Читать книгу Im Takt des Geldes - Eske Bockelmann - Страница 8
I Eintritt
ОглавлениеVom Rhythmus versteht jeder alles, weil er von Rhythmus nichts verstehen muss, um ihn vollständig zu kennen, nämlich zu empfinden. Was Rhythmus ist, muss ich deshalb niemandem erklären. Jeder weiß davon genug, selbst wenn ihm schwer fallen sollte zu sagen, was er da weiß. Jeder weiß genau so viel davon, wie er für alle Fälle nötig hat: eben um Rhythmus zu empfinden. Dies, nichts anderes entscheidet hier, denn wenn es entschieden hat, wenn ein Hörender etwas als rhythmisch empfindet, ist Rhythmus einfach da, niemand braucht zu rätseln und zu raten, es bedarf keiner Definition und keines Gelehrten, keiner Erklärungen, die jemand dazu abgibt. Rhythmus ist ebenso gedankenlos und ohne alle bewusste Anstrengung zu verstehen wie die Zeit. Und doch, wie bei ihr verliert sich alles Einfache im selben Augenblick, da man versucht, sich Rechenschaft darüber abzulegen. Eben dies aber habe ich vor zu tun.
Am Rhythmus, nicht an der Zeit. Denn beide sind sehr wohl zu trennen, wie eng verflochten sie sonst auch sein mögen. Erschwert und zumindest verschleiert wird ihre Unterscheidung, wo Rhythmus ganz zum objektiven Phänomen genommen wird: als der zeitlich strukturierte Ablauf einer Sache. Natürlich hat es sein Recht, vom Rhythmus eines Films zu sprechen, vom Rhythmus eines Tags, eines Gesprächs oder einer bestimmten S-Bahn-Linie. Sie alle lassen sich in Zeitangaben fassen, im zeitlichen Verhältnis ihrer Teile und Abschnitte, aber in diesen Zeitangaben sind sie auch schon vollständig gefasst, keine rhythmische Empfindung muss mich außerdem durchzucken, wenn die S-Bahn pünktlich einfährt. Nichts spricht also zwar dagegen, den objektiven Zeitablauf von was auch immer dessen Rhythmus zu nennen, aber es klärt mir nichts von dem, weshalb man überhaupt von Rhythmus spricht: seine Unterscheidung nämlich von dem, was einmal nicht rhythmisch ist. Wenn jede periodische Wiederholung, das Tuckern eines Motors oder der Wechsel von Tag und Nacht als solche rhythmisch sind, und nicht nur alles Periodische, sondern was immer sich geordnet bewegt oder, interessanter noch und bei weitem häufiger, was sich nicht geordnet bewegt, was sich also nur überhaupt verändert, alles eben, was zeitlich »strukturiert« verläuft, dann heißt rhythmisch zuletzt alles, was nicht verharrt. Auf diese Weise jedoch wird Rhythmus als nichts Anderes definiert als Zeit selbst: Wo immer Zeit sein soll, hat sich etwas zu verändern, und wo sich etwas verändert, da hat es seine Zeit. Eine Bewegung deshalb als »Rhythmus« zu fassen, sagt ihr nur auf den Kopf zu, dass sie in der Zeit verlaufe und »zeitlich« sei – zeitliche Bewegung: eine Tautologie.
Forscher, die sich ihrer bedienen, beginnen ihre Erklärungen zum Rhythmus etwa damit, dass sie den Herzschlag beschreiben, als dessen Impulsgeber den Sinusknoten erwähnen und weiter die Muskelzellen, die sich notfalls selbst den Impuls geben; dann sprechen sie allgemein von den Nervenzellen mit ihrem Feuern von Signalen und stehen alsbald, da sich ohnehin jede Zelle teilt, da sie wird und vergeht und weil sich am Lebenden letztlich alles, sofern es nicht mausetot ist, irgendwie rührt, bewegt und verändert, vor dem erstaunlichen Schluss: Rhythmus sei »Prinzip des Lebens«. Andere sehen auch darin noch nicht genug der Ehre, denn nach demselben Lebens-»Prinzip« hält ja auch die toteste Materie nicht still. Moleküle kennen die unermüdliche Brownsche Bewegung, die erst auf einem erzwungenen Nullpunkt zur Ruhe käme, Atome machen es ihnen nach, und schon die Elektronen verweilen so wenig an einem festen Ort, dass sie nur noch statistisch irgendwo anzutreffen sind. Entsprechend rüttelt es und schüttelt sich, driftet, rast und zittert es bis ins immer Kleinere vor sich hin, hinunter bis zu den Quarks und weiter zu allen im Moment noch unnennbaren Teil-Teil-Teilchen. Wie aber im Kleinen, so erst recht im Großen: Die Planeten im Sonnensystem, die Sonnensysteme in der Galaxis, die Galaxien im Universum, die Universen im Multiversum und all das zuletzt noch, wie es heißt, im großen Auf und Ab von Big Bang zu Big Bang – allüberall Bewegung und, zumindest im mittleren Größenbereich, je toter, desto regelmäßiger und folglich, wenn es denn wäre, um so viel rhythmischer. Wer will, selbstverständlich, der mag all das, und also die gesamte Welt von vorn bis hinten und von top zu bottom, »Rhythmus« nennen, weil alles sich bewegt: der Kosmos als einziger großer Tanz, als Fest und Jubel. Wem ein Eisklumpen wie der Uranus oder die Ringe des Saturn als Eiswüsten zerschroteter Materie eine solche Vorstellung nicht abkühlen, dem mag das Bild Freude machen. Ich bestreite jedoch, dass es mehr leistet, als den Begriffen »Bewegung«, »Veränderung« oder »Zeit« einen weiteren nur gleichbedeutend an die Seite zu stellen. Und wenn sich »Rhythmus« jedenfalls dadurch von ihnen unterscheiden soll, dass er deren Binnenstruktur meint, den Ablauf einer Gesamtbewegung im Einzelnen, die besonderen Zustände innerhalb anhaltender Veränderungen, einen bestimmten Verlauf in der Zeit, gut, so hätte er seine gewisse Anschaulichkeit. Rhythmus aber zum Prinzip erheben, ob des Lebens oder des Kosmos, heißt bloß der theoretisch dürftigen Tatsache staunende Göttlichkeit zusprechen, dass sich überhaupt etwas bewegt und nicht nichts. Es mag ein Wunder sein. Die Freude, es auf das eine Wort zu bringen, als wären die Millionen und Abermillionen Arten von Bewegung, da das Wort es will, nur Abkömmlinge dieses Einen, von »Rhythmus«, teile ich nicht.
Ich werde von demjenigen Rhythmus sprechen, an den man zu allererst denkt, wenn man seinen Namen sagt: Rhythmus, den man beim Hören wahrnimmt, Rhythmus, den man mit Klängen verbindet und mit Tanz, den wir an Musik wahrnehmen und an Versen, der in die Glieder fahren kann, der ins Ohr geht oder den man mit Fingern auf die Tischplatte trommelt. Es ist das, was man, indem man es hört, als rhythmisch empfindet: eine Sache also der Wahrnehmung, subjektiver Rhythmus.
Schon das macht ihn ungeeignet zu einer Metaphysik des Kosmischen oder des »Lebens« qua Bewegung. Sollte ich einmal gelangweilt dasitzen und es erklingt ein Stück im Salsa-Rhythmus, wird er mich zum Tanzen treiben: Er tut seine subjektive Wirkung mittels Wahrnehmung. Anders, wenn es still bleibt: Dann helfen mir sämtliche Millionen Rhythmen nichts, in denen da jeden Augenblick meine Zellen zucken, pulsieren und feuern oder in denen die Atome meines Lehnsessels das tollste Spektakel aufführen. Wenn sie an meiner statt tanzen, schön für sie – ich selber habe nichts davon, für mich ist es so viel, als gäbe es sie nicht. Dass ich von ihnen weiß und manches über ihre Beweglichkeit gelernt habe, ändert nichts daran, dass sich der Sessel, auf dem ich sitze, keinen Millimeter von der Stelle rührt. Mögen auch die Moleküle rasen, daraus werden niemandem Ekstasen. Die des Rhythmus hängen an etwas Anderem. Und eben dies Andere bestimmt seinen einfachen und genauen Unterschied zur Zeit.
Der Zeit entkommt bekanntlich nichts und niemand. Da alles, was sich regt, sich in ihr bewegt, ist auch alles, was wir wahrnehmen, ausnahmslos zeitlich, immer und in jedem Fall zeitlich. Bei keinem Klang etwa, den wir vernehmen, ließe sich die Frage stellen: Ist er nun zeitlich oder nicht? Verläuft er in der Zeit oder außerhalb von ihr? Ein solches Außerhalb der Zeit gibt es für uns nicht, und in Bezug auf Zeit wäre die Unterscheidung grundsätzlich ohne Sinn. Für den Rhythmus dagegen ist sie entscheidend: Ist dies oder jenes rhythmisch oder nicht? Jeden Klang beurteilen wir unwillkürlich danach, ob wir ihn als rhythmisch empfinden, bei jedem Klang unterscheiden wir, indem wir ihn hören, ob er uns rhythmisch ist oder eben nicht. Wann immer wir etwas hören, treffen wir diese Unterscheidung, unablässig und unwillkürlich fällen wir darüber unser Urteil, ohne dass wir darauf achten, ohne dass wir dies Urteilen überhaupt bemerken müssten. Die gewisse Resonanz, die ein als rhythmisch wahrgenommener Klang in uns findet, anders als ein nicht-rhythmischer, mag das eine oder andere Mal nur gering sein und mag oft genug wie ungehört in uns verhallen, wenn wir nicht bewusst auf sie achten. Aber es gibt sie und sie ist es zugleich, mit der uns Rhythmus bis zur Ekstase ergreifen kann. Das vermag die Zeit als solche nicht, kein Sonnenumlauf vermag es und kein Urknall, von dem wir nichts hören.
Dies Urteil nach rhythmisch oder nicht-rhythmisch ist auch keine Frage des Geschmacks. Geschmack darf entscheiden, ob wir einen bestimmten Rhythmus mehr goutieren als einen anderen, ob jemand zwar diesen Rhythmus mag, aber jenen anderen nicht, Tango eher als Salsa. In der grundsätzlichen Unterscheidung nach rhythmisch oder nicht entscheidet dagegen kein Gutdünken, nicht Lust und Laune, sie zeigt sich vielmehr klar bestimmt. Vielleicht mögen wir den Rhythmus eines gängigen Musikstückes nicht, trotzdem wissen wir, dass es Rhythmus ist. Jemand hört Musik – und »weiß«: Das ist rhythmisch; er hört das Geräusch eines Staubsaugers – und »weiß«: nicht rhythmisch. Das Zusammenknüllen von Papier, das Herunterfallen einer Zahnbürste, die Bewegung von Blättern im Wind, alles Mögliche ergibt Klänge und Geräusche, die zwar ihre zeitliche Struktur aufweisen, an denen wir aber nichts empfinden, was uns rhythmisch wäre. Wie sollte es auch anders sein, natürlich: Es gibt rhythmische genausogut wie nicht-rhythmische Klänge. Nichts daran scheint schwierig, nichts geheimnisvoll.
Und doch sind die Geheimnisse, die darin liegen, tief genug, dass sie selbst den Geheimrat Goethe, einen Großmeister des sprachlichen Rhythmus, in Desperation haben stürzen können. Und nicht, dass sie sich seit seinen Zeiten geklärt hätten. Im Gegenteil, der durchaus klägliche »Stand der Forschung« lautet heutzutage so:
Vorerst muss man sich damit abfinden, dass es eine Übereinkunft über den Begriff des Rhythmus nicht mehr gibt. Das betrifft auch die Termini Metrum, Takt, Periode usw. Sie sind heute unbestimmter und vager, als sie es je zuvor waren. »Es ist bekannt, wie ungeheuer schwer es für uns heute ist (wer wollte es nicht zugeben?), mit diesen Termini richtig zu verfahren, sie objektiv gültig zu interpretieren und gegeneinander abzugrenzen«. Jede Studie über den Gegenstand stimmt dem zu. Und diejenigen, die vorschnell versuchen, aufzuräumen und klarzustellen, vermehren die Unzahl der schon vorhandenen Definitionen um eine weitere. 1
Oder machen sich so davon, dass sie die Frage nach der Rhythmuswahrnehmung, was man als rhythmisch also empfindet, im Namen strenger Wissenschaft einerseits als bloß »populäre« Deutung und andererseits als zu schwierig abtun: »Ein Handicap für die naturwissenschaftliche Forschung ist, dass Rhythmus in populärer Lesart eine subjektive Komponente hat und damit zwangsläufig auf methodisches Glatteis führt.«2 Also weg mit der »subjektiven Komponente« – und Pech für den Rhythmus! Von einer Fläche, die derart rutschig und unsicher ist, heißt es naturwissenschaftlich fernbleiben: Betreten verboten! Wir aber werden uns nun auf diese Fläche begeben – und ich kann den Leser nur ganz in diesem Sinne warnen: Es gibt genug Gelegenheit auszugleiten. Aber man muss nicht stürzen.