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Qualitative und quantitative Inhaltsanalyse

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Die erläuterten Fragestellungen werden einerseits mit einem hermeneutischen, andererseits mit einem analytischen Ansatz anhand der fixierten Kommunikation – sprich der schriftlichen Quellen – angegangen.99 Die Methodenwahl liegt vornehmlich darin begründet, dass insbesondere für den Untersuchungszeitraum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Zeitzeugen mehr existieren. Darüber hinaus stellt die Überlieferungsdichte und -fülle der akribisch geführten «Pflegekinder-Kontrollen» der Armenerziehungsvereine im Vergleich zu den in kommunalen Quellen aufgenommenen «Verdingkinder»-Schicksalen aus Forscherperspektive einen ausgesprochenen Glücksfall dar, was eine detaillierte Betrachtung nahelegt. Die Grenze dieser perspektivenabhängigen Reflexion liegt auf der Hand, dokumentiert sie doch in erster Linie nur die Handlungsweise der Akteure wie des Vereinsvorstands, der kantonalen Verwaltung, der Kommunen oder der Kirchenpflegen. Die Pflegekinder selbst kommen in den Quellen nur vereinzelt zu Wort.100

Philipp Mayring schlägt zur qualitativen Inhaltsanalyse des Quellenkorpus ein dreistufiges Modell vor, an dem sich auch die vorliegende Arbeit orientiert.101 Im ersten Schritt, der qualitativen Analyse (I), werden die Leitfragen und Untersuchungskriterien durch das Forschungsinteresse und Vorwissen über den zu behandelnden Forschungsgegenstand sowie das Quellenkorpus definiert, es handelt sich also im weitesten Sinn um eine hermeneutische Herangehensweise («Verstehen»).102 Im zweiten Schritt, der quantitativen Analyse (II) des Phasenmodells, wird eine empirische Auswertung der Personendaten durchgeführt, hierbei handelt es sich folglich um eine analytische Herangehensweise («Erklären»).103 Dafür sind zwei Arten von Informationen erforderlich, die zueinander in Bezug gesetzt werden: erstens Metadaten über die Pflegekinder selbst und deren Gliederung nach spezifischen Merkmalen wie Geschlecht, Alter, Zivilstand; zweitens – wie sie Sokoll nennt – «vitalstatistische Daten» über die eintretenden Ereignisse. Beim vorliegenden Forschungsgegenstand sind dies beispielsweise die «Stationen der Fremdplatzierung», wie sie in den «Pflegekinderregistern» festgehalten wurden.104 Durch die Analyse der Zählung von «Eintritten», «Austritten» und so weiter pro Kalenderjahr und die regionale Kontextualisierung lassen sich Muster erkennen, die durch hermeneutische Interpretationen vertieft werden können («Explikation»).105 Der Datenvergleich zwischen den Armenerziehungsvereinen ist selbstverständlich abhängig von der historisch gewachsenen Datenmenge und deren Strukturierung (und deren Harmonisierung durch den Autor) sowie die Offenlegung der Vergleichskriterien (Bildung von Alterskohorten, Eintrittsalter, Austrittsalter, Dauer der Fremdplatzierung und so weiter). Mit dem Vergleich wird dabei eine doppelte Zielsetzung verfolgt: Einerseits werden zwei Modelle herausgearbeitet und ihre Eigenheiten («das Besondere, Individuelle») kontrastiert. Andererseits werden im Vergleich Gemeinsamkeiten festgelegt, die in eine Verallgemeinerung münden können.106

Die Armenerziehungsvereine waren statutengemäss dazu verpflichtet, jeweils über das vergangene Vereinsjahr in Form eines Jahresberichts ihren Mitgliedern gegenüber Rechenschaft abzulegen. Diese Rechenschaftsberichte bestanden bei allen Vereinen aus dem Résumé des Präsidenten, der Jahresrechnung und der Bezifferung der fremdplatzierten Kinder. Es bot sich folglich an, die Vereinsfinanzen und die Pflegekinderzahlen quantitativ zu erfassen und einander gegenüberzustellen. Dies konnte bei den Kantonen Baselland und Thurgau, die als Kantonalvereine die Jahresberichte herausgaben, 107 denkbar einfach erreicht werden. Um äquivalente Aussagen auch für die beiden Kantone Aargau und Solothurn zu erhalten, die über bezirks- und amteiweise geführte Armenerziehungsvereine verfügten, wurden die Rechenschaftsberichte des Regierungsrats des Kantons Aargau beziehungsweise des Kantons Solothurn konsultiert, denn die Bezirksgesellschaften waren Empfänger von Kantonsbeiträgen und schuldeten folglich dem Regierungsrat Bericht. Die daraus entstandenen quantitativen Zusammenstellungen lassen somit einen Vergleich auf Kantonsebene hinsichtlich der Aufwendungen für die Fremdplatzierungen zu.

Diesen aggregierten Daten aus den Jahresberichten können fünf sehr detaillierte und umfassende kantonale und bezirksweise zusammengestellte Datensammlungen gegenübergestellt werden. Stellvertretend für die übrigen zehn Bezirks-Armenerziehungsvereine des Kantons Aargau steht beispielsweise der Armenerziehungsverein des Bezirks Baden mit der 379 Personendaten umfassenden quantitativen Erhebung aus den Jahren 1920–1940. Mit den Parametern zu den Personalien, dem «Vereinsaufenthalt», den Pflegeverhältnissen, den Kost- und Lehrgeldern sowie den Angaben zur Ausbildung widerspiegelt diese Erhebung Einzelbiografien, wie sie aus den Pflegekinderkarteien des Vereins hervorgehen.108

Für den Kanton Basel-Landschaft liegt vermutlich die älteste jemals erhobene und annähernd kantonsumspannende Umfrage mit armenerzieherischer Zielsetzung vor, nämlich jene des Landwirtschaftlichen Vereins an die Pfarrämter bezüglich Erfassung «derjenigen Kinder, deren Aufnahme in die Versorgungsanstalt besonders rathsam wäre» aus dem Jahr 1840.109 In den Umfragebogen führten die Pfarrer 253 Kinder auf, deren «körperlicher», «sittlicher» und «intellektueller Zustand» eine Anstaltsversorgung aus ihrer Sicht notwendig machte. Diese (genuine) Enquête – ursprünglich als Bedarfsanalyse für eine zu gründende Anstalt gedacht – führte schliesslich zur Konstituierung des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins. Aus der Pflegekinderkartei des basellandschaftlichen Inspektors stammt die zweite Erhebung von Pflegekinderdaten, die 1217 Teilbiografien aus dem Zeitraum 1917–1961 umfasst.110

Stellvertretend für die sieben weiteren bezirksund amteiweise geführten Armenerziehungsvereine des Kantons Solothurn lässt die Pflegekinder-Datensammlung des Armenerziehungsvereins Balsthal-Thal mit insgesamt 265 Pflegekinderdaten Rückschlüsse auf die verschiedenen Stationen der Fremdplatzierung zwischen 1925 und 1975 zu.111 Aus den Pflegekinder-Kontrollbüchern des Thurgauer Armenerziehungsvereins wurden 500 Einträge aus dem Zeitraum der Vereinsgründung im Jahr 1882 bis 1904 ausgewertet, mit einer Akzentsetzung auf die Herkunft der Kinder und die Gründe zur «Aufnahme» in den Verein.112

Für lokal-mikroperspektivische, regionale, überkantonale und diachrone quantitative Auswertungen kann somit auf rund 2600 Personendaten zurückgegriffen werden (siehe Tabelle 2). Diese geben Aufschluss über das Alter der Kinder und Jugendlichen bei «Vereinsaufnahme» und «Vereinsentlassung», die Dauer der Fremdplatzierung und deren Stationen, Geschlechter- und Konfessionsverhältnis, Ausbildungen und Lehren der jungen Erwachsenen und so weiter, sprich die Verfahrensweise der Vereinsvorstände und weiterer Entscheidungsträger mit vermögenslosen Kindern und deren Herkunftsfamilien.


Tabelle 2: Anzahl Datensätze (Pflegekinder-Teilbiografien) pro Provenienz

Bei den Personendaten wurden folglich quantitative Angaben zu den Personalien der Pflegekinder, den Eckdaten der Fremdplatzierung durch den Verein, die Pflegeverhältnisse und -orte, die Ausbildung und die Kost- und Lehrgelder erhoben. Überkantonale Vergleiche verlassen diese individuelle Mikroperspektive und lassen Rückschlüsse über Einnahmen, Ausgaben und Kostenverteiler zu. Ähnlich wie bei einem Beschlussprotokoll offenbaren sie allerdings lediglich das Ergebnis, nicht aber die Vorgeschichte oder die Beweggründe zur Entscheidung: Warum wurde ein Säugling oder ein Kind in den Verein aufgenommen, und wie lief dieser Vorgang ab? Was waren die ausschlaggebenden Gründe für eine Anstaltseinweisung oder die Platzierung bei einer Familie? Wann und weswegen wurde ein Pflegeverhältnis gelöst und das Pflegekind in eine neue Familie oder Anstalt überführt? Und wer entschied, welcher Jugendliche welche Lehre absolvieren durfte/sollte? Diese angedeutete textbasierte qualitative Analyse lässt sich nur bei denjenigen Datenerhebungen bewerkstelligen, die über das reine Zahlenmaterial hinausgehen.

Erst durch die Kombination der quantitativen und der erneuten qualitativen Analyse (III) nach Mayring können die zentralen Fragen nach dem «Wer», «Warum» und «Wie» zu einem möglichst klaren Bild der Handlungsmuster und Vorgehensweisen der Armenerziehungsvereine und deren Pflegekindern gezeichnet werden. Dabei bewegt sich das Verstehen zwischen dem Vorverständnis, der hermeneutischen Interpretation und dem laufend gewonnenen Sachverständnis («hermeneutischer Zirkel»).114 Die Validität der Untersuchungsergebnisse wird letztlich im engeren Sinn an Aussenkriterien festgemacht, an Forschungsarbeiten mit vergleichbaren Fragestellungen und Untersuchungsgegenständen (aktuelle Forschung zur Fremdplatzierung).115

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