keit, das Kön­nen, die Kunst­fer­tig­keit, das Durch­hal­te­ver­mö­gen, die Ge­nia­li­tät und die un­glaub­li­che Ath­le­tik wert­schät­zen kann, wel­che die welt­bes­ten Fuß­bal­ler auf­zei­gen. Foot­ball, Ba­se­ball und Bas­ket­ball er­schei­nen mir in­zwi­schen viel we­ni­ger in­ter­essant, ja fast lang­wei­lig mit all ih­ren stän­di­gen Un­ter­bre­chun­gen und Wie­der­an­fän­gen, trotz der ho­hen Tor­fre­quenz. Ich habe schon lan­ge auf­ge­hört, in Eu­ro­pa bis spät in die Nacht auf­zu­blei­ben um ir­gend­wel­che ame­ri­ka­ni­schen Sport­ar­ten im Fern­se­hen zu ver­fol­gen und kann mich nicht ein­mal dazu auf­raf­fen, wenn ich in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten bin. Statt­des­sen herr­schen bei mir in­zwi­schen um­ge­kehr­te Ver­hält­nis­se, was so weit geht, dass ich ex­tra früh auf­ste­he, um den eu­ro­päi­schen Fuß­ball zu ver­fol­gen, wenn ich in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten bin und in Über­see die Er­geb­nis­se nach­schaue.

Im Fuß­ball gibt es kei­ne Wer­be­un­ter­bre­chun­gen und kei­ne Ver­let­zungs­aus­zei­ten – es ist wie im wah­ren Le­ben, wo es kei­ne Mög­lich­keit gibt, die Uhr an­zu­hal­ten. Es ist ein Sport, des­sen Spie­le seit sei­ner Er­fin­dung vor mehr als ei­nem Jahr­hun­dert 90 Mi­nu­ten dau­ern, die le­dig­lich durch eine kur­ze Halb­zeit­pau­se un­ter­bro­chen wer­den. Es gibt nur we­ni­ge Sport­mo­men­te, die so fes­selnd sind wie die un­un­ter­bro­che­ne und un­auf­halt­sa­me Dra­ma­tik der letz­ten zwei oder drei Mi­nu­ten ei­nes en­gen Fuß­ball­spiels, in dem ein Team ver­zwei­felt dar­um kämpft, ein Tor zu schie­ßen, um das Spiel zu ge­win­nen oder ein Un­ent­schie­den zu er­zie­len – oder al­les dar­an­setzt, dies zu ver­hin­dern. Und es gibt nichts, was an die Freu­de he­r­an­kommt, die in fast je­dem Sta­di­on auf der gan­zen Welt aus­bricht, wenn eine Mann­schaft in ei­nem wich­ti­gen Spiel end­lich ein Tor schießt. „Über Fuß­ball macht man sich oft lus­tig, weil so we­ni­ge Tore fal­len, aber eben weil Tore so rar sind, ist die Freu­de dar­über grö­ßer als in je­dem an­de­ren Sport“, ar­gu­men­tier­ten Si­mon Ku­per und Ste­fan Szy­man­ski in ih­rem 2009 er­schie­ne­nen Buch Soc­cer­no­mics.

Fuß­ball kann so star­ke Emo­tio­nen aus­lö­sen, dass da­durch so­gar ein­mal ein Krieg zwi­schen Hon­du­ras und El Sal­va­dor wur­de. Die­ser so­ge­nann­te „Fuß­ball­krieg“ er­eig­ne­te sich 1969 und dau­er­te 100 Stun­den. Sei­ne Ur­sa­chen gin­gen über den Fuß­ball hi­n­aus, aber er ent­brann­te un­glaub­li­cher­wei­se, nach­dem El Sal­va­dor Hon­du­ras mit 2:1 Spie­len in der Qua­li­fi­ka­ti­on für die Welt­meis­ter­schaft 1970 ge­schla­gen hat­te. Bei der Welt­meis­ter­schaft 1994 schied Ko­lum­bi­en aus, nach­dem die USA die Süd­ame­ri­ka­ner da­durch 2:1 be­siegt hat­ten, dass Ko­lum­biens Ver­tei­di­ger An­drés Es­co­bar durch ein Ei­gen­tor den Sie­ges­tref­fer für die Ver­ei­nig­ten Staa­ten er­zielt hat­te. Es­co­bar hat­te ver­sucht, den Pass von Ame­ri­kas Mit­tel­feld­spie­ler John Har­kes ab­zu­fan­gen, da­bei den Ball aber ver­se­hent­lich ins ei­ge­ne Tor ge­lenkt. Zehn Tage spä­ter wur­de er mit sechs Schüs­sen er­mor­det – der Tä­ter schrie beim Schie­ßen „Tor!“.

Fuß­ball ist ein Sport, den Men­schen ei­nes je­den Al­ters auf sechs Kon­ti­nen­ten spie­len. Es ver­eint die Welt wie kei­ne an­de­re Sport­art, be­son­ders wäh­rend der alle vier Jah­re aus­ge­tra­ge­nen Welt­meis­ter­schaf­ten. In­ter­essan­ter­wei­se ist es ein Spiel, mit dem sich die Ver­ei­nig­ten Staa­ten in der in­ter­na­tio­na­len Are­na, wo Fuß­ball mit so viel Lei­den­schaft ge­spielt wird, aus ver­schie­dens­ten Grün­den im­mer noch in der Lern­pha­se be­fin­den. Aber es ist auch ein Sport, in wel­chem die USA ei­nes Ta­ges zu den Welt­bes­ten ge­hö­ren könn­ten; vor­aus­ge­setzt, die Ame­ri­ka­ner wä­ren in der Lage, Fuß­ball als et­was ganz an­de­res wert­zu­schät­zen und zu ak­zep­tie­ren, dass es ein Sport mit in­ter­na­tio­na­len Stan­dards und Ab­läu­fen ist und kein Spiel, des­sen Re­geln und Richt­li­ni­en die Ver­ei­nig­ten Staa­ten be­stim­men kön­nen.

Die USA ha­ben ein enor­mes bis­her un­ge­nutz­tes Po­ten­zi­al, was den Fuß­ball an­geht. Au­ßer­dem sind sie in der glück­li­chen Lage, einen der welt­bes­ten Trai­ner zu ha­ben mit ei­nem rei­chen Er­fah­rungs­schatz so­wohl in Eu­ro­pa als auch in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten – Jür­gen Klins­mann.

Er ge­wann als Stür­mer für Deutsch­land die Welt­meis­ter­schaft 1990, in­dem er drei Tore schoss, und ist ei­ner der er­folg­reichs­ten WM-Tor­schüt­zen al­ler Zei­ten mit elf To­ren in drei Tur­nie­ren. Nach sei­nem Rück­tritt als Spie­ler zog er 1998 in die USA und er­reich­te spä­ter als Trai­ner der deut­schen Na­tio­nal­mann­schaft den drit­ten Platz bei der WM 2006, wäh­rend sein Haupt­wohn­sitz in Ka­li­for­ni­en blieb und er nach Deutsch­land pen­del­te: 42 Lang­stre­cken­flü­ge im Lau­fe je­ner zwei Jah­re. 2011 wur­de er als Trai­ner der ame­ri­ka­ni­schen Na­tio­nal­mann­schaft en­ga­giert – nach ei­ner re­kord­ver­däch­ti­gen An­wer­be­pha­se, die mit vie­lem Hin und Her ins­ge­samt fünf Jah­re dau­er­te. Er brach­te durch­grei­fen­de, teils um­strit­te­ne Re­for­men auf den Weg, die der ame­ri­ka­ni­schen Na­tio­nal­mann­schaft 2013 zu ei­nem Re­kord-Er­folgs­jahr ver­hal­fen. Die Mann­schaft hat­te zwölf Sie­ge in Fol­ge, qua­li­fi­zier­te sich zum sieb­ten Mal für die Welt­meis­ter­schaft und über­traf mit dem Er­rei­chen der Run­de der letz­ten 16 Mann­schaf­ten alle Er­war­tun­gen, nach­dem das Team in der so­ge­nann­ten „To­des­grup­pe“, der schwie­rigs­ten Vie­rer­grup­pe des Tur­niers, Zwei­ter hin­ter Deutsch­land ge­wor­den war. Hier­für wur­de Jür­gen Klins­mann von der FIFA als ei­ner von zehn Trai­nern für die Wahl zum welt­bes­ten Trai­ner des Jah­res no­mi­niert. Klins­mann ist ein furcht­lo­ser, re­for­m­ori­en­tier­ter Trai­ner und tech­ni­scher Lei­ter mit un­er­schüt­ter­li­chen Über­zeu­gun­gen, der in­ner­halb des wich­ti­gen west­eu­ro­päi­schen Fuß­ball­netz­wer­kes, Wie­ge des Sports, des­sen Ur­sprungs­län­der bis­her die Welt­meis­ter­schaf­ten do­mi­nier­ten, über gute Ver­bin­dun­gen ver­fügt. Klins­mann weiß, was nö­tig ist, um eine der welt­bes­ten Fuß­ball­na­tio­nen zu for­men, und die He­r­aus­for­de­run­gen die­ser lan­gen Rei­se fas­zi­nie­ren ihn.

Fuß­ball ist an­ders. Sei­ne Re­geln, Bräu­che, Tra­di­tio­nen und sein Erbe un­ter­schei­den sich kom­plett von an­de­ren ame­ri­ka­ni­schen Sport­ar­ten, ob­wohl es in den 20er-Jah­ren vor dem Zu­sam­men­bruch der Ak­ti­en­märk­te und der fol­gen­den Welt­wirt­schafts­kri­se eine be­mer­kens­wert „gol­de­ne Ära“ gab, als Fuß­ball, dank der ho­hen An­zahl neu an­ge­kom­me­ner Im­mi­gran­ten aus Eu­ro­pa, in ei­ni­gen Ge­gen­den der USA für eine kur­ze Zeit tat­säch­lich po­pu­lä­rer als Foot­ball war. Aber ri­va­li­sie­ren­de Li­gen und die stei­gen­de Po­pu­la­ri­tät des Col­le­ge Foot­balls tru­gen zu­sam­men mit dem Bör­sen­crash zu ei­nem frü­hen Nie­der­gang des Pro­fi­fuß­balls bei.

Den­noch ist Fuß­ball kein Spiel, das leicht in das ame­ri­ka­ni­sche Spor­tras­ter hi­n­ein­passt mit sei­ner Vor­lie­be für Fern­seh-Aus­zei­ten, mit Aus­schei­dungs­spie­len nach der Sai­son (post-sea­son play-offs), mit der Pa­ri­tät der Li­gen und ame­ri­ka­ni­scher Vor­herr­schaft. Es ist ein Spiel der Ge­duld und des Ge­nus­ses, so­wohl sub­til als auch spek­ta­ku­lär. Es ist ein Spiel, in dem die Spie­ler auf dem Feld den Groß­teil der Ent­schei­dun­gen tref­fen. Es ist ein Spiel mit etwa 400 oder mehr Päs­sen pro Mann­schaft und ei­nes, in dem der ein­zel­ne Spie­ler den Ball im Durch­schnitt nur un­ge­fähr 50 Se­kun­den hat, was be­deu­tet, dass er die ver­blei­ben­den 89 Mi­nu­ten da­mit ver­bringt, zu lau­fen und zu ver­su­chen, den Ball in die rich­ti­ge Po­si­ti­on zu brin­gen, um ein Tor zu schie­ßen oder zu ver­hin­dern. Fuß­ball­spie­le kön­nen durch Ent­schei­dun­gen ge­dreht wer­den, die im Bruch­teil ei­ner Se­kun­de ge­fällt wer­den. So kann so­gar eine über­le­ge­ne Mann­schaft in­ner­halb ei­nes win­zi­gen Mo­ments von ei­nem un­ter­le­ge­nen Geg­ner, ei­nem Au­ßen­sei­ter, ge­schla­gen wer­den, wenn er es schafft, einen „Glücks­tref­fer“ zu er­zie­len, so wie ein de­klas­sier­ter Bo­xer, der al­len Wet­ten zum Trotz mit ei­nem „lucky punch“ einen Knock-out-Sieg er­langt. Und es ist ein un­ge­wöhn­lich un­vor­her­seh­ba­res Spiel, in dem un­ter­le­ge­ne Mann­schaf­ten über­le­ge­ne Teams durch An­griffs­lust, Wil­lens­kraft und den wort­wört­li­chen „Schuss ins Blaue hi­n­ein“ so aus dem Kon­zept brin­gen kön­nen, dass der hohe Fa­vo­rit letzt­lich als Ver­lie­rer vom Platz geht.

Auch über Fuß­ball zu schrei­ben ist an­ders als bei an­de­ren Sport­ar­ten. Wenn 50 Sport­jour­na­lis­ten zu­sam­men auf der Pres­se­tri­bü­ne sit­zen, um über ein Fuß­ball­spiel zu be­rich­ten, ist die Wahr­schein­lich­keit groß, dass hin­ter­her 50 ver­schie­de­ne In­ter­pre­ta­tio­nen des Spiel­ver­laufs da­bei he­r­aus­kom­men. Fuß­ball ist wie eine wei­ße Lein­wand mit 22 Künst­lern auf dem Feld, die sich ab­ra­ckern, nach­den­ken, sprin­ten, an­grei­fen und kämp­fen und da­bei ein Meis­ter­werk er­schaf­fen mit Spiel­zü­gen und Be­we­gun­gen, die nie­mals wie­der­holt wer­den kön­nen. Einen eben­so wich­ti­gen Be­stand­teil der Fuß­ball­kul­tur bil­den die end­lo­sen Dis­kus­sio­nen nach den Spie­len dar­über, wer gut oder wer schlecht ge­spielt hat, wer das Spiel für sei­ne Mann­schaft ent­schie­den oder rui­niert hat, wel­ches Team ver­dient hat zu ge­win­nen oder nicht, war es ein Tor oder war es keins? Fuß­ball­spie­le las­sen viel mehr Raum für In­ter­pre­ta­tio­nen als an­de­re gän­gi­ge ame­ri­ka­ni­sche Sport­ar­ten, weil es so we­nig mess­ba­re „Sta­tis­ti­ken“ oder „Re­sul­ta­te“ aus den 90 Mi­nu­ten gibt, ab­ge­se­hen na­tür­lich von den er­ziel­ten To­ren, Eck­stö­ßen, Gel­ben oder Ro­ten Kar­ten oder ge­lau­fe­nen Ki­lo­me­tern. Es gibt au­ßer­dem nur drei Schieds­rich­ter, um die 22 Spie­ler zu be­auf­sich­ti­gen, was noch mehr Raum für Irr­tü­mer, In­ter­pre­ta­tio­nen und Dis­kus­sio­nen schafft. Vie­le Deut­sche bei­spiel­wei­se be­har­ren heu­te noch dar­auf, dass Geoff Hursts Tor für Eng­land, in der Nach­spiel­zeit des Welt­meis­ter­schafts­fi­na­les im Lon­do­ner Wem­bley-Sta­di­on im Jah­re 1966, also vor ei­nem hal­ben Jahr­hun­dert, nicht über der Li­nie war und da­her nicht hät­te ge­zählt wer­den dür­fen. Es ging als neu­es Wort so­gar in die deut­sche Spra­che ein, in­dem das „Wem­bley­tor“ zum Syn­onym für un­ver­dien­te oder un­recht­mä­ßi­ge Ge­win­ne wur­de.

Es mag sein, dass es in je­dem Spiel be­son­de­re Wen­de­punk­te gibt wie bei an­de­ren Sport­ar­ten, auf die sich Sport­jour­na­lis­ten fo­kus­sie­ren. Aber Fuß­ball ist we­ni­ger die Sum­me der Er­geb­nis­se aus je­dem Spiel, wie dies beim Foot­ball, Ba­se­ball oder Bas­ket­ball der Fall ist. Statt­des­sen ist es ein Spiel vol­ler Über­ra­schun­gen, Im­puls­än­de­run­gen, blitz­ar­ti­ger Ge­gen­an­grif­fe, bril­lan­ter Ret­tungs­ak­tio­nen von den Au­ßen­sei­tern, die plötz­lich „ent­ge­gen dem Spiel­ver­lauf“ ein fa­bel­haf­tes Ge­gen­tor schie­ßen, aus­ge­führt von ei­ner Mann­schaft, die zu­vor kom­plett an die Wand ge­spielt schi­en. Und dann sind da die wirk­lich ma­gi­schen Spie­le, in de­nen bei­de Mann­schaf­ten plötz­lich ge­ra­de­zu über sich hi­n­aus­zu­wach­sen schei­nen und die Men­ge mit krea­ti­ven An­grif­fen und ner­ven­kit­zeln­den Tor­chan­cen oder To­ren mit­rei­ßen.

Manch­mal kann man ge­ra­de­zu füh­len, wie sich die Kraft der ju­beln­den Zu­schau­er­men­ge von den Rän­gen hi­n­un­ter auf das Spiel­feld über­tragt, ein Ener­gie­stoß, der die Spie­ler an­zu­trei­ben scheint, schnel­ler zu ren­nen und al­les zu ge­ben.

Egal ob man auf dem Flug­ha­fen in Athen, in ei­nem Bus in Ber­lin, in ei­nem Café in Kai­ro, in ei­ner Fan-Bar in Flo­renz, in ei­nem Ho­tel in Hel­sin­ki, auf ei­nem Markt in Mos­kau, in ei­nem Nacht­club in Ni­ge­ria, in ei­nem Pub in Pre­to­ria, in ei­nem Re­stau­rant in Rio, in ei­nem Taxi in To­kyo, in ei­ner Sau­na in Schwe­den oder so­gar in ei­nem Zoo in Zaire sitzt – die Chan­cen ste­hen gut, dass man es schafft, mit egal wem ins Ge­spräch zu kom­men, wenn man an­fängt, von Fuß­ball zu spre­chen, von dem letz­ten Cham­pi­ons-League-Spiel, der letz­ten Welt­meis­ter­schaft oder der nächs­ten Welt­meis­ter­schafts­qua­li­fi­ka­ti­on.

Fuß­ball ist das Spiel, das die Welt mehr zu­sam­men­führt als die Ver­ein­ten Na­tio­nen. „Große Fuß­bal­ler­eig­nis­se lie­fern et­was von dem Ge­mein­sinn, für den frü­her Ge­werk­schaf­ten, Kir­chen und roya­le Hoch­zei­ten zu­stän­dig wa­ren“, schrie­ben Si­mon Ku­per und Ste­fan Szy­man­ski in Soc­cer­no­mics. Wich­ti­ge Fuß­ball­spie­le ha­ben in fast al­len eu­ro­päi­schen Län­dern die­se einen­de Rol­le ... Es gibt nichts, was eine Ge­sell­schaft in der Wei­se zu­sam­menschweißt wie eine Welt­meis­ter­schaft, wenn die ei­ge­ne Mann­schaft da­bei ist. Aus­nahms­wei­se schaut fast je­der im Land plötz­lich das­sel­be Fern­seh­pro­gramm und spricht am nächs­ten Tag bei der Ar­beit dar­über.

Be­zeich­nen­der­wei­se neh­men die ame­ri­ka­ni­schen Sol­da­ten Fuß­bäl­le, kei­ne Foot­ball- oder Ba­se­ball­bäl­le, wenn sie in der Nähe ih­rer Mi­li­tär­sta­tio­nen im Irak, in Af­gha­nis­tan oder La­tein­ame­ri­ka ver­su­chen, Kon­takt zu den ein­hei­mi­schen Kin­dern auf­zu­bau­en. Mehr als Eng­lisch ist Fuß­ball die Lin­gua fran­ca des 21. Jahr­hun­derts. Es ist das Spiel, das die Welt spielt. Warum ein Buch über Jür­gen Klins­mann? Ich hat­te das Glück, Jür­gen Klins­mann wäh­rend der zwei Jah­re bis zur Welt­meis­ter­schaft 2006 ken­nen­zu­ler­nen, in de­nen er Trai­ner der deut­schen Na­tio­nal­mann­schaft war.

An­fangs war ich nur ei­ner der vie­len ner­vi­gen Jour­na­lis­ten, die bei den Pres­se­kon­fe­ren­zen in Deutsch­land un­be­que­me Fra­gen stell­ten. Zu mei­ner an­ge­neh­men Über­ra­schung be­ant­wor­te­te Klins­mann die Fra­gen mit kla­ren, ehr­li­chen und in­tel­li­gen­ten Ant­wor­ten, an­statt mit den üb­li­chen Kli­schees oder „cle­ve­ren“ Aus­weich­ma­nö­vern zu re­agie­ren. So et­was hat­te ich noch nie zu­vor er­lebt. Ich hat­te wäh­rend die­ser zwei Jah­re auch meh­re­re Ge­le­gen­hei­ten, Klins­mann zu in­ter­view­en, zum Teil in sei­ner Wahl­hei­mat in Süd­ka­li­for­ni­en, wo er je­den Mo­nat ei­ni­ge Wo­chen zwi­schen den Spie­len und Trai­nings­ein­hei­ten in Deutsch­land ver­brach­te. Ich lern­te ihn als in­ter­essan­ten, un­kom­pli­zier­ten, un­prä­ten­ti­ösen, ehr­li­chen und un­glaub­lich sym­pa­thi­schen Ge­sprächs­part­ner ken­nen. Als Jour­na­list be­wun­de­re ich seit je­her Per­sön­lich­kei­ten, die kei­ne Angst ha­ben, an­ge­stamm­te Weis­hei­ten be­zie­hungs­wei­se den Sta­tus quo an­zu­zwei­feln und Klins­mann war ei­ner der mu­tigs­ten, der sich ohne Angst ge­traut hat, das Sys­tem auf­zu­rüt­teln und Din­ge ins Rol­len zu brin­gen. Wir setz­ten un­se­re Ge­sprä­che fort, nach­dem Klins­mann auf­ge­hört hat­te, die deut­sche Na­tio­nal­mann­schaft zu trai­nie­ren. Wir tra­fen uns teils in Deutsch­land, teils in den USA und die Ge­sprä­che dreh­ten sich nicht not­wen­di­ger­wei­se nur um Fuß­ball, aber egal wor­über wir uns un­ter­hiel­ten, wa­ren sie glei­cher­ma­ßen auf­schluss­reich, in­spi­rie­rend und zu­tiefst er­freu­lich.

Die In­ter­views mit Jür­gen Klins­mann zäh­len zu den denk­wür­digs­ten, die ich in 40 Be­rufs­jah­ren als Jour­na­list hat­te. Er war nicht nur en­thu­sias­tisch be­züg­lich sei­nes Jobs und sei­ner Zie­le, son­dern sprüh­te auch vor Ide­en. Er war neu­gie­rig und die­se Neu­gier­de be­schränk­te sich nicht nur auf den Sport. Ein paar Mal freu­te er sich zwar, mich zu tref­fen, woll­te aber ei­gent­lich kein In­ter­view ge­ben. Manch­mal brach­te ich mei­ne Toch­ter oder mei­nen Sohn mit; ein­mal war auch sei­ne Toch­ter da­bei. Manch­mal un­ter­hiel­ten wir uns auf Deutsch, manch­mal auf Eng­lisch. Da­bei wa­ren mei­ne Deutsch­kennt­nis­se ähn­lich sei­nen Eng­lisch­kennt­nis­sen: ei­gent­lich ganz gut, aber mit un­über­hör­ba­rem Ak­zent. Manch­mal stell­te er mir fast ge­nau­so vie­le Fra­gen dar­über, wor­an ich ge­ra­de ar­bei­te und wie es mir ging, wie ich ihm stell­te. Oft spra­chen wir über die Vor- und Nach­tei­le des Le­bens in den USA im Ver­gleich zu Deutsch­land. Wir ha­ben uns auch über Spra­chen un­ter­hal­ten und dar­über, dass da­bei war Spa­nisch zu ler­nen, un­ter an­de­rem, um die vie­len spa­nisch­spra­chi­gen Fern­seh­über­tra­gun­gen von Fuß­ball­spie­len in den USA zu ver­ste­hen und um mit den aus La­tein­ame­ri­ka stam­men­den Spie­lern bes­ser kom­mu­ni­zie­ren zu kön­nen; aber auch ganz ein­fach, weil er gern Fremd­spra­chen lernt. Ge­le­gent­lich un­ter­hiel­ten wir uns auch dar­über, was er bei sei­nen mehr­wö­chi­gen Hos­pi­tan­zen bei den Los An­ge­les La­kers oder dem USC-Foot­ball-Team ge­ra­de ge­lernt hat­te. Jür­gen Klins­mann zeich­net eine un­still­ba­re Neu­gier­de aus, und ob­wohl er zu der Zeit nicht als Trai­ner tä­tig war, lös­te es bei mir den Wunsch aus, sei­ne Ide­en und sei­ne Art, den Sta­tus quo in­fra­ge zu stel­len und im­mer nach ei­nem Weg zu su­chen, wie man die Din­ge noch bes­ser ma­chen kann, in Ruhe und in der Tie­fe in ei­nem Buch nach­le­sen zu kön­nen. Aber ich muss­te fest­stel­len, dass es ein sol­ches Buch über Klins­mann nicht gab.

Also frag­te ich ihn vor etwa acht Jah­ren, warum es kei­ne eng­lisch­spra­chi­gen Bio­gra­fi­en oder Bü­cher über sei­ne Ide­en gäbe und ob er sich vor­stel­len kön­ne, dass ich ein Buch über sein Le­ben und sei­ne Trai­nings­phi­lo­so­phie schrei­ben wür­de. Ich fand den Ge­dan­ken span­nend, Klins­manns Wis­sen, Neu­gier und Tat­kraft so­wie sei­ne Ide­en be­züg­lich Fuß­ball und Trai­ning im All­ge­mei­nen auch in den USA ei­nem brei­te­ren Pu­bli­kum zu­gäng­lich zu ma­chen. Aber Klins­manns Ant­wort lau­te­te im­mer höf­lich, aber be­stimmt: „Nein dan­ke!“

Er war ein­fach nicht in­ter­es­siert zu­rück­zu­schau­en. Klins­mann ge­noss es sicht­lich, in Ka­li­for­ni­en in re­la­ti­ver An­ony­mi­tät le­ben zu kön­nen. Er ge­noss die­se Frei­heit und zeigt kei­ne Spur von Ei­tel­keit. Über sich selbst zu spre­chen, be­rei­tet ihm ir­gend­wie ein ge­wis­ses Un­be­ha­gen. Klins­mann wech­selt in die­sem Fall ent­we­der zü­gig das The­ma oder nutzt statt des „Ichs“ das un­per­sön­li­che „Man“. Eine rück­bli­cken­de Bio­gra­fie war das Al­ler­letz­te, was ihm wich­tig war. Wo­mög­lich könn­te ir­gend­ei­ne Zei­tung so­gar auf die Idee kom­men, ein­zel­ne Aus­sa­gen aus dem Zu­sam­men­hang zu neh­men, um sie für eine rei­ße­ri­sche Schlag­zei­le zu miss­brau­chen. Jür­gen Klins­mann hat­te kei­ne al­ten Rech­nun­gen zu be­glei­chen und war mit sich im Rei­nen. Er sah über­haupt kei­ne Not­wen­dig­keit, in die Ver­gan­gen­heit zu­rück­zu­bli­cken. Das war eben nicht sein Ding.

Kurz nach der Welt­meis­ter­schaft 2014, in­mit­ten ei­ner wei­te­ren span­nen­den Dis­kus­si­on dar­über, wie un­ter­schied­lich Ame­ri­ka­ner be­zie­hungs­wei­se bes­ser und Deut­sche die Be­grif­fe Ge­duld und „Lang­zeit­per­spek­ti­ve“ be­trach­ten, wag­te ich einen letz­ten Ver­such, ihn doch noch um­zu­stim­men: „Hey Jür­gen, ich bin ein Ame­ri­ka­ner, der sein hal­bes Le­ben in Deutsch­land ver­bracht hat und du bist ein Deut­scher, der be­reits fast die Hälf­te sei­nes Le­bens in den USA ge­lebt hat. Wer also könn­te bes­ser als ich in ei­nem Buch für die Ame­ri­ka­ner dar­über schrei­ben, wo­her du kommst und was du in den USA mit dem Fuß­ball ver­wirk­li­chen möch­test?“ Er lä­chel­te und ant­wor­te­te die­ses Mal plötz­lich an­ders: „Okay, ich den­ke mal dar­über nach.“ Viel­leicht ge­fiel ihm die Hart­nä­ckig­keit? Oder dach­te er, dass je­mand, der die Din­ge von au­ßen be­trach­tet, viel­leicht doch in­ter­essan­te Per­spek­ti­ven auf­zei­gen könn­te? Oder woll­te er nur end­lich sei­ne Ruhe vor mir ha­ben? Ei­ni­ge Wo­chen spä­ter rief er mich an und sag­te mir, dass er auf kei­nen Fall eine Au­to­bio­gra­fie wol­le, dass er aber nichts da­ge­gen habe, wenn ich un­se­re Ge­sprä­che und un­se­re In­ter­views in Form ei­nes Bu­ches ver­öf­fent­li­che.

Zu un­se­ren früh­mor­gend­li­chen Tref­fen, oft bei bes­tem Kaf­fee in der Son­ne Ka­li­for­ni­ens oder vor Freund­schaftss­pie­len der ame­ri­ka­ni­schen Na­tio­nal­mann­schaft in Eu­ro­pa, hat­te ich im­mer eine Men­ge Fra­gen im Ge­päck. Manch­mal schaff­ten wir es nur, ein oder zwei oder drei die­ser Fra­gen zu be­spre­chen, weil sei­ne Be­geis­te­rung über Fuß­ball an sich und die Rol­le des Fuß­balls in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten der­art mit ihm „durch­ging“, dass wir stun­den­lang nur dar­über spra­chen. Jür­gen Klins­mann be­ant­wor­te­te ge­dul­dig Fra­gen zu sei­ner Ver­gan­gen­heit, aber war ein­deu­tig mehr an der Zu­kunft in­ter­es­siert. Ich hat­te mich im­mer ge­fragt, warum er in frü­he­ren In­ter­views Fra­gen zu sei­ner Ver­gan­gen­heit als Spie­ler nur un­gern be­ant­wor­tet hat­te. Jetzt ver­stand ich ihn: „Den Spie­ler Klins­mann gibt es nicht mehr“, sag­te er.

Es wur­de in un­se­ren Ge­sprä­chen klar, dass Jür­gen Klins­mann als Trai­ner der ame­ri­ka­ni­schen Na­tio­nal­mann­schaft nur ein Ziel hat und zwar, das Bes­te aus der Mann­schaft he­r­aus­zu­ho­len und sei­ner so lieb ge­won­ne­nen Wahl­hei­mat ei­nes Ta­ges viel­leicht so­gar zum Welt­meis­ter­schafts­ti­tel zu ver­hel­fen. Die Er­folgs­for­mel ist da­bei der ähn­lich, mit der er der deut­schen Na­tio­nal­mann­schaft von 2004–2006 so sehr ge­hol­fen hat, aus der Ver­sen­kung he­r­aus wie­der an die Welt­spit­ze zu kom­men und mit de­ren Hil­fe er den FC Bay­ern Mün­chen zu ei­ner neu­en Stär­ke in der Cham­pi­ons League führ­te. Da­bei ist sich Klins­mann be­wusst, dass Wunsch­den­ken und Wün­sche al­lein nicht aus­rei­chen. He­r­aus­for­de­run­gen müs­sen ge­meis­tert wer­den und auch un­be­que­me Wahr­hei­ten zur Spra­che kom­men.

Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen

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