Читать книгу Jürgen Klinsmann - Fußball ohne Grenzen - Erik Kirschbaum - Страница 8
Stuttgarter Kickers
ОглавлениеDas Pendeln zwischen Geislingen und Stuttgart begann 1978, nach ungefähr sechs Monaten, an dem 14-jährigen Klinsmann zu zehren. Zur selben Zeit, als er der Fahrerei müde war, wurde der junge Stürmer von einem der beiden großen Stuttgarter Bundesligavereine, den Stuttgarter Kickers, intensiver umworben. Dies war das erste Mal, dass er von einem anderen Verein so ernsthaft umworben wurde und bedeutete für Klinsmann eine weitere Bestätigung, dass harte Arbeit sich lohnt. Die Kickers taten alles, damit Klinsmann, der sie über Jahre mit seinen Geislinger Mannschaftskollegen zu oft geschlagen hatte, sich willkommen fühlte.
Als Trainer der US-amerikanischen Nationalmannschaft sitzt Klinsmann nun auf der anderen Seite der Rekrutierungsbemühungen und ist weithin bekannt für seine besondere Fähigkeit, Spieler zu umwerben. Dies gilt besonders für Spieler mit doppelter Staatsbürgerschaft, die er überzeugen konnte, für die Vereinigten Staaten zu spielen. Klinsmann hat die Erfahrungen nicht vergessen, die er als junges Talent, das von den Stuttgarter Kickers umgarnt wurde, gemacht hatte. „Er rief mich an und lud mich zu einem US-Trainingslager ein“, erzählt Fabian Johnson, einer der besten USA-Nationalmannschaftsspieler, der in Deutschland aufgewachsen ist und die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt. Er erinnert sich gern daran, wie Klinsmann und das Trainerteam der amerikanischen Nationalmannschaft ihm von Anfang an das Gefühl gaben, willkommen zu sein. „Die Atmosphäre hier ist wirklich gut. Deswegen habe ich mich entschieden, für die USA zu spielen.“
Klinsmanns schulische Leistungen wurden während des halben Jahres, das er hin- und herpendelte, in Mitleidenschaft gezogen. Manchmal schlief er nach einem langen Tag mit Schule und Training auf dem Heimweg nach Stuttgart im Zug ein. „Mein Vater sagte: Du musst eine Entscheidung treffen, die Schule steht an erster Stelle. Das war ungefähr zur selben Zeit, als die Kickers erneut auf mich zukamen und mich fragten, ob ich nicht einfach mal zum Training vorbeikommen wolle, um zu sehen, ob es mir gefiele. Ich sagte dem Verein in Geislingen, dass ich bei den Stuttgarter Kickers trainieren wolle, weil mein Vater besorgt sei wegen meiner Noten. Und sie hatten total Verständnis. Sie sagten: Das ist kein Problem.“ Es war der richtige Zeitpunkt, sich zu verändern, auch wenn er einige Zeit mit der Entscheidung gerungen hatte. Er war von der Hartnäckigkeit der Kickers beeindruckt und fand ihr Angebot verlockend. Er spürte gleich, dass er bei den Kickers eine neue Herausforderung und ein verändertes Tempo finden würde, und nachdem er eine kurze Zeit am Training teilgenommen hatte, entschied er sich im Sommer 1978, ganz in die Jugendmannschaft der Stuttgarter Kickers zu wechseln. Die Kickers waren nach dem Bundesligaverein VfB Stuttgart der zweite Club der Stadt. Klinsmann blieb letztendlich sechs Jahre bei den Kickers, von seinem 14. Lebensjahr 1978 bis zu seinem 20. Lebensjahr 1984 – länger, als bei jedem anderen Verein. In dieser Zeit lernte er viel über den Fußball und das Leben. Eine Zeit lang wurde er als Mittelfeldspieler eingesetzt und half „den Blauen“ in seiner ersten Saison in der B-Jugend, die württembergischen Regionalmeisterschaften zu gewinnen. „Geislingen war meine Komfortzone“, sagt Klinsmann mit Rückblick auf den fast 40 Jahre zurückliegenden Wechsel nach Stuttgart. Im Nachhinein betrachtet er es als gute Entscheidung – eine frühe Erkenntnis über die Tugend, sich gegenüber der Gefahr der Selbstzufriedenheit zu verwahren. „Ich blieb in Geislingen, weil ich der Ansicht war, dass wir besser als Stuttgart waren, warum sollte ich wechseln? Nur wegen des großen Namens, obwohl wir die bessere Mannschaft hatten? Aber in Stuttgart fühlte ich mich von Anfang an wirklich willkommen, und mir wurde bewusst, dass dies das Richtige war. Irgendwann dachte ich mir: Weißt du was? Du musst nach vorne schauen, du musst deine ‚comfort zone‘, deine Wohfühlzone verlassen und den nächsten Schritt gehen. Es war der richtige Augenblick, sich zu bewegen, es war ein guter Schritt. Und es war auch eine Art Weckruf für mich, weil das Training bei den Kickers noch viel intensiver war als das, was ich aus Geislingen gewöhnt war. Und dann gewann ich mit den Kickers gleich die Landesjugendmeisterschaften.“
Die Stuttgarter Kickers verloren dann bei den deutschen B-Jugendmeisterschaften nur knapp gegen Augsburg; eine unglückliche Niederlage, die Klinsmann heute, so viele Jahre später, immer noch irgendwie ärgert. Trotz seines wachsenden Erfolgs auf der größeren Bühne in Stuttgart, war sich Klinsmann weiterhin unsicher, wie weit er mit dem Fußball kommen würde. In ganz Deutschland gab es tausende junger Fußballtalente, die dabei waren, sich ihren Weg nach oben zu bahnen. Klinsmann beschränkte sich darauf, eine Herausforderung nach der anderen anzunehmen und vor allem darauf, sein sich konstant verbesserndes Spiel zu genießen. Er wusste um seine Fähigkeiten, aber der Gedanke, er könne eines Tages in der Bundesliga oder gar in der Nationalmannschaft spielen, schien ihm immer noch zu kühn.
„Ich verfolgte immer nur das Ziel, das als nächstes vor mir lag. In einer Mannschaft zu spielen, die man nur aus dem Fernsehen kannte, war kein Ziel, das ich mir damals setzen konnte. Wenn wir das Team spielen sahen, was die WM von 1974 gewonnen hatte, ging ich nach draußen und feierte die Tore, die Gerd Müller geschossen hatte. Es wäre mir aber als Zehnjährigem nicht in den Sinn gekommen zu sagen: Du musst eines Tages auf derselben Position spielen wie Gerd Müller, weil das zu dem Zeitpunkt so unerreichbar schien. Man konnte sich unmöglich vorstellen, dass man eines Tages selber auf der Ebene, die man im Fernsehen sah, landen würde. Ich konzentrierte mich auf die Umgebung, in der ich gerade lebte und spielte. Es kam mir nicht in den Sinn, dass ich mehr als eine Stufe gleichzeitig aufsteigen könnte. Jeder kleine Schritt rückte erst dann in meinen Fokus, wenn er als nächstes vor mir lag. Das ist der große Vorteil dieser Pyramide, dass es dir hilft, dich selbst einzuschätzen und dir ehrlich sagt, wo du stehst. Ich habe nie irgendeinen Druck gespürt, es bis nach ganz oben schaffen zu müssen. Ich habe mir immer gedacht, dass ich halt als Bäcker arbeiten könnte, wenn es mit dem Fußball nicht klappt. Als ich 14 war und in die Jugendmannschaft der Kickers kam, sah ich, dass das Niveau der Herrenmannschaften, die in der 2. Bundesliga spielten, immer noch weit über dem war, was ich bis dahin kannte. Ich sagte zu mir selbst: Dort möchte ich eines Tages spielen. Dann spielst du irgendwann in der Zweiten Bundesliga, siehst nach oben und die 1. Bundesliga vor dir und sagst dir: Dort möchte ich auch eines Tages spielen.“
Klinsmann hat niemals seine Bescheidenheit verloren, selbst als er kurz davor war, in der 2. Bundesliga zu spielen und die Spitze der Fußballpyramide in Reichweite rückte. Er erzählt, dass er sich immer noch jeden Gedanken verbat, in der Nationalmannschaft zu spielen. Erst als er viele Jahre später mit dem VfB Stuttgart fest in der Bundesliga etabliert war und dort regelmäßig Tore erzielte, begann er an eine mögliche Berufung in die Nationalmannschaft zu denken, für Fußballer die Krönung ihrer Laufbahn.
Er blieb hungrig nach Toren und danach, die nächste Stufe zu erklimmen. Er verwahrte sich gegenüber jeglicher Selbstgefälligkeit, durch die seine Karriere aus den Fugen hätte geraten können. Als Trainer der amerikanischen Nationalmannschaft wundert und sorgt sich Klinsmann manchmal über einige amerikanische Fußballspieler, die zufrieden damit scheinen, wenn sie ein bestimmtes Level erreicht haben. „Man kann bei allen Top-Spielern der Welt eine ganz bestimmte Einstellung beobachten, einen gewissen Hunger“, sagt er. „Es ist etwas Besonderes, was Spieler wie Messi, Christiano Ronaldo oder Bastian Schweinsteiger oder Miroslav Klose oder Wayne Rooney durch ihre Zeit als Jugendspieler bis in die Erwachsenenmannschaften antreibt. Die Vereinigten Staaten sind bisher nicht konstant in der Lage gewesen, Spieler mit solch einer Einstellung hervorzubringen. Vielleicht, weil das nie von ihnen verlangt wurde oder vielleicht, weil sie zufrieden waren, sobald sie ein bestimmtes Niveau erreicht hatten und sich darauf ausruhten.“
In der Bundesrepublik war es schwierig, selbstgefällig zu werden, weil der Wettbewerb überall stattfand. Es gab immer andere Spieler, die ohne Skrupel danach trachteten, den Stammplatz auf dem Feld streitig zu machen. Wie in allen anderen Phasen seines Lebens, nutzte Klinsmann seine nächstgrößere Chance in der Jugendmannschaft der Stuttgarter Kickers bestmöglich. Seine Fähigkeiten und Entschlossenheit auf dem Spielfeld waren sowohl der Herrenmannschaft der Kickers als auch der DFB-Zentrale in Frankfurt nicht entgangen. Völlig unvermittelt war eines Tages ein Brief vom DFB im Briefkasten. „Wir haben Sie für ein Spiel mit der Jugendnationalmannschaft in Portugal nominiert“, stand in dem Brief. Klinsmann war perplex. Er musste die Einladung mehrere Male lesen, bevor er begriff, was passierte.
„Ich konnte es einfach nicht fassen“, erzählt Klinsmann. „Ich war ein Kind vom Lande und las diesen Brief vom DFB, in dem es hieß: Wir möchten, dass Sie in der Jugendnationalmannschaft spielen. Ich wusste nicht, was das bedeutete, ich konnte das einfach nicht begreifen. Das war einfach ein bisschen zu viel für ein 15-jähriges Kind.“
Sein Debüt für die deutsche Jugendnationalmannschaft war nicht besonders bemerkenswert, auch wenn es bei Klinsmann selbst einen tiefen Eindruck hinterlassen hat. Sein Trainer war Berti Vogts, ein ehemaliger Nationalspieler und zukünftiger Bundestrainer des Teams, das die EM 1996 gewinnen sollte. Berti Vogts war auch derjenige, durch den Klinsmann später zufälligerweise Trainer wurde. Das deutsche B-Jugendteam wurde 2:0 von den Niederlanden und 2:0 von Spanien besiegt, bevor es sich im letzten Spiel mit 3:0 erfolgreich gegen die Schweiz durchsetzte. Klinsmann spielte mit der U-16 nur diese drei Spiele, ohne selbst ein Tor zu schießen. Dennoch war diese Erfahrung auf internationaler Ebene für ihn beflügelnd. „Sie öffneten mir sehr die Augen“, sagt Klinsmann über die Spiele in Faro, Portugal. „Es war ein fremdes Land und eine fremde Sprache. Man konnte die Leute nicht verstehen. Es war ein unglaubliches Erlebnis. Ich war nie zuvor in Portugal, und es war alles so faszinierend. Ich sah den Strand und flippte aus“, ergänzt er, bezüglich des ersten Mals, dass er das Meer sah. „Es war so faszinierend ... Ich ging an den Strand und betrachtete einfach nur das Wasser.“
Vogts erzählt gerne die Geschichte, wie Klinsmann schon früh seine unabhängige Ader gezeigt habe. Es ist eine Eigenschaft, die Spielern auf dem Feld hilft, während des Spiels selbstbewusst spontane Entscheidungen zu treffen, aber es ist auch eine Herausforderung für einen Trainer, der gleichzeitig die Mannschaftsdisziplin aufrechterhalten muss. Vogts erinnert sich daran, wie der 15-jährige Klinsmann sich nach dem Mittagessen aus dem Mannschaftshotel davonschlich, anstatt an der dringend empfohlenen Mittagsruhe teilzunehmen. In seiner Funktion als Aufsichtsperson und als Trainer, der für das Wohlergehen der ihm anvertrauten Jugendlichen verantwortlich war, folgte Vogts heimlich Klinsmann, als dieser sich leise vom Hotel entfernte. Er wollte nur sichergehen, dass er nicht weglief oder irgendetwas anstellte. Schnell stellte Vogts fest, dass alles ganz harmlos war ...
Klinsmann erinnert sich ebenfalls an diese Begebenheit. „Das Meer war nur 200 Meter vom Hotel entfernt und Vogts dachte: Was stellt er an? Aber nach ein paar Tagen verstand er, dass ich lediglich den Ozean anschauen wollte. Danach sagte er zu seinen Assistenten: Macht euch keine Sorgen, es ist in alles Ordnung.“
Die Stuttgarter Kickers nahmen im selben Sommer an einer inoffiziellen Jugendeuropameisterschaft in den Niederlanden teil. Die Atmosphäre dieses Turniers war elektrisierend. Die Kickers erreichten das Halbfinale, bevor sie von dem dänischen Verein Vejle BK geschlagen wurden, und Klinsmann zeigte mit sieben Toren in sechs Spielen den ersten seiner vielen starken Auftritte auf der internationalen Bühne. „Die Kickers hatten natürlich längst erkannt, welch ein Juwel sie da in ihren Reihen hatten“, schreibt Roland Eitel in seinem Buch Jürgen Klinsmann. Beeindruckt von seiner Leistung, bot der Club ihm einen vorläufigen Vertrag in ihrer Profimannschaft an, die damals in der Zweiten Bundesliga spielte. Die Kickers machten dieses Angebot, obwohl er erst 16 war und der Vertrag erst zwei Jahre später mit dem Erreichen seines 18. Lebensjahres gültig werden würde.