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Weltausstellungen als Schaubühne für eine moderne, sozial engagierte Schweiz

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Auf die Umfrage des Jahres 1858 folgte im Vorfeld der Weltausstellung in Wien 1873 eine weitere Enquête zur Erfassung des Schweizer Vereinswesens mit Akzent auf sozial ausgerichteten Institutionen. Der Basler Professor Hermann Kinkelin (1832–1913) konnte für die Koordination gewonnen werden und holte das statistische Material ein. Die Drucklegung fand hingegen nicht rechtzeitig zur Weltausstellung statt, sodass lediglich das Manuskript auflag. Veröffentlicht wurden «Die Schweizerischen Vereine für Bildungszwecke» erst 1877 von Eduard Keller und Wilhelm Niedermann (1845–1906). Dies insbesondere auf das Betreiben von Bundesrat Carl Schenk (1823–1895), der insistierte, dass das gesammelte Material nicht in den «Archiven des statistischen Bureaus vergraben, sondern einem weitern Publicum zugänglich gemacht werden [sollte], da in demselben ein bedeutendes culturhistorisches Moment von allgemeinem Interesse zur Darstellung gelange».19

Die beiden Autoren bemerkten in ihrem Vorwort, dass «die Arbeit selbst, wie sie vorliegt, bei weitem noch nicht auf Vollständigkeit den Anspruch machen kann – was überhaupt kaum je möglich sein wird, da der Bestand der Vereine zu oft wechselt und die Angaben der Vereine vielfach sehr ungenau oder dürftig sind».20 Dennoch glaubten sie ein realistisches Gesamtbild der Entwicklung des schweizerischen Vereinswesens, zumal der Vereine für «Bildungszwecke», gezeichnet zu haben.21 Nach ihrer Zählung existierten in der Schweiz im Jahr 1871 insgesamt 3552 Vereine mit vorherrschendem Bildungszweck, wobei auf 751 Einwohner somit ein Verein zu stehen käme.22 Im 17. und 18. Jahrhundert bestanden lediglich sechs Vereine mit Bildungszweck, zwischen 1831 und 1840 bereits 237, zwischen 1841 und 1850 schon 359, zwischen 1851 und 1860 sogar 50923 und zwischen 1861 und 1870 insgesamt 1216.24 Unter Ausschluss der hauptsächlich religiösen Vereinigungen25 wurden die Gesellschaften in fünf Kategorien unterschieden, die den weit gefassten Begriff der «Bildungszwecke» genauer umrissen: gemeinnützige Vereine, wissenschaftliche Vereine, künstlerische Vereine, Vereine für allgemeine Bildung und Vereine für Körperbildung.26

Innerhalb der Kategorie gemeinnütziger Vereine wurden neun Unterkategorien ausgewiesen, 27 darunter 55 sogenannte «Armenerziehungsvereine» (siehe Tabelle 3).28 Bei dieser Unterkategorie fällt auf, dass nicht zwischen Vereinen und Institutionen unterschieden wurde.29 Die meisten existierten im Kanton Aargau. Danach folgten der Kanton Bern mit sieben Anstalten, St. Gallen mit sechs Institutionen sowie der Kanton Zürich mit vier Anstalten und zwei Vereinen.30 Auffallend viele Armenerziehungsvereine befinden sich in der Ostschweiz, dagegen sehr wenige in der französischsprachigen Schweiz.

Wie eingangs erwähnt, entstanden die ersten umfassenden Überblickswerke der karitativen Schweiz explizit für die Weltausstellungen von 1873 in Wien und 1876 in Philadelphia.31 Unter den zahlreichen Teilnehmern Letzterer war auch die Schweiz mit verschiedenen Verwaltungsbehörden, Firmen, Verbänden und Institutionen vertreten.32

1860 Schweizerischer Armenerziehungsverein33
1860 AG Armenerziehungsverein des Bezirks Aarau
1855 AG Armenerziehungsanstalt Kastelen bei Aarau
1862 AG Armenerziehungsverein des Bezirks Baden
1862 AG Armenerziehungsverein des Bezirks Bremgarten
1857 AG Freiwilliger Verein für Erziehung armer und verwahrloster Kinder im Bezirk Brugg
1867 AG Meyersche Rettungsanstalt in Effingen
1866 AG Armenerziehungsverein des Bezirks Kulm
1860 AG Armenerziehungsverein des Bezirks Lenzburg
1851 AG Erziehungsanstalt Friedberg bei Seengen für arme Mädchen
1856 AG Kinderversorgungsverein des Bezirks Zofingen
1864 AG Armenerziehungsverein des Bezirks Zurzach
1870 AR Hülfsverein für Waisenunterstützung in Speicher
1824 AR Waisenanstalt zur Schurtanne in Trogen
1849 AR Rettungsanstalt Wiesen bei Herisau
1840 BE Schweizerische Rettungsanstalt Bächtelen
1825 BE Privatarmenerziehungsanstalt auf der Grube in Bern
1837 BE Armenerziehungsanstalt für Mädchen im Steinhölzli in Bern
1824 BE Moriah, Asyle français de jeunes filles pauvres à Wabern
1861 BE Armenerziehungsanstalt Enggistein bei Worb
1835 BE Bezirksarmenerziehungsanstalt für Knaben Trachselwald
1839 BE Waisenhof auf Schachenhof bei Wangen – Erziehungsanstalt für arme verwahrloste Knaben
1848 BL Armenerziehungsverein Baselland
1853 BL Armenerziehungsanstalt Baselaugst
1868 BL Erziehungsanstalt für arme und verwahrloste Mädchen in Frenkendorf
1852 BL Armenanstalt Sommerau bei Gelterkinden
1824 BS Landwirthschaftliche Armenschule in Basel
1853 GL Armenerziehungsanstalt Bilten
1864 GL Zöglingsverein der Erziehungsanstalt Bilten
1843 GL Verein ehemaliger Zöglinge der Linthcolonie
1819 GL Landwirthschaftliche Armenanstalt Linthcolonie
1846 GL Cantonale Mädchenarmenanstalt in Mollis
1836 GR Bündnerische Rettungsanstalt in Foral
1845 GR Hosangsche Stiftung auf Plankishof bei Chur
1859 LU Rettungsanstalt Sonnenberg bei Luzern
1848 NE Orphelinat de Grandchamps près Boudry
1815 NE Institut des Billodes au Locle
1818 NE Colonie pour filles abandonnées à La Chaux de Fonds
1868 SG Schule der Rettungsanstalt zum guten Hirten in Altstädten
1854 SG Rheinthalische Rettungsanstalt in Balgach
1840 SG Rettungsanstalt in St. Gallen
1851 SG Rettungsanstalt Hochsteig bei Wattwyl
1846 SG Werdenbergische Rettungsanstalt Stauden bei Grabs
1870 SG Rettungsanstalt Thurhof in Wyl
1826 SH Freiwillige Rettungsherberge Friedeck in Buch
1869 SO Discheranstalt für verwahrloste Kinder
1842 TG Landwirthschaftliche Armenanstalt Bernrain
1863 VD Orphelinat de Daillens-Cossonay
1863 VD Colonie agricole et professionelle de la Suisse romande à Sérix
1838 ZH Freienstein bei Rorbas
1863 ZH Sonnenbühl bei Embrach
1847 ZH Friedheim bei Bubikon
1846 ZH Pestalozzihülfsverein Wädenswil
1865 ZH Commission für Versorgung verwahrloster Kinder des Bezirkes Zürich
1867 ZH Pestalozzistiftung in Schlieren

Tabelle 3: Übersicht der Armenerziehungsvereine nach Keller und Niedermann, 1877

Die Schweiz stellte nicht wie andere Teilnehmer in mehreren Gebäuden aus, sondern konzentrierte ihre Aussteller auf den Standort im Industriepalast. Im Departement Erziehung und Unterricht wurde auch eine Gruppe «physical, social and moral condition of man» aufgeführt, worunter verschiedene kantonale und schweizerische Anstalten, gemeinnützige Vereine und sogar die Armenerziehungsvereine der Aargauer Bezirke Aarau, Lenzburg, Zurzach und der Basellandschaftliche Armenerziehungsverein die Schweiz repräsentierten (Vitrine J., siehe Abbildung 5).34 Unter den schweizerischen Ausstellern erhielt gut die Hälfte vom internationalen Preisgericht Einzel- und Kollektivdiplome: «Die fünf Collectiv-Diplome, ohne Medaillen, umfassen 38 Aussteller im Unterrichts- und Erziehungswesen, sowie der Wohlthätigkeits-Anstalten.»35 Diese Kollektivdiplome gingen an die Armenerziehungsvereine der Bezirke Aarau und Zurzach sowie an den basellandschaftlichen, an die Société de secours mutuels du Val de Travers im Kanton Neuenburg und an den Waisenvater Johannes Wellauer in St. Gallen.36

Inwiefern die Schweiz mit ihren Anstalten und Vereinen das internationale Publikum begeistern konnte, bleibt ungewiss. Kommissär Guyer bemerkte, dass «Herr Professor Kinkelin in Basel […] durch seine grafisch-statistischen Atlasse über das schweizerische Unterrichtswesen, welche ungetheilte Bewunderung fanden, wesentlich zur Anerkennung der schweizerischen Section» beitrug.37 Die Armenerziehungsvereine selbst massen der Ausstellung anscheinden wenig Bedeutung zu, lediglich im Jahresbericht der Zurzacher Gesellschaft wurde vom Kollektivdiplom kurze Notiz genommen: «Jene Anerkennung gebührt demnach nicht sowohl dem Vorstande, als vielmehr den Repräsentanten, den vielen Freunden und Gönnern des Vereins von jetzt und früher, von deren Bethätigung und Unterstützung das weitere Gedeihen dieses menschenfreundlichen Institutes abhängt.»38 Ebenfalls im Vorfeld der Weltausstellung in Philadelphia entstand das Überblickswerk von Johannes Wellauer (1815–1881) und Johann Martin Müller (1819–1892) über die schweizerische Anstaltslandschaft.39 Der Grundstein für das Werk wurde 1873 anlässlich der Versammlung der Schweizerischen Armenerzieher in St. Gallen mit dem Fokus auf die Waisenerziehung gelegt. Aus der anfänglichen Gegenüberstellung von Waisenhäusern auf dem Land mit denjenigen in der Stadt wurde 1875 mit dem Aufruf Friedrichs von Tschudi (1820–1886), dem Verantwortlichen für den Beitrag im «Departement Erziehung» der Weltausstellung, ein gesamtschweizerisches Verzeichnis der Bildungsanstalten angestrebt.40 Im Gegensatz zum Werk Kellers und Niedermanns sollte nicht das gesamte Spektrum der «Armenversorgung» illustriert werden, sondern nur die dauerhafte «Platzierung» von Kindern und Jugendlichen in Institutionen: «Selbstverständlich lag es in unsrer Aufgabe, nur die Armenerziehung in Anstalten darzustellen, und wir hoffen, dass auch die Armenerziehung in Familien durch Vereine und Private in ähnlicher Weise ihre Bearbeiter finden werde.»41

In der Einführung warfen die Autoren einige Schlaglichter auf die Entwicklung der Fremdplatzierung und bemerkten, dass vermögende Familien Waisen meist problemlos bei Verwandten unterbringen könnten, wobei auch diese kaum in der Lage seien, «dem Gemüths- und Seelenleben des Kindes befriedigenden Ersatz liebevoller Eltern zu bieten».42 Sie folgerten: «Weitaus schwerer aber wird es den Waisen armer Familien, die ganz verlassen da stehen, weil die Verwandten sich ihrer nicht annehmen wollen, wohl auch nicht können […].»43 Somit müssten Pflegefamilien ausserhalb des Verwandtschaftskreises diese Aufgabe übernehmen.44 Die Autoren führten Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) und Philipp Emmanuel von Fellenberg (1771–1844) ins Feld, die die Bibelverse «Was ihr einem dieser Kleinen thut, das habt ihr mir gethan» und «Wer ein solch’ verlassenes Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf» in Neuhof und Hofwyl vorgelebt hätten: «In dem Grundprinzip einig, dass dem Elend des Volks nur durch eine bessere Erziehung und Bildung geholfen werden könne».45 Dass diese philanthropische Sichtweise und die Zusammenarbeit von Privaten, Vereinen und gesetzlicher Armenpflege in der Vergangenheit nicht zwangsläufig in die Schaffung pädagogisch wertvoller Institutionen mündeten, verdeutlichten die Autoren mit den unsäglichen Verhältnissen in einigen kommunalen Waisen- und Armenhäusern.46


Abbildung 5: Schweizer Sektion im Main Building der Centennial International Exhibition in Philadelphia, 1876

Die professionalisierte Anstaltsführung wurde durch Grössen wie Johann Caspar Zellweger (1768–1855), Johann Adam Pupikofer (1797–1882) oder Johannes Kettiger (1802–1869) innerhalb der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft und ihrer «Armenlehrerbildungscommission» vorangetrieben.47 Wellauer und Müller konstatierten jedoch, dass diese «Anstrengungen, durch tüchtige Erzieher die Absichten der Armenfreunde und Gemeinden zur sittlichen und geistigen Hebung der Kinder zu unterstützen und damit die Wurzel der Armennoth abzuschneiden», in einem «traurigen Gegensatz» stünden: Dieser bestehe darin, «dass einzelne Gemeinden bei der Wahl ihrer Waisenväter die Erziehung als Nebensache und die ökonomische Verwaltung wieder zur Hauptsache machen und von den Anstaltsvätern keine pädagogische Vorbildung verlangen».48

Mit nur 33 Waisenanstalten, 18 in grösseren und kleineren Städten sowie 15 auf dem Lande, stellten sich die Verfasser die Frage: «Wie wird für die Waisen, welche nicht in Anstalten untergebracht sind, gesorgt?»49 Der Kanton St. Gallen sollte mit seinen fünf Waisenhäusern und 72 Armenanstalten, in denen neben 1250 erwachsenen Armen auch 620 Kinder lebten, diese Frage beantworten. Wellauer und Müller stellten in den Raum, dass die erwachsenen Armen krank und oftmals kriminell veranlagt seien. «Was Kinder in solcher Gesellschaft für eine Erziehung erhalten werden, kann man sich denken; die Meisten werden eben gross gezogen in den Sünden der Alten und in der Mehrzahl künftig wieder als unterstützungsbedürftige Personen der Gemeinde zur Last fallen […].» Diese Gefahr wäre in vorbildlich geführten Waisenanstalten nicht vorhanden, sodass sie «mit viel sichererm Erfolg zu guten Menschen erzogen werden könnten; Ausnahmen stossen die Regel nicht um».50

Die Armenhäuser standen in sozialer, hygienischer und moralischer Beziehung unter Verruf, und man begreife nur schwer, «warum so viele Gemeinden es jetzt noch nicht einsehen, dass nur durch eine sorgfältige Erziehung der heranwachsenden armen Jugend der erblichen Armuth gründlich gesteuert wird». Diese Ausgaben trügen reichlichen Zins ein, «während mit dem blossen Fütterungssystem, wie es so vielerorts angewendet wird, den Gemeinden von Generation zu Generation immer grössere Armenunterstützungen erwachsen».51 Im Kanton St.Gallen habe die Regierung den ersten zielführenden Schritt unternommen, indem sie 1873 eine Armeninspektion durch fünf Ärzte eingeführt habe. Diese kamen zum Schluss, «dass die Erziehung der Kinder in gut geleiteten Anstalten derjenigen in Kosthäusern weitaus vorzuziehen sei, namentlich aber das Verdingsystem im Abstreich, wie das noch in einigen wenigen Gemeinden vorkomme, höchst verwerflich» sei.52 Neben der propagierten Lösung der Anstaltserziehung kamen die Verfasser auch auf die Armenerziehungsvereine zu sprechen, die durch den «wackeren Seminardirektor Kettiger» ins Leben gerufen worden seien und jetzt noch «mit grossem Segen» fortwirkten.53

1894 übernahm ein Ausschuss der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft unter dem Präsidium von Pfarrer Conrad Denzler (1844–1897) die Aufgabe, eine «möglichst genaue und zuverlässige Übersicht über die sämtlichen Anstalten und Einrichtungen für Armenerziehung und Armenversorgung in der Schweiz zu erstellen».54 Diese wurde 1896 von Wilhelm Niedermann unter dem Titel «Die Anstalten und Vereine der Schweiz für Armenerziehung und Armenversorgung, Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft» publiziert, um «den am Werke der Armenerziehung und Armenversorgung beteiligten Behörden und Privaten ein möglichst zuverlässiges und umfassendes Mittel an Hand zu geben», sodass «das für einen speziellen Versorgungszweck jeweilen am besten Passende herauszufinden» sei und «eine wesentliche Lücke» nun ausgefüllt werde.55

Niedermann besprach 788 Anstalten und Vereine und kam zum Schluss, dass für die kleine Schweiz dies jeden «Menschenfreund mit freudigem Stolze erfüllen muss und beweist, dass die Fürsorge für die Armen von unserem Volke als eine seiner heiligsten und schönsten Aufgaben betrachtet wird».56 Er unterschied die drei Kategorien «Versorgung von armen Kindern und von Waisen», die «Versorgung von moralisch Schwachen» und die «Versorgung von geistig oder physisch Schwachen und Kranken».57 Kantone mit einer grossen protestantischen Bevölkerung, wie Bern, Waadt, Zürich, Genf und Basel-Stadt, waren in sämtlichen drei Sparten prominent vertreten.58 Demgegenüber standen Kantone mit einer grossen katholischen Bevölkerung, wie St.Gallen, Graubünden und Solothurn, im Hintertreffen. Nur wenige Institutionen besass die katholische Zentralschweiz mit Uri, Schwyz, Nidwalden und Obwalden, 59 die Ausnahme stellte der Kanton Luzern mit seinen zwölf städtischen Anstalten und Vereinen dar.60 Insbesondere in den drei Unterkategorien «Armen-Anstalten und Vereine», «Waisenerziehungsanstalten und Vereine» (129 Nennungen) sowie «Vereine und Anstalten zur Versorgung verwahrloster Kinder» (28 Nennungen) wurde die «Platzierung» von Kindern mit 157 Institutionen eingehend besprochen.61

Bezeichnenderweise standen in den bisher genannten Überblickswerken die stärker vertretenen Anstalten und weniger die zahlenmässig unterlegenen schweizerischen Vereine für die dauerhafte «Platzierung» von Kindern im Vordergrund. Ausschliesslich dieser Gruppe widmete sich erstmals Pfarrer Karl Schweizer aus Oberburg in seinem in der «Zeitschrift für schweizerische Statistik» veröffentlichten Artikel über die «Freiwilligen Armenerziehungsvereine der Schweiz» (siehe Tabelle 4).62 Er zählte insgesamt 43 dieser Gesellschaften in 14 Kantonen, die im Jahr 1897 insgesamt 2609 Pflegekinder beaufsichtigten.63

1864 AG Armenerziehungsverein des Bezirks Zurzach
1855 AG Kinderversorgungsverein Zofingen
1889 AG Armenerziehungsverein des Bezirks Rheinfelden
1862 AG Armenerziehungsverein des Bezirks Muri
1861 AG Armenerziehungsverein des Bezirks Lenzburg
1883 AG Armenerziehungsverein des Bezirks Laufenburg
1865 AG Armenerziehungsverein des Bezirks Kulm
1857 AG Armenerziehungsverein des Bezirks Brugg
1861 AG Armenerziehungsverein des Bezirks Bremgarten
1862 AG Armenerziehungsverein des Bezirks Baden
1859 AG Armenerziehungsverein des Bezirks Aarau
1830 AR Hülfsgesellschaft Trogen
1837 AR Hülfsgesellschaft Herisau
1892 BE Patronatsverein Länggasse Bern
1877–1882 BE Œuvre des orphelins pauvres64
1880–1892 BE Kantonalbernische Gotthelfstiftung65
1848 BL Armenerziehungsverein des Kantons Baselland
1874 BS Kommission zur Versorgung verwahrloster Kinder
1889 GE Association pour la protection de l’enfance Genève
1892 GR Bündnerischer Hülfsverein für arme Knaben
1879 SG Gemeinnützige Gesellschaft der Stadt St. Gallen
1890 SO Verein für freiwillige Armenpflege Thierstein
1877 SO Armenerziehungsverein Olten-Gösgen
1880 SO Armenerziehungsverein des Bezirks Lebern
1890 SO Armenerziehungsverein Kriegstetten
1890 SO Armenerziehungsverein des Bezirks Balsthal-Thal
1882 TG Armenerziehungsverein des Kantons Thurgau
1887 UR Kantonale Erziehungsanstalt für verwahrloste Kinder in Altdorf
1885 VD Orphelinat des Alpes
1831 VD Société en faveur de l’enfance abandonnée à Lausanne
1876 VD Société en faveur de l’enfance abandonnée dans le VIIIe arrondissement à Yverdon
1882 VD La Solidarité
1889 ZH Kommission für Versorgung verwahrloster Kinder im Bezirk Winterthur
1865 ZH Kommission für Versorgung verwahrloster Kinder im Bezirk Zürich

Tabelle 4: Armenerziehungsvereine nach Karl Schweizer, 1897

Schweizer stellte fest, dass es nur 14 Kantone gebe, die aufgrund einer besonders guten staatlichen oder kommunalen Armenpflege oder «wegen günstiger socialer Verhältnisse» auf solche Vereine verzichten könnten: «Im Kanton Bern [sind] solche Vereine zur Erziehung verwahrloster Kinder nicht halb so dringender Natur wie in Baselland, Solothurn oder im Aargau […], weil durch die staatliche Gesetzgebung die Gemeinden verpflichtet sind, ein wachsames Auge auf die in ihr heranwachsende Jugend zu haben, und auch die Mittel besitzen, um der Verwahrlosung entgegentreten zu können.»66 Ob mit diesem Mittel die besonders im Kanton Bern stark praktizierte Form der «Mindersteigerung» oder das «Verdingkinderwesen» gemeint war, sei dahingestellt.

Niedermanns Buch über die gesamtschweizerische Fürsorgelandschaft blieb bis zum Jahr 1910 und zur Publikation Albert Wilds über die «Veranstaltungen und Vereine für soziale Fürsorge in der Schweiz» das Standardwerk: «es soll nicht ein statistisches Werk oder eine lückenlose Übersicht über die gesamte soziale Fürsorge in der Schweiz darstellen, sondern ein Nachschlagebuch sein zum praktischen Gebrauch für Behörden, Vereine und Private, wie der ‹Niedermann›.»67 Wilds Werk, das somit als Niedermann’sche Neuausgabe aufgefasst wurde, gruppierte die 3697 Institutionen und Vereine (wobei einige doppelt gezählt wurden) nicht mehr nach Kantonen und dann in verschiedene Gebiete, sondern in verschiedene Lebensstufen «entsprechend der menschlichen Entwicklung von der Wiege bis zum Grabe».68 In seinen vier Jahre später folgenden Bänden über «Das organisierte freiwillige Armenwesen in der Schweiz»69 beschrieb er ausführlich die Stellung der freiwilligen Armenpflege und verliess somit die reine Aufzählung vorangehender Veröffentlichungen. In der Schweiz existierten 1912 nach seinen Erhebungen insgesamt 1836 Institutionen der organisierten freiwilligen Armenpflege.70 Wild unterschied die Sparten kantonale und städtische allgemeine freiwillige Armenpflege, die Armenpflege der Freimaurer-Logen, 71 die konfessionelle Armenpflege, die organisierte freiwillige Armenpflege für besondere Arten von Armen, 72 die freiwillige Unterstützung zu bestimmten Zeiten, freiwillige Armenpflege von Schweizern ausserhalb ihres Heimatkantons sowie die Armenpflege für Auslandschweizer.73

Wild führte den grossen Fächer an «allgemeinen freiwilligen Armenpflegen» auf die Einwandererströme des 18. Jahrhunderts zurück.74 Es handelte sich seiner Ansicht nach bei den meisten Armen um Ausländer und Kantonsfremde. Besonders Erstere immigrierten bereits als unterstützungsbedürftig in die Schweiz und hätten von den Ortsarmenpflegen gar nicht unterstützt werden können, sodass in der Konsequenz die freiwillige Armenpflege in Erscheinung treten musste. Als weitere Verschärfung der Zustände nannte Wild die zunehmende Mobilität der Kantonsbürger, sodass die zugewanderten Nichtbürger in den Gemeinden den grösseren Teil der Einwohner ausmache und die Einwohner mit Bürgerrecht in die Minderheit gerate. Er konstatierte, dass die kantonalen Armengesetze mit der Divergenz zwischen Wohnorts- und Heimatprinzip den tatsächlichen Verhältnissen nicht Rechnung trügen. Da die Bürgergemeinden kaum für ihre eigenen Armen aufkommen konnten, war es logisch, dass für die zugezogenen Nichtbürger ebenfalls die freiwillige Armenpflege in die Bresche springen musste.75 Als dritte Ursache der spriessenden privaten Armenpflege des ausgehenden 19. Jahrhunderts nannte Wild den Umstand, dass die gesetzliche Armenpflege nie über eine Deckung der Grundbedürfnisse «Nahrung und Kleidung» hinausging und somit die freiwillige Armenpflege ein «schönes und reiches Feld der Betätigung» erhielt, 76 indem sie die rein existenzsichernde Fürsorge mit individuellen Hilfestellungen für verschiedene Alters- und Armutsgruppen ergänzte. Hier kritisierte er aber, dass dabei die öffentliche Armenpflege aus der Pflicht genommen und sogar öffentlich-rechtliche Aufgaben an die privaten Sozietäten noch so gerne überantwortet würden. Er resümierte, dass «die organisierte freiwillige Armenpflege in der Schweiz eine ganz hervorragende Stellung einnimmt, dass sie durchaus keine quantité négligeable, dass sie geradezu unentbehrlich ist».77

Die organisierte «freiwillige Armenpflege für besondere Arten von Armen» unterteilte Wild einerseits in Altersstufen und deren individuelle Bedürfnisse (Kinder, Lehrlinge, Alte), in physische oder psychische Beeinträchtigungen und andererseits in Bedürftigkeit in besonderen Lebenssituationen.78 In dieses Schema fiel auch die Fürsorge der «Erziehungsvereine» für arme und «verwahrloste» Kinder in den Kantonen Zürich, Bern, Luzern, Solothurn, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, St. Gallen, Graubünden, Aargau, Thurgau, Waadt, Neuenburg und Genf: «Die Erziehungsvereine oder, wie sie auch noch etwa genannt werden: Armenerziehungsvereine, bezwecken die Versorgung armer verwaister, sittlich gefährdeter und verwahrloster Kinder, um dadurch der fortschreitenden Armut und der Verwahrlosung unter der Jugend zu wehren.» Die Armenerziehungsvereine «suchen die Kinder einer passenden Berufslehre zuzuführen». Die «Platzierung» geschehe üblicherweise in Familien oder Anstalten, nur ein Verein «unterstützt die Kinder auch in den eigenen Familien (bei Halbwaisen), wo günstige häusliche Verhältnisse und gute Aufführung der Kinder sich zeigen».79 Diese 58 Vereine unterstützten selbständig Kinder, wogegen die sogenannten Kinderschutzvereine ihre Aufgabe darin fanden, Misshandlungsfälle an Behörden und Fürsorgevereine weiterzuleiten, in Vertretung der Behörde Pflegeplätze zu inspizieren, Kostorte zu vermitteln sowie Kleidung an die Kinder zu verabfolgen.80 Der unterschiedliche Vereinszweck der Kinderschutz- und Armenerziehungsvereine manifestiere sich am auffälligsten bei der Höhe der Ausgaben: Kinderschutzvereine beteiligten sich nicht an den Kosten für Kost und Logis der fremdplatzierten Kinder, diese wurden von den Gemeindebehörden komplett übernommen.

Albert Wild postulierte in seinem Schlusswort, dass die freiwillige Armenfürsorge wohl für jede Erscheinung von Hilfsbedürftigkeit eine passende Organisation besitze. Er bemängelte einzig, dass es nur wenige Vereine gebe, die sich mit der Vorbeugung der Armut beschäftigten. Die Vielgestaltigkeit der schweizerischen freiwilligen Fürsorge verlange aber regelrecht nach einem Zusammenschluss und einer Zentralisation der privaten und öffentlichen Armeninstitutionen und -behörden.81

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