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Quellentypen

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Quellen lassen sich nach ihrer objektiven Beschaffenheit oder nach ihrem innewohnenden Erkenntniswert gruppieren. Bei Letzterem wird das Begriffspaar «Tradition» und «Überreste» oder «willkürliche» und «unwillkürliche Überlieferung» angewandt. Quellen aus der Gattung «Tradition» stellen deren Verfassern die Intention anheim, dass die hervorgebrachten Werke die Nachwelt über Gegebenheiten unterrichten sollen, beispielsweise in Form von Chroniken (Historiografie) oder Tagebüchern, die per se an ein (nachfolgendes) Publikum gerichtet waren. Bei den Armenerziehungsvereinen lässt sich nur eine Quelle finden, die dieser Kategorie entspricht: die Autobiografie des ersten basellandschaftlichen Armeninspektors Martin Birmann.57 Die übrigen Quellen entstammen der Gattung «Überreste», dazu werden auch die an eine Öffentlichkeit gerichteten «Aufrufe», Flugblätter, Jahresberichte, Ephemera und so weiter gezählt. Sie entstanden kaum in der Absicht, die Nachwelt, sondern primär die Zeitgenossen zu unterrichten. In diesen Typus fallen bei den Armenerziehungsvereinen auch die administrativen Unterlagen wie die Pflegekinder-Kontrollbücher, der Schriftverkehr oder die Buchführung.58 Die Sozietäten bestanden aus vergleichbaren Vereinsorganen und -aufgaben. Daraus resultierten ergo auch analoge Aktentypen, die in der gängigen Typologie (gedruckte und ungedruckte Quellen) zur Disposition gestellt werden:

Gedruckte Quellen: Die Statuten der einzelnen Vereine und Dachverbände geben Aufschluss über Ziele, Programm und Organisation und lassen nicht zuletzt überkantonale Vergleiche zu. Bei sämtlichen Armenerziehungsvereinen bieten die Jahresberichte («graue Literatur») das Konzentrat der Vereinsarbeit im jeweils vergangenen Jahr. Sie enthalten das Vorstandsverzeichnis, den Jahresbericht des Präsidenten oder Aktuars, die Jahresrechnung des Quästors und vielfach eine Auflistung sämtlicher im Berichtsjahr «platzierten» Pflegekinder mit Angabe der Pflegeeltern sowie des Aufenthaltsorts.59 Unter Zuhilfenahme der Jahresberichte konnte eine Aufstellung bezüglich Anzahl der Pflegekinder sowie der Vereinsfinanzen sämtlicher Kantone erstellt werden. Insbesondere die Jubiläumsberichte der Armenerziehungsvereine zum 25-, 50- oder 100-jährigen Bestehen liefern wichtige Hinweise zur Selbstdarstellung und -wahrnehmung der Vorstände und geben oftmals emotionale Erlebnisberichte von damals immer noch aktiven Vorstandsmitgliedern aus der Gründungszeit wieder, die sonst durch die übrigen Akten oftmals nicht erschliessbar wären.

Ebenfalls zu den gedruckten Quellen werden die an eine «breitere» Öffentlichkeit gerichteten Aufrufe, Inserate, Werbeschriften, Prospekte, Vorschriften für Pflegeeltern und sonstigen Druckerzeugnisse wie Mitglieder- oder Trauerkarten gezählt. Sie weisen auf eine unterschiedlich gewichtete und zeitlich ungleich intensive Öffentlichkeits- und Informationsarbeit hin, die nicht zuletzt im Sinn einer Selbstdarstellung und einer Intervention der Vorstände in Krisenzeiten (Weltkriege, Weltwirtschaftskrise, «Verdingkinderskandale») wichtige Rückschlüsse auf den eigenen Wertehorizont offenlegen. Zu den gedruckten Quellen können je nach Ansicht auch die vervielfältigten vereinsadministrativen (Muster-)Formulare gezählt werden: Die «Aufnahme»-Formulare, Pflegekinder-Verträge oder Inspektions-Formulare lassen rein formal-analytische Vergleiche hinsichtlich Aufbau und Gewichtung der einzelnen Themen und darüber hinaus – aus inhaltlicher Sicht – Erkenntnisse über das praktische und offenbar standardisierte Vorgehen beispielsweise bei Inspektionen zu. Artikel, Broschüren und Bücher mit Quellencharakter, deren Erscheinungszeitraum ungefähr zwischen 1845 und 1950 liegt, sind der Bibliografie und dem Quellenverzeichnis der vorliegenden Arbeit zu entnehmen.

Ungedruckte Quellen: Sie sind breit gefächert und reichen von Protokollbänden, Korrespondenz, Pflegekinderdossiers, Pflegekinder-Kontrollen über das gesamte Rechnungswesen (Jahresabschlüsse, Kontokorrente, Journale, Belege und so weiter) bis hin zu ausgefüllten administrativen Formularen. Die Aktenproduktion und -führung in den einzelnen Armenerziehungsvereinen war sehr homogen. Dies kann auf die ähnlichen Vereinsaufgaben, aber auch auf die nachweisbare Verwaltungsnähe der Vereine in Form von Personalunionen zurückgeführt werden: So manches Vorstandsmitglied arbeitete in der kantonalen Verwaltung, in der Bezirksamtskanzlei oder hatte einen kirchlichen Hintergrund. Dieses administrative Wissen manifestierte sich bei der Aktenführung merklich. So bekamen die Pflegekinder bei den meisten Armenerziehungsvereinen eine Personennummer (ein Aktenzeichen), das die Kongruenz zwischen den verschiedenen Aktentypen (von Pflegekinderregister, Personendossier, Eintrag in den Vorstandsprotokollen bis hin zu einzelnen Arzneiquittungen) schuf. Die Gleichförmigkeit in der Aktenführung ermöglicht es, Lücken in den Überlieferungen der einzelnen Armenerziehungsvereine durch analoge Bestände zu schliessen. Darüber hinaus lassen diese identischen Aktentypen regionale und überkantonale Vergleiche quantitativer Art hinsichtlich der Handlungsabläufe, der Kommunikationswege und der Pflegekinderadministration zu.

Zentrale Reihe der ungedruckten Vereinsüberlieferung sind die Vorstandsprotokolle. Sie geben Auskunft über die Motive zur Vereinsgründung, die Vorstandswahl, die Statutenfindung, die Anzahl und den Verlauf der Zusammenkünfte, und sie legen den Handlungsablauf und -spielraum bezüglich der Pflegekinderplatzierung offen. Bei vielen Armenerziehungsvereinen, darunter der Armenerziehungsverein des Bezirks Baden, 60 werden die General- und Jahresversammlungen im gleichen Band protokolliert wie die Sitzungen des Gesamtvorstands sowie des Engeren Vorstands und nicht nach den in den Statuten eigentlich getrennten Organen. Dies liegt in der Tatsache begründet, dass die verschiedenen historisch gewachsenen Gremien weitgehend aus Personalunionen bestanden und die jährliche Vollversammlung aus praktischen Gründen nicht separat geführt wurde. Eine klare Unterscheidung der verschiedenen Vereinsorgane nimmt hingegen der Armenerziehungsverein des Kantons Basel-Landschaft vor: Er trennt die Protokollreihen des Kantonalvorstands als oberstes (Delegierten-)Gremium des Vereins61 von den Protokollen des Engeren Vorstands62 sowie den Vorstandsprotokollen der einzelnen Bezirks-Armenerziehungsvereine als selbständige subsidiäre Einheiten.63 Hier liegt die Trennung der verschiedenen Gremien nicht zuletzt darin begründet, dass die Sitzungen des Kantonalvorstands über die jährliche Generalversammlung hinausgehen und eine Delegiertenversammlung aller vier Bezirks-Armenerziehungsvereine darstellt. Das Personal dieses Kollegs ist auch nicht deckungsgleich mit dem Vorstand des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins und logischerweise auch nicht mit den hierarchisch folgenden – und auch örtlich getrennten – Vorständen der Bezirks-Armenerziehungsvereine. Einen weiteren über die Kantonsgrenzen hinaus vergleichbaren Aktentyp stellen die Kassabücher und Jahresrechnungen dar. Sie geben Auskunft über Einnahmen und Ausgaben für die Selbstadministration, Mitgliederbeiträge und Legate sowie Ausgaben für die Pflegekinder; vordergründig natürlich die verabfolgten Kostgelder und Kleiderkosten. Die Jahresrechnungen erscheinen in summarischer, gedruckter Form jeweils in den Jahresberichten der verschiedenen Sozietäten.

Aus der Verwaltungstradition stammen die für die vorliegende Arbeit wichtigen «quantifizierenden Quellen»64 wie die Pflegekinderregister oder -kontrollen, die als Manuale Stammdaten zu den Personalien allgemein, zum «Vereinseintritt», zu Pflegeplatzmutationen und dergleichen enthalten. Mit diesen Registereinträgen korrespondieren Personendossiers, die Schriftverkehr, Zeugnisse, Aktennotizen und so weiter enthalten. Sie existieren in sämtlichen Armenerziehungsvereinen und sind Ausdruck der angestrebten Kontrolle und Übersicht über diese stets fluktuierende Menge an Pflegekindern; hier kann von einer Administration im engeren Sinn gesprochen werden. Die Verzeichnisse widerspiegeln selbstverständlich auch den Stand und die Verbreitung der Bürokratisierung ihrer Zeit (Einfluss der preussischen Büroreform) und dienen für die vorliegende Arbeit in erster Linie zur quantifizierenden Bestandsaufnahme. Dennoch darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass sie zugleich auch qualifizierende Quellen sind und oftmals neben den reinen Datenaufnahmen auch ausformulierte Einträge enthalten, die Entscheidungsprozesse wie Gründe zur «Aufnahme», «Umplatzierung», Berufsbildung und so weiter dokumentieren.65 Bei den Pflegekinderregistern können verschiedene und zu unterschiedlichen Zeitpunkten eingeführte «Generationen» typologisiert werden.

Zur ältesten – im 19. Jahrhundert vertretenen – Art zählt das «Verzeichniss der vom Basellandschaftlichen Armenerziehungsverein aus dem Bezirk Arlesheim in Familien versorgten Kinder, nebst Mittheilungen über ihr früheres und späteres Schicksal».66 Die Personalien der Kinder sind in ausformulierten Kurzbiografien gehalten und unterscheiden sich bezüglich Inhalt und Umfang erheblich von Eintrag zu Eintrag. Die Professionalisierung der Administration des beginnenden 20. Jahrhunderts hielt auch bei den Armenerziehungsvereinen Einzug, indem in der zweiten Generation der Verzeichnisse der biografische Teil zu einem normierten Stammdatenblatt kondensierte und der Akzent der Einträge auf der Kontrolle der Kostgeldzahlung liegt. Mit der vorangehenden Generation von Verzeichnissen verbindet diese standardisierte Darstellungsform insbesondere die Physis, nämlich die Buchform (siehe Abbildungen 2–4).

Die Charakteristika der Verzeichnisse dritter Generation, die aus jenen der zweiten Generation abgeleitet sind, bringt ein Stammdatenblatt aus der Pflegekinderkartei des Armenerziehungsvereins Baden aus den späten 1920er-Jahren gut zum Ausdruck. Auf dem Recto wurden die Personalien sowie die Aufteilung des Kostgelds zwischen Gemeinde und Verein vermerkt. Auf dem Verso folgen die verschiedenen Mutationen in der Platzierung. Der biografische Anteil, der personenspezifische Informationsgehalt, unterscheidet sich in der Aussagekraft in dieser dritten Generation nun erheblich von der ersten. Die standardisierte Form vereinfacht eine statistische Auswertung und ermöglicht einen Vergleich zwischen den Vereinen.

Diese minimalisierten Einträge sollen allerdings nicht den Eindruck erwecken, dass der Informationsgehalt im Lauf der Zeit abnahm: Die biografischen Einträge des 19. Jahrhunderts waren Kondensat verschiedener mündlicher Abmachungen, insbesondere aber sämtlicher Korrespondenz, deren Informationsgehalt in die Bücher übertragen wurde. Die Originale sind in den meisten Fällen nicht überliefert worden. Der Anspruch an eine professionalisierte und umfassende Informationsverwaltung wird im beginnenden 20. Jahrhundert mit einer vermehrten Aktenproduktion und einem grösseren Pflegekinderbestand gestiegen sein, sodass neben den informationsschwachen Verzeichnissen die Führung von Personendossiers zwingend wurde. Diese Personendossiers beinhalten Schriftverkehr, Pflegekinder- und Lehrverträge, Arztzeugnisse und so weiter und stellen somit einen viel höheren Aussagewert dar als die biografischen Einträge der ersten Generation. Im Fall des Armenerziehungsvereins des Bezirks Baden handelt es sich um rund 180 Personendossiers, in denen Korrespondenz der unterschiedlichsten Provenienzen (Pflegekind, Pflegeeltern, leibliche Eltern, Ärzte, Lehrer, Lehrmeister und so weiter) zum jeweiligen Kind gesammelt wurde.67


Abbildung 2: Erste Generation


Abbildung 3: Zweite Generation

Einen weiteren Aktentyp verkörpert der Schriftverkehr, wobei gerade im Bereich der Pflegekinderdossiers hauptsächlich die eingehende Korrespondenz überliefert wurde. In den Falldossiers ist neben Schul- und Arztzeugnissen oder Lehrverträgen ebenso die eingehende Korrespondenz unterschiedlichster Absender vertreten, wie bei den sogenannten Handakten beim Quästor/Patron und zugleich Bezirksamtmann August Sandmeier (1918–1952).68 In seiner Funktion als Quästor69 generierte er eine Sammlung von Briefen über Kostgelder, Verdankung von Legaten und so weiter, und als Patron der Schulentlassenen korrespondierte er mit verschiedenen Organisationen und Firmen – wobei diese Funktion von seinem öffentlich-rechtlichen Amt kaum zu unterscheiden war.70 Eine Sammlung ausgehender Korrespondenz, die das Spektrum der Tätigkeit eines Inspektors zeigt, stellen die 23 «copie de lettres» aus dem Zeitraum 1910–1922 des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins dar.71 Sie wurde durch ein Reproduktionsverfahren in Kopialbüchern chronologisch abgelegt und mit einem Aktenzeichen dem jeweiligen Pflegekind zugeordnet. Einen für die Arbeit wichtigen Perspektivenwechsel bieten die rund 1000 Postkarten von Pflegekindern des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins aus den Jahren 1904 bis 1951.72 Insbesondere die kulturhistorische Forschung richtet auf diese autobiografischen Schriften («ego-documents», «pauper letters») ihr Augenmerk.73


Abbildung 4: Dritte Generation

In der Gesamtheit ermöglichen diese verschiedenen Aktentypen und -reihen eine profunde diachrone und regional vergleichbare Einsicht in die Pflegekinderadministration, 74 in die Handlungsweise des Vorstands, in die Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteuren, und darüber hinaus legen sie schriftliches Zeugnis über Tausende Teilbiografien von Kindern und Adoleszenten über einen Zeitraum von über 150 Jahren ab. Die schriftlichen Quellen bringen mit sich, dass vor allem die Sicht des Aktenbildners und Entscheidungsträgers überliefert wurde, wobei die Sicht der Kinder viel subtiler und verborgener in den verschiedenen Beständen vertreten ist. Dies ist auch der grosse Unterschied zu vergleichbaren Forschungsarbeiten, die bewusst die Sicht von Direktbetroffenen aufgrund von Interviews zum Ausdruck bringen.

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