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Rhythmus (gr.-lat.)

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Eine solche Feststellung, die ich bitte belegen möge, hat sehr weit reichende Folgen – und recht verwirrende außerdem.

Denn sie bedeutet: So wie wir Rhythmus empfinden, haben ihn Menschen nicht schon immer, ursprünglich und allerorten empfunden. Und sie bedeutet: Ein Geräusch, das uns rhythmisch ist, und wäre es ein ursprünglichstes wie dasjenige gehender Füße oder klopfender Herzen, ist nicht einfach von sich aus und schon immer ein rhythmisches, sondern wird es erst und nur dann, wenn es Menschen wahrnehmen, die nach dieser Art von Rhythmus wahrnehmen, Menschen, deren Rhythmuswahrnehmung wie die unsere taktrhythmisch bestimmt ist. Und das beginnt sie erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts zu sein.

Das ist eine Vorstellung, gegen die sich alles in uns sträubt. Schon dass ein bestimmter Rhythmus nicht einfach nur objektiv im Klang selbst liegen soll, dass also Klänge nicht schon von sich aus rhythmisch sein, sondern es durch uns werden sollen, widerstrebt uns zutiefst. Und umso mehr also, dass dieselben Klänge, die wir als rhythmisch hören, den Menschen früherer Zeiten nicht rhythmisch geklungen hätten. Das ist etwas, was wir uns ganz grundsätzlich nicht vorstellen können, und kein Zufall deshalb, wenn auch Canetti nicht umhin konnte, Rhythmus irrtümlich erstens dem Klang selbst und zweitens in eben der Art, wie wir ihn wahrnehmen, allen Zeiten zuzuschreiben. Dies ist ein Irrtum, der jedem unterläuft, überall wird man auf ihn treffen, nicht nur in der eigenen Überzeugung, in dem, wie man selbst darüber denkt, sondern bei jedem anderen ebenso – selbst dort, wo ausgesprochene Spezialisten über Rhythmus geschrieben haben. Dass Taktrhythmus, »unser« Rhythmus, erst etwa zu Beginn des 17. Jahrhunderts aufkommt, gehört zwar inzwischen – aber auch das noch nicht sehr lange – zum musikgeschichtlichen Handbuchwissen,4 trotzdem ist es, auch unter wohlstudierten Musikwissenschaftlern, so gut wie unbekannt. Bemerkenswert genug: Es ist festgestellt, steht fest, und bleibt doch unvorstellbar.

Es wird wichtig sein, sich schon hier, vor allem Kommenden, Rechenschaft über die Irritation abzulegen, die ein solcher Gedanke auslöst: dass dieses Allernatürlichste, Rhythmus, weder in den Dingen selbst, also einfach im Klang liegen soll, noch in unserer allgemeinen menschlichen Natur – wenn nicht gar in der Natur als solcher. Wie denn soll sich unsere Wahrnehmung, dass irgendetwas, zum Beispiel etwas so Eingängiges wie das tok tok von Schritten für uns einfach und natürlich rhythmisch ist, wie soll sich diese Wahrnehmung damit vertragen, dass für Menschen früherer Zeiten dasselbe nicht, sondern dass für sie etwas grundsätzlich anderes rhythmisch war?

Das muss absurd erscheinen, ausgeschlossen, eine Unmöglichkeit, es ist uns in einem sehr ernst zu nehmenden Sinne nicht denkbar. Dennoch ist die Erkenntnis, dass es sich so verhält, zwingend und fürs erste nicht einmal schwierig zu gewinnen. Man braucht dafür gar nicht erst zurückschreiten bis zu den Jägern und Sammlern; der kleinere Zeitsprung in die Antike wird vollauf genügen.

»Ursprünglich«, so meinte Canetti, sei Rhythmus ein Rhythmus der Füße; ursprünglich jedenfalls ist »Rhythmus« ein Wort der Griechen. Über eine indogermanische Wurzel mit dem deutschen Wort »Strom« verwandt, leitet es sich – vermutlich – von dem griechischen Verbum »rhéein« ab, »fließen«; man kennt es aus Heraklits berühmtestem Satz. Rhythmus heißt daher zunächst jede Bewegung, dann vor allem das Zeitmaß und Ebenmaß einer Bewegung; weiter aber nicht nur das Ebenmaß einer Bewegung, sondern Ebenmaß allgemein, auch räumlicher Verhältnisse, der Gestalt eines Gefäßes oder gar der seelischen Verfassung. Sicher, in ehrwürdigen alten bis hin zu allerneuesten Wörterbüchern, ebenso in jederart Übersetzungen antiker griechischer Schriften findet man für das Wort »Rhythmos« geläufig auch die Bedeutung »Takt« angegeben; doch schon diese Übersetzung gründet auf demselben Irrtum, Rhythmus müsste auf immer das gewesen sein, was er für uns ist. Will man das Wort in seiner antiken Bedeutung fassen und so, dass es nicht sogleich falsch mit unserem modernen Begriff von Rhythmus in eins gesetzt wird, so wäre es am genauesten zu übersetzen mit »Proportion«.5 Das also heißt »Rhythmus« ursprünglich; und es verweist darauf, was Rhythmus in der Antike war, was dort überhaupt als rhythmisch empfunden wurde.

Aristoxenos definiert es – im vierten vorchristlichen Jahrhundert – als »Ordnung von Zeiten« und erklärt diese Ordnung als das Verhältnis zeitlicher Größen. Und zwar so, dass es eine bestimmte kürzeste Einheit gibt, den sogenannten chronos protos, und dass Töne – oder jeweils auch die Bewegungen beim Tanz – mindestens so lange dauern wie diese »ersten Zeiten«, auch Kürzen genannt, oder aber ein Vielfaches davon. Unter Beachtung der Proportion ihrer unterschiedlichen Dauer werden die Töne dann zu größeren Folgen zusammengesetzt. Diese Folgen können ganze Verse umfassen oder aber noch einmal zusammengesetzt sein aus den sogenannten »Füßen«, von denen erst wiederum mehrere die größere Folge etwa eines Verses ergeben. Jeder Fuß umfasst jeweils zwei proportional aufeinander bezogene Teile, zu denen die Töne – bei Versen sind es die Silben – zusammenzutreten haben. Diese zwei Teile werden entweder Arsis und Basis oder geläufiger Arsis und Thesis genannt, Hebung und Senkung.

Und schon scheint sich Canetti bestätigt zu finden: Rhythmus ursprünglich ein Rhythmus der »Füße«, und diese zweiwertig geschieden nach Hebung und Senkung, stärker und schwächer. Nur dass die antiken Begriffe von Hebung und Senkung genau das nicht meinen. Sie sprechen von der puren Bewegung des Hebens und Senkens, einer Bewegung, die begleitend zu dem, was an Tönen erklang, etwa mit den Händen oder durchaus auch mit den Füßen vollzogen wurde und die allein zur Skansion, zur Bestimmung der Dauer jener Zeiteinheiten diente. Ein Geräusch, das sich bei diesem Skandieren zwar durch das Aufsetzen des Fußes oder Zusammenklatschen der Hände ergeben konnte, begleitete dabei weder die Hebung noch die Senkung von Arm oder Bein. Denn Hebung, das war nichts als die Zeit, in der sich Fuß oder Hand nach oben bewegten, und Senkung entsprechend die Zeit ihrer Bewegung nach unten. Während der Dauer dieses Hebens und Senkens also ergab sich kein Geräusch, sondern wenn sich eines ergab, so allein nach der Senkung: wenn der skandierende Fuß aufsetzte. So haben Hebung und Senkung in der Antike auch nicht den mindesten Zusammenhang mit einer möglicherweise wechselnden Lautstärke dieses Geräuschs, ihnen, den »ursprünglichen« Begriffen, ist eine Unterscheidung nach stärker und schwächer vollständig fremd, und wenn sie sich auf die Bewegung von Füßen bezogen, so allein auf deren Bewegung als die erfüllte Dauer und nicht auf das Geräusch, das allenfalls den Abschluss dieser Bewegung bezeichnen konnte.

Genausowenig haben die »Füße« des antiken Rhythmus etwas mit Canettis im Taktrhythmus dahingehenden Füßen zu tun – so wenig wie zum Beispiel der Versfuß des Daktylus mit dem Schnipsen von Fingern. »Daktylus« heißt zwar »Finger« und ist ein »Fuß«, aber er bezeichnet den Fuß aus einer Länge und zwei Kürzen nicht wegen irgendwelcher Geräusche, die sich mit den Fingern oder Füßen erzeugen lassen, sondern weil die drei Glieder eines Fingers, vom Handteller aus gesehen, gerade diese Proportion aufweisen: lang-kurz-kurz; man betrachte einmal den eigenen Zeigefinger, sofern er klassisch genug gewachsen ist. Griechisch ist also durchaus zu sagen, diese Abfolge der Fingerglieder sei der »Rhythmus« eines Fingers.

In der Aufteilung nach Arsis und Thesis waren verschiedene Proportionen möglich. Zunächst einmal das gleiche Verhältnis; das konnte der Daktylus ergeben, da er zusammengesetzt war aus einem langen Element, der Arsis, und zwei kurzen, der Thesis, und da eine Länge etwa als doppelt so lang empfunden wurde wie eine Kürze, ihr Zeitwert also dem von zwei Kürzen entsprach. Das Verhältnis also ist hier »gleich«, ein Verhältnis von 2:2; nicht gleich allerdings waren die Teile, die in diesem gleichen Verhältnis aufgefasst wurden: eine Länge als Hebung, zwei Kürzen als Senkung. Zweifaches Verhältnis ergibt sich, wenn sich die Zeitwerte der unter Arsis und Thesis verbundenen Klangteile wie 2:1 oder wie 1:2 verhalten, anderthalbfaches Verhältnis bei 3:2 oder 2:3; Verhältnisse wie 3:1 oder 4:3 sind unter bestimmten Bedingungen möglich. Außerdem gibt es »alogoi« genannte, nicht ganzzahlig zu fassende Verhältnisse, in denen die Arsis zwar länger als die Thesis, aber nicht ganz doppelt so lang ist wie sie. Gerade von einem der häufigsten Verse der Antike, dem epischen Hexameter, heißt es, in seinen Daktylen sei die Länge jeweils nur etwa anderthalbmal so lang wie eine Kürze, so dass der Versfuß hier also statt des »gleichen« Verhältnisses ein Verhältnis von ungefähr 1½:2 ergibt. Ein Fuß im antiken Rhythmus ist die Einheit einer solchen rein zeitlich bestimmten Proportion.

Der antike Rhythmus ist mit diesem kurzen Abriss keineswegs erschöpfend bestimmt, aber bestimmt genug, um die Frage zu beantworten: Was hat diese Art Rhythmus mit dem Taktrhythmus gemein? Die Antwort lautet: Nichts. Und was haben Griechen empfunden, wenn sie vor sich hingegangen sind und das Geräusch ihrer Sandalen hörten? Keinen Rhythmus. Der Unterschied zwischen dem, was Rhythmus für uns, und dem, was er für die Antike ist, lässt sich knapp – noch nicht vollständig – in drei Punkten fassen.

Erstens: Das Abwechseln der Elemente nach betont und unbetont, entscheidende Bestimmung des Taktrhythmus, ist dem griechischen Rhythmus fremd; der hat weder überhaupt etwas mit der Unterscheidung von betont gegen unbetont zu tun, noch würde er sich mit der grundsätzlichen Festlegung auf das Abwechseln vertragen – auch nicht auf das Abwechseln von lang und kurz.

Zweitens: Der Taktrhythmus setzt gleiche Zeiteinheiten, auf die sich zwar Töne von mancherlei unterschiedlicher Dauer verteilen können, die diesen Tönen aber wie ein Raster vorgegeben sind oder unterlegt werden; damit sie nach Takten gehen, müssen sich die Töne in ein Raster gleicher Zeiteinheiten einfügen. Der griechische Rhythmus dagegen geht mit Klang- oder Bewegungselementen ungleicher Dauer um, ihrer Unterscheidung nach lang und kurz. Zwar können in ihm ohne weiteres einmal mehrere lange Elemente aufeinanderfolgen oder mehrere kurze, aber erst ihre Unterscheidung nach der Dauer, und dass sie nicht wie ein Raster aneinandergereiht, sondern zu Gruppen aus lang und kurz verbunden sind, ergibt hier überhaupt erst Rhythmus. Eine Folge nur gleichlanger Töne hatte nichts Rhythmisches.

Drittens: Im Taktrhythmus müssen die Töne, die erklingen, nicht jeweils die gesamte Zeiteinheit ausfüllen, die man als Taktteil empfindet. Beim Geräusch des Gehens genügt es, dass der Absatz nur einen kurzen Schlag tut und dass die Zeit, bis der andere Fuß auftritt, jeweils geräuschlos verstreicht. Was im Taktrhythmus als Element empfunden wird, ist diese gleichsam leere Zeiteinheit: Die Pause zwischen dem einen tok und dem nächsten hören wir als Bestandteil des rhythmischen Elements so gut, als würde über die gesamte Zeiteinheit hinweg ein Ton erklingen. Für die Griechen der Antike gab es das nicht. Rhythmus ist dort nur, was wirklich erklingt, der erfüllte Klang, er ist die Bestimmung eines Klangkontinuums oder einer kontinuierlichen Bewegung; daher auch das vom Fließen abgeleitete Wort. Eine Pause ließ ihn abbrechen, eine Folge von bloßem Klopfen, womit wir es uns so schön rhythmisch machen können, hatte für ein griechisches Ohr nichts von Rhythmus. Nur der erfüllte Klang oder die verlaufende Bewegung wurde zu rhythmischen Gestalten aufgebaut.

Wie also hätten die Griechen gehen müssen, um Canettis Ursprungsmythos zu erfüllen und mit den Füßen ein Geräusch zu machen, das ihnen unwillkürlich rhythmisch gewesen wäre? Sie hätten darauf achten müssen, die Füße nicht wohlgesittet jeweils vom Boden zu heben, sondern konsequent mit ihnen über den Boden zu schlurfen, damit jeder Schritt einen anhaltenden Schleifton ergäbe und nicht bloß ein tok; außerdem darauf, ihre Schritte, gleichgültig ob stärker oder schwächer, unterschiedlich lang zu machen, und zwar nicht einfach abwechselnd einen langen Schleifschritt mit links und einen kurzen Schleifschritt mit rechts, sondern lang und kurz nach durchaus komplizierteren Mustern, zum Beispiel dem eines Galliambus: kurz kurz lang kurz lang kurz lang lang kurz kurz lang kurz kurz kurz kurz kurz. Ein solcher Gang würde im Ministerium für silly walks sicher freundliche Anerkennung finden; doch dass die Griechen in dieser Weise vor sich hin gegangen wären, sollte man deshalb nicht ernsthaft annehmen.

Im Takt des Geldes

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