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Die Armenerziehungsvereine als Forschungsgegenstand

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«…der Anfang einer umfassenden Auseinandersetzung mit einem dunklen Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte»1

Die Kinder von heute sind die Zukunft von morgen – die Kinder von heute gestalten die Zukunft von morgen; und sie geben ihren Erfahrungsschatz an die kommende Generation weiter. Diese Aussage erfüllt die Leserschaft je nach Befindlichkeit mit Zuversicht oder mit Unbehagen – falls sie aber zutrifft, stellt sich die Frage: Was geschieht, wenn die Kinder «schlecht» erzogen werden und sie den gesellschaftlichen Ansprüchen weder in sozialer, moralischer, religiöser, beruflicher noch in staatsbürgerlicher Hinsicht genügen?

Diese pessimistische Sichtweise umschreibt Bedenken der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die eng an zeitgenössische Diskussionen über die Auswirkungen der Industrialisierung hinsichtlich einer potenziellen degenerativen Armutsvererbung, den Zustand des «Volkskörpers» oder generell die «soziale Frage» geknüpft waren. Gemeinsamer Ausgangspunkt war die Überzeugung, dass Kinder und Jugendliche, die in einem «schlechten Umfeld» aufwuchsen, negative Eigenschaften in sich aufnehmen und an die nächste Generation weitergeben würden.2 Die Angst lag insbesondere in der Vorstellung begründet, dass es sich nicht um Einzelfälle, sondern wie in England oder Deutschland mutmasslich um das unmittelbar gesellschaftsbedrohende Massenphänomen Pauperismus handle, das hauptsächlich in den Grossstädten sichtbar würde. Armut galt nicht länger als individuelles Schicksal, sondern als «kollektive Gesamterscheinung» einer neuen gesellschaftlichen Klasse, dem Proletariat.3

Was als moralisch gut oder schlecht galt, definierten die bürgerliche Gesellschaft, die Kirche, der Staat und nicht zuletzt auch die Wissenschaft. Begriffe wie «verwahrlost», «vernachlässigt» oder «sozial verwaist» umschrieben einerseits das vermeintlich von Kindern und Jugendlichen ausgehende Gefahrenpotenzial als zukünftige Erwachsene, andererseits deuteten sie auf eine ungenügend wahrgenommene Erziehungspflicht ihrer Eltern hin.4 Der Begriff «Verwahrlosung» war anscheindend allgemein verständlich und fand ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts Eingang in die Gesetzgebung, die praktische Armenfürsorge, die Psychiatrie, das Gerichtswesen und die Pädagogik. Dabei beschrieb er neben einem bereits existierenden Zustand auch dessen Ursachen und Folgen. Die attestierte Eigenschaft wurde auf missfallende Lebensumstände (soziale und moralische Faktoren), schlechtes Erbgut (biologische Faktoren) sowie mangelnde Erziehung (pädagogische Faktoren) zurückgeführt. «In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lösten sich erst das sozialdeterministische, dann das moralisierende und schliesslich das eugenische Interpretationsmodell der ‹Verwahrlosung› ab.»5

Bei den Kindern wollte sich die bürgerliche philanthropische Gesellschaft – im Gegensatz zu «gescheiterten Existenzen» Erwachsener – korrigierend einbringen. Sogenannte Wohltäter schlossen sich im 19. Jahrhundert zu bürgerlichen Hilfsvereinen mit philanthropischer und pietistischer Ausrichtung zusammen und bewegten sich in der Armenfürsorge in einem damals vom Staat nur wenig mitgestalteten Feld.6 Die Professionalisierung der kantonalen Armenfürsorge des 19. Jahrhunderts entwickelte sich erst ab den 1880er-Jahren zum modernen Fürsorgesystem. Wesentlicher Schritt war dabei die Einführung der obligatorischen Schulpflicht in der Bundesverfassung von 1874, sodass auch zunehmend Kinder Ziel stark pädagogisierter Fürsorgebestrebungen wurden.7 Das individuelle Lebensrisiko wie das Alter wurde erst mit der Einführung der AHV 1948 abgesichert, dasjenige der Invalidität im Jahr 1971. Auch die obligatorische Unfall- und Militärversicherung, die Erwerbsersatzordnung, das Krankenversicherungsgesetz und die kantonal geregelten Familienzulagen – allesamt solidarisch getragene Versicherungsleistungen – waren Ausdruck der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.8

Die philanthropischen Sozietäten und die kantonale und kommunale Verwaltung versuchten die Schärfen der Armut zu mildern und konzentrierten sich auf Familien der Unterschichten, die dem aus ihrer Warte «gängigen» Familienmodell nicht entsprachen: Das Einkommen des Vaters musste für die ganze Familie ausreichen, und die Mutter sollte Hausfrau und sorgende Mutter sein. Wich eine Familiensituation aufgrund Erwerbsausfalls, Tod eines Elternteils oder der notwendigen Arbeitstätigkeit der Mutter vom bürgerlichen Ideal ab, gerieten oft die Kinder in den Fokus der Vereinsvorstände und Behörden. Dass deren bürgerliche Lebensführung und Moralvorstellungen nicht auf die harten Lebensumstände wirtschaftlich schwächer gestellter Familien angewandt werden konnten, wurde oft marginalisiert.9 Die Folgen des arbeitstätigen und deshalb abwesenden Elternpaars lagen für die «Versorger» auf der Hand: «So bleibt das Kind sich selbst überlassen; es ist auf die Strasse angewiesen und allen schädlichen Einflüssen preisgegeben und kommt so in grosse Gefahr, zu verrohen und zu verwahrlosen.»10

Die Intervention in jene Familien sollte in Form der Armenerziehung geschehen. Pfarrer Albert Wild (1870–1950), unter anderem Präsident der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, umschrieb diese in seinem 1902 erschienenen «Vademecum für Armenpfleger» als «eine[s] der wichtigsten und heikelsten Gebiete der Armenfürsorge». Er unterschied auf der einen Seite die Erziehung der Erwachsenen und auf der andern die «Erziehung der Kinder der Armen». Bei Ersteren, die durch «Charakter- und Bildungsmängel bei normaler Intelligenz periodisch oder chronisch sich selbst in kritische Lage bringen», sah er die «Patronisierung» (Beaufsichtigung) als geeignete Massnahme, um «die Leute vor Stumpfsinn und Verwahrlosung und absoluter Verarmung […] zu retten». Bei Letzteren schlug er vor, dass diese «einem verkommenen Elternpaar amtlich und zwangsweise weggenommen und entweder in Anstalten oder Familien versorgt werden müssen, die also, wie man das nennt, sittlich gefährdet, oder bereits verwahrlost sind».11

Wild wies die Interventionspflicht über die oben beschriebenen Kinder aber nicht nur den Armenpflegen oder Waisenbehörden zu, sondern stellte fest, dass «diese Armenerziehung Sache der gesetzlichen wie der freiwilligen Armenpflege, ferner der Gemeinnützigkeit und der privaten Philanthropie» sei. Der Eingriff in die «verwahrlosten» Familien müsse demnach von mehreren Seiten erfolgen. «In verschiedenen Kantonen z.B. in Aargau, Solothurn, Baselland bestehen Bezirksarmenerziehungsvereine, die eine ziemliche Tätigkeit entfalten […].»12 Einer davon, der aargauische Armenerziehungsverein Muri, umschrieb zur gleichen Zeit seine Aufgabe wie folgt:

«Gibt es ja keine schönere Aufgabe, keine edleren Bestrebungen, als dafür zu sorgen, dass solchen armen, verwahrlosten Kindern eine richtige Erziehung zu Teil wird, sie zur Erkenntnis gebracht werden, dass der Mensch, wenn auch arm, aber mit guten Sitten und Lehren ausgestattet, doch ein brauchbares Glied der menschlichen Gesellschaft sein kann. Die Erziehung solch verwahrloster Kinder ist die Aufgabe unseres Vereins, schon von Anfang an war das unsere Devise, einzugreifen bei den untern Volksklassen, wo Not, Entbehrung und oft das Laster selbst sich fest genistet hat, hier solch verwahrloste Kinder wegzunehmen, in eine andere Umgebung zu bringen und zu rechten braven Kindern heranbilden zu lassen.»13

Die Armenerziehung von «verwahrlosten» Kindern wurde als gesellschaftliche Verantwortung wahrgenommen. Sie bezweckte die Heranbildung der Kinder zu eigenständigen, «brauchbaren Gliedern» innerhalb der Gemeinschaft. Dazu war es nach damaligem weit verbreitetem Verständnis unumgänglich, dass die Kinder aus ihrer Herkunftsfamilie in eine Pflegefamilie versetzt wurden. An diesen «Kindswegnahmen» beteiligten sich verschiedene Entscheidungsträger aus Verwaltung, Kirche und Schule, aber auch – wie oben erwähnt – Vereine. In der Schweiz des 20. Jahrhunderts wuchsen rund fünf Prozent der Kinder unter 14 Jahren ausserhalb ihrer Herkunftsfamilie auf.14

Am 11. April 2013 wandte sich die Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, Bundesrätin Simonetta Sommaruga, an einem Gedenkanlass für ehemalige «Verdingkinder» und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen an die versammelten Zeitzeugen.15 Sie bat im Namen der Landesregierung bei ihnen um Entschuldigung und befand, dass der Gedenkanlass «kein Abschluss [sei], sondern der Anfang einer umfassenden Auseinandersetzung mit einem dunklen Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte». Natürlich ging diesem Gedenkanlass bereits eine intensive Auseinandersetzung von Journalisten, Soziologen, Historikern und Zeitzeugen mit dem Thema Fremdplatzierung voraus, die ein spürbares mediales Echo hervorrief. Diese vielköpfige Autorenschaft brachte zum Ausdruck, auf was für eine diversifizierte Weise die «Versorgung» von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz des 19. und 20. Jahrhunderts geschah. Am 13. Juni 2013 wurde ein runder Tisch einberufen, an dem sich Vertreter von Behörden, Betroffenen-Organisationen und Vertreter mit beratender Stimme (Historiker, Schweizerische Archivdirektorenkonferenz, Sozialwissenschafter und weitere) austauschten.16 Der runde Tisch gab unter anderem Anstoss zur Schaffung eines Soforthilfefonds sowie zur Schaffung einer interdisziplinär besetzten unabhängigen Expertenkommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung administrativer Versorgungen.17 Zur selben Zeit wurde die «Wiedergutmachungsinitiative» initiiert sowie vom Bundesrat ein indirekter Gegenvorschlag ausgearbeitet.

Die vorliegende Auseinandersetzung mit den Armenerziehungsvereinen der Kantone Aargau, Basel-Landschaft, Solothurn und Thurgau18 soll einen Einblick in die vereinsgetragene Fremdplatzierung und nicht zuletzt in die Lebenswelt der von Wild beschriebenen «untern Volksklassen» der Schweiz bieten. Der gewählte Zeitraum 1848 bis 1965 orientiert sich am Gründungsjahr des ältesten Armenerziehungsvereins im Kanton Basel-Landschaft und dessen Reorganisation.

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