Читать книгу Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen - Erik Kirschbaum - Страница 13
Das Tor, das ihn bekannt machte
ОглавлениеKlinsmanns Karriere entwickelte sich in seiner dritten Saison in Stuttgart prächtig. Er wurde nicht nur für seine Kopfballstärke und seine Fähigkeit, die Bälle so ins Tor zu befördern, bekannt, sondern auch für seine Cleverness, zum Torabschluss zu kommen. Er besaß den nötigen „Killerinstinkt“, jede sich ihm bietende Chance vor dem Tor zu nutzen. Klinsmann verfügte außerdem über hervorragende Technikfähigkeiten und konnte die gegnerische Verteidigung oft ausspielen, bevor er zu einem kraftvollen Schuss ansetzte. Seine eleganten Aktionen, sich freizulaufen, seine blitzschnellen, intelligenten Kurskorrekturen, sein Talent, Pässe zu halten und jede noch so kleine Gelegenheit in ein Tor zu verwandeln, fingen an, für Aufmerksamkeit zu sorgen.
In der Saison 1987/88 schoss er 19 Tore und wurde als erfolgreichster Torschütze der 1. Bundesliga und als Fußballer des Jahres ausgezeichnet. Bei der Wahl zum Fußballer des Jahres gewann er diesen Titel mit der Rekordzahl von 70 % der Stimmen aller 785 teilnehmenden deutschen Sportjournalisten. Für den 23-jährigen Klinsmann bedeutete diese Saison einen phänomenalen Erfolg. Das vielleicht denkwürdigste Tor war ein spektakulärer Fallrückzieher, der Stuttgart den Weg zu einem 3:0-Erfolg über Bayern München bereitete. Dieses Eröffnungstor sorgte auch beim damaligen Trainer der Nationalelf, Franz Beckenbauer, für Aufsehen und rückte ihn in den Fokus verschiedener europäischer Spitzenmannschaften. Dieser akrobatische Schlag gegen die Bayern wurde von mehr als 300.000 Fernsehzuschauern später zum prestigeträchtigen Tor des Jahres gewählt.
Die Spielsequenz hatte mit einem langen punktgenauen Pass von Stuttgarts Spielmacher Ásgeir Sigurvinson aus der Mitte in den Strafraum zu Günther Schäfer rechts außen begonnen. Schäfer schoss den Ball direkt zurück in die Mitte des Strafraums. Seine Flanke schien zunächst zu hoch und zu weit vom Tor entfernt zu sein, um eine Gefahr darzustellen. Dann jedoch wirbelte plötzlich Klinsmann in der Mitte herum und warf sich mit dem Rücken zum Tor in einen perfekt getimten Fallrückzieher. Mit seinem fast zwei Meter in die Luft ragenden rechten Bein schmetterte er den Ball, kopfüber und in Rückenlage, ins Tor. Zwei Münchner Verteidiger sowie Torwart Jean-Marie Pfaff sahen ehrfürchtig und verdutzt zu, während sie zu verstehen versuchten, was sich im Bruchteil von Sekunden vor ihren Augen abgespielt hatte.
Der Fallrückzieher ist eine der spektakulärsten Arten, ein Tor zu schießen. Brillant, wenn es klappt, einfach blöd, wenn es misslingt. Klinsmanns Fallrückzieher gegen die Bayern war einer der Spitzenklasse und kaum zu toppen. Das Timing, die scheinbar unerreichbare Höhe des Balls, als er ihn wie schwerelos berührte, sowie die Geschwindigkeit des Schusses hatten in diesem Top-Spiel etwas ausgesprochen Künstlerisches. Bilder und Mitschnitte dieses Tors gingen um die ganze Welt und gravierten Klinsmanns Namen in das Gedächtnis vieler Fußballfans.
„Es war reiner Instinkt“, sagt Klinsmann. „Für mich war das keine große Sache. Wir gewannen das Spiel 3:0 und rückblickend war das einer der schönsten Momente, die ich in Stuttgart hatte – Bayern München zu Hause 3:0 zu schlagen und ein Fallrückzieher-Tor zu schießen.“
Für die deutschen Fußballfans war es in jedem Fall eine große Sache, und in den Wochen darauf hörten sie nicht auf, davon zu reden. Auch Beckenbauer hatte Klinsmann spätestens seitdem auf dem Schirm, genau wie spektakuläre Tore bei starken generellen Leistungen immer wieder geholfen haben, die internationale Karriere von Spielern in Gang zu bringen. David Beckhams Tor 1996 aus dem Mittelfeld führte beispielsweise zu seiner ersten Berufung in die englische Nationalmannschaft.
„Ein Fallrückzieher ist etwas Besonderes für einen Stürmer, daran gibt’s keinen Zweifel. Es ist etwas, was man liebend gerne macht“, erzählt Klinsmann. „Du träumst als Spieler davon, eins zu schießen, aber wenn du dann eins in einem richtig großen Heimspiel vor 70.000 Zuschauern und gegen Bayern München schießt, ist das sogar noch besser. Ich fing genau wie andere Kinder als Achtjähriger an, Fallrückzieher zu trainieren. Ich wusste, dass ich sie blind konnte, weil ich sie schon so lange machte, und dann schießt du eins gegen Bayern München vor den eigenen Fans und flippst aus, aber letztendlich hast du nur getan, was du im Training schon immer getan hast.“
Dieser Fallrückzieher sorgte schließlich am Ende des Jahres für seine erste Berufung von Beckenbauer in die Nationalmannschaft für zwei Spiele in Südamerika. Dies war ein enorm wichtiger Schritt in seiner Karriere, der bedeutete das er zu den zwei bis drei Dutzend besten Spielern der Bundesrepublik gehörte und ein Kandidat für das Europameisterschaftsteam von 1988 war, das in weniger als einem Jahr zusammengestellt werden würde. „Es war das Tor, das mir auf internationaler Ebene die Türen öffnete. Einen Monat später berief Franz Beckenbauer mich in die Nationalmannschaft, und kurz darauf hatte ich meinen ersten internationalen Auftritt. Deshalb war dieses Tor so besonders für mich. Deine ganze Welt ändert sich nach einem solchen Tor“, sagt Klinsmann. „Es macht dich vom nationalen Spieler zum internationalen Spieler.“
Klinsmanns Fallrückzieher war nicht das einzige Ungewöhnliche, das an dem kühlen Nachmittag im Stuttgarter Neckarstadion passierte. Gegen Ende des Spiels, als Stuttgart 2:0 führte, brachte Bayerns Verteidiger Norbert Nachtweih Klinsmann mit einer harten und unnötigen Attacke zu Fall. Er wollte an den Ball kommen, aber nietete stattdessen Klinsmann um. Der Schiedsrichter, Dieter Pauly, war direkt zur Stelle und pfiff das Foul von Nachtweih. Pauly griff in seiner Hosentasche nach der Gelben Karte gegen Nachtweih. Da dies Nachtweihs zweite Gelbe Karte in dem Spiel gewesen wäre, hätte es einen Platzverweis bedeutet und die Bayern hätten die verbleibende Zeit mit nur zehn Spielern auskommen müssen. Aber Klinsmann sah, was kommen würde und eilte hinzu. Er intervenierte zugunsten des Bayernspielers und flehte Pauly an, Nachtweih nicht mit einer weiteren Gelben Karte zu bestrafen, auch wenn ein Platzverweis Stuttgart geholfen hätte, den Sieg zu sichern. Es war ein außergewöhnlich seltener Akt Sportsgeistes. Klinsmann sagte dem Schiedsrichter, dass das Foul nicht so schlimm gewesen sei und eine Gelbe Karte nicht rechtfertige.
Der Schiedsrichter konnte kaum glauben, was er hörte, und nach einem kurzen Moment des leichten Schocks und der Verwunderung steckte er die Gelbe Karte zurück in seine Tasche. Dies alles passierte sehr schnell und nicht jeder im Stadion hatte mitbekommen, was geschehen war, und Pauly machte es sich daher zur Aufgabe, Sportreportern nach dem Spiel davon zu erzählen. „Es ist so eine wunderbare Geschichte, dass die Welt davon erfahren sollte“, erzählte Pauly ihnen. Bayern Münchens Manager, Uli Hoeneß, war so von Klinsmanns Geste eingenommen, dass er extra in die Umkleidekabine der Stuttgarter ging, um ihm zu danken und ihm sagte, dass solch sportliches Verhalten dem Sport guttäte.
Ein Vierteljahrhundert später versucht Klinsmann den Zwischenfall herunterzuspielen: „Ich wusste, dass er schon eine Gelbe Karte hatte und als ich sah, wie der Schiedsrichter in seine Tasche griff, sagte ich einfach instinktiv: Hey, so schlimm war’s nicht. Es war ein Foul, aber nicht so schlimm. Ich hatte vorher nicht darüber nachgedacht. Es war reiner Instinkt. Wir führten 2:0 und das Spiel war bereits gelaufen, und ich dachte mir: Nein, nicht jetzt, schick jetzt niemanden vom Platz. Es war wirklich keine große Sache für mich.“
Aber diese Geste großen Sportsgeistes sorgte in der Bundesrepublik für große Aufmerksamkeit. Die Fans wollten nach einer schwierigen Zeit in den 80er-Jahren wieder an das Gute in ihrem Sport glauben. Fußball war immer noch der bei weitem populärste Sport, aber er war durch einige fragwürdige Äußerungen und das Verhalten von Spielern auf und abseits des Platzes in Misskredit geraten. Nachdem die Liga sich von einem Spielmanipulationsskandal Anfang der 70er-Jahre erholt hatte, in den Spieler von Clubs wie Arminia Bielefeld verwickelt waren, fiel die durchschnittliche Zuschauerzahl kontinuierlich von 26.000 pro Spiel am Ende der 70er auf 17.600 im Jahr 1984/85. Die Bundesligaspiele glichen oft reizlosen Raufspielen und der FC Bayern München, der in zehn Jahren sechsmal Meister wurde, dominierte die Liga mit erdrückender Regelmäßigkeit. Die Kluft zwischen den Spielern und Zuschauern wurde in den 80ern noch dadurch vergrößert, dass die Gehälter der Top-Verdiener in der Bundesliga sich verachtfachten. Solche Spitzengehälter waren für normale Bürger in der Bundesrepublik zunächst nur schwer vorstellbar, selbst wenn sicherlich bei weitem nicht jeder Spieler auch nur annähernd so viel verdiente. Viele waren der Ansicht, dass das Verhältnis zwischen den Gehältern, die einfache Arbeiter oder sogar Leute in Führungspositionen verdienten und dem Einkommen der Fußballstars keine so große Differenz bestehen sollte, vor allem, wenn die Spieler keinen vollen Einsatz zeigten.
Durch die WM von 1982 wurden die Probleme der 80er verschlimmert und die Distanz zwischen Fans und Spielern vergrößert, als die deutsche Mannschaft in Spanien in zwei unrühmliche Spiele verwickelt war. Als Erstes erzielten sie in ihrem letzten Gruppenspiel einen skandalösen 1:0-Sieg gegen Österreich, später bekannt als „Schande von Gijón“.
Das 1:0 war ein Ergebnis, das nach nur zehn Minuten erreicht wurde und durch welches beide Mannschaften weiterkamen. Aber beide Mannschaften stellten jegliche Anstrengungen ein, nachdem dieser Spielstand erreicht war. Fußballfans auf der ganzen Welt, vor allem auch in Deutschland und Österreich, waren empört. Der deutsch-österreichische Nichtangriffspakt, wie er auch genannt wurde, war eine gemeinschaftliche Farce, die Algerien um seinen verdienten Platz in der Runde der letzten 16 brachte und die das Ansehen der beteiligten Teams genauso wie die Weltmeisterschaft selbst beschmutzte. Nachdem Deutschland in der zehnten Minute ein Tor geschossen hatte, das ein Ergebnis produzierte, welches beiden Mannschaften das Weiterkommen garantierte, schienen sie komplett mit dem Spielen aufzuhören. In den verbleibenden 80 Spielminuten kickten sie den Ball harmlos hin und her, scheinbar ohne jegliche Anstrengung zu unternehmen, einen Vorstoß in Richtung des gegnerischen Tors unternehmen zu wollen. Es wurde als solch eine Verhöhnung des Sports angesehen, dass die FIFA im Anschluss daran die Regeln dahingehend veränderte, dass alle letzten Spiele einer Gruppe simultan ausgetragen werden, damit solche Schummeleien in Zukunft nicht mehr passieren können. Der deutsche Fernsehkommentator Eberhard Stanjek war so verzweifelt über den Mangel an Bemühung, dass er fast zu weinen anfing: „Das, was hier passiert, ist eine Schande und hat mit Fußball nichts zu tun.“ Als deutsche Fans nach dem Spiel zum Mannschaftshotel fuhren, um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen, verschlimmerten einige Spieler die Angelegenheit, indem sie aus den Fenstern in den oberen Stockwerken Wasserbomben auf die Fans warfen.
Die deutschen Spieler zeigten keinerlei Schuldbewusstsein oder Reue bezüglich des ergebnisorientierten Spiels gegen Österreich. Sie hatten, abgesehen von dem, was man als „Fair Play“ bezeichnet, keinerlei Regeln gebrochen. Sie freuten sich, später das Halbfinale gegen Frankreich bestreiten zu können, in dem Torwart Toni Schumacher für den nächsten Skandal sorgte: Er schlug den französischen Stürmer Patrick Battiston bewusstlos, als er einen Ball am Rande des Strafraums abfangen wollte. Es war eine Attacke, nach der Battiston mit einer schweren Rückenverletzung am Boden liegen blieb. Schumacher hatte Battiston außerdem zwei Frontzähne ausgeschlagen und Battiston fiel ins Koma. Schumachers Reaktion auf die Verletzung war eine weitere Beleidigung. Er betrachtete den am Boden liegenden Franzosen mit gelangweilter Missachtung. Im Anschluss an das Spiel verschlimmerte er die Lage weiter, indem er bar jeder Gefühlsregung anbot, die Kosten für Battistons Zahnreparatur übernehmen zu wollen. Die diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich kühlten sich nach dem Spiel, das die Deutschen im Elfmeterschießen gewannen, merklich ab. Es blieb für Jahrzehnte in Frankreich eine strittige Angelegenheit. Das Ansehen in der Öffentlichkeit wurde durch einen weiteren Zwischenfall getrübt, als ein deutscher Spieler Journalisten mit Wasser überschüttete, nachdem in den Medien berichtet worden war, dass einige Spieler im WM-Vorbereitungscamp heftig getrunken hätten.
Gegen Ende der 80er sehnte sich das Land mit dem stolzen Fußballerbe nach neuen unverbrauchten Talenten. Fußballfans wollten das Spiel wieder lieben können. Und Spieler wie Klinsmann, der seine Tore mit ungebremster Freude feierte und Niederlagen so schwernahm, wie sie es auch taten, schien zu verkörpern, wonach viele Fans sich zu verzehren schienen.