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Bürgersteig

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Das Kapitel »Rhythmus« in Elias Canettis Masse und Macht beginnt so:

Der Rhythmus ist ursprünglich ein Rhythmus der Füße. Jeder Mensch geht, und da er auf zwei Beinen geht und mit seinen Füßen abwechselnd am Boden aufschlägt, da er nur weiterkommt, wenn er immer wieder aufschlägt, entsteht, ob er es beabsichtigt oder nicht, ein rhythmisches Geräusch. Die beiden Füße treten nie mit genau derselben Kraft auf. Der Unterschied zwischen ihnen kann größer oder kleiner sein, je nach persönlicher Anlage oder Laune. Man kann aber auch rascher oder langsamer gehen, man kann laufen, plötzlich stillstehen oder springen.

Immer hat der Mensch auf die Schritte anderer Menschen gehört, er war sicher mehr auf sie bedacht als auf die eigenen. Auch die Tiere hatten ihren wohlvertrauten Gang. Von ihren Rhythmen waren viele reicher und vernehmlicher als die der Menschen. Huftiere flohen in Herden davon wie Regimenter aus lauter Trommlern. Die Kenntnis der Tiere, von denen er umgeben war, die ihn bedrohten und auf die er Jagd machte, war das älteste Wissen des Menschen. Im Rhythmus ihrer Bewegung lernte er sie kennen. Die früheste Schrift, die er lesen lernte, war die der Spuren: Es war eine Art von rhythmischer Notenschrift, die es immer gab; sie prägte sich von selber dem weichen Boden ein, und der Mensch, der sie las, verband mit ihr das Geräusch ihrer Entstehung. 3

Dieses Abenteuer-Idyll muss ich leider stören. Ein Bürger des 20. Jahrhunderts geht auf dem Trottoir, hört das tok tok seiner Absätze und empfindet daran Rhythmus. Unwillkürlich empfindet er es, und so unwillkürlich, wie sich diese Empfindung bei ihm einstellt, so sicher meint er, sie müsse den frühesten und ursprünglichsten Bedingungen der Menschheit entstammen, solchen, die ihn, den Bürger, mit dem Jäger und Sammler prähistorischer Zeiten verbinden, nein, kürzer noch: Bedingungen, »die es« ganz einfach schon »immer gab«.

Das bürgerliche Wissen hält sich ja gerne für »das älteste Wissen des Menschen«. Und allerdings, wo auch gäbe es zu diesem Glauben eher Anlass als beim Rhythmus? Rhythmus zu empfinden wird man ja nicht gelehrt, man bekommt es nicht erst durch Übungen beigebracht, die Empfindung, etwas sei rhythmisch, stellt sich unwillkürlich ein und ist so tiefe, so allernatürlichste Natur, dass man gar nicht umhin kommt, sie deshalb auch den Tiefen der Natur zuzuschreiben. Keine Überlegung, die hinter sie zurückgreifen, kein Gedanke, von dem sie sich ableiten, kein Diskurs, dem sie sich verdanken könnte. Sie lässt sich nur hinnehmen, und gerade darin, dass sie in dieser Weise unhintergehbar ist, liegt ihre strikte Natürlichkeit. Die aber zwingt zu der Überzeugung, sie wäre auch ewig wie die Natur: Das Maß, wie weit zurückliegenden Zeiten sie Canetti deshalb zuschreibt, gibt nur das Maß wieder, wie sehr sie uns natürlich ist. Uneingeschränkt zu allen Zeiten soll es sie so gegeben haben wie für uns – das heißt: So uneingeschränkt ist sie unserer Wahrnehmung a priori.

Daher Canettis Ursprungsmythos vom Rhythmus in seiner ganzen unbekümmerten Ungeschichtlichkeit. Aber noch einmal: Hat das Absehen von Geschichte in diesem Fall, selbst wenn man vielleicht anders konstruieren wollte als mit den Füßen, nicht sein gutes Recht? Gehen wir einmal mit Canetti und setzen voraus, jeder Mensch – Indianer und Old Shatterhand ausgenommen – werde beim Gehen unweigerlich, »ob er es beabsichtigt oder nicht«, ein Geräusch verursachen. Ergibt sich dann nicht wirklich und notwendig, jenseits aller geschichtlichen Entwicklung und Unterschiede, »ein rhythmisches Geräusch«? Sicherlich, laut Voraussetzung, ein Geräusch – was aber macht es zu einem rhythmischen? Laut Canetti gilt: Das Geräusch ist schon rhythmisch. Es soll seinen Rhythmus als die Eigenschaft, nicht bloß irgendein, sondern rhythmischer Klang zu sein, offenbar fix und fertig in sich tragen, denn eben damit soll es Rhythmus ja »ursprünglich«, wie es heißt, auf die Welt bringen. So die Logik von Canettis Ursprungsmythos: Da entsteht ein Geräusch, und weil dieses Geräusch schon als solches rhythmisch wäre, soll mit ihm zugleich Rhythmus entsprungen sein. Und den Menschen, da sie Geräusch und in ihm Rhythmus hören, würde es auf diese Weise eine »ursprünglich«-erste Kenntnis von Rhythmus einprägen. Nur: Wer hätte die Menschen gelehrt, erst genau dieses Geräusch als rhythmisch zu erkennen und nicht schon das Rauschen der Blätter oder das Plätschern des Bachs?

Wem jetzt die Antwort einfällt: Weil das eine Geräusch rhythmisch ist und die beiden anderen nicht, der eben trifft – wie Canetti selbst – genau die Unterscheidung, die doch erst »ursprünglich« hergeleitet werden soll: Die Bestimmung »rhythmisch« und also die Unterscheidung nach rhythmisch oder nicht sollte das Ergebnis der Herleitung sein und wird es aber nur, indem sie dafür in aller Pracht schon vorausgesetzt wird. Canettis eingängige Herleitung stellt die Dinge ganz einfach auf den Kopf. Die Dinge tragen zwar allerlei Unterschiede an sich, wenn sie auf die Welt kommen und solange sie auf der Welt sind, aber sie geben nicht die kategorialen Unterscheidungen vor, mit denen dann die Menschen sie belegen. Kein Geräusch trägt die Aufschrift mit sich herum: Mich empfinde und beurteile unbedingt als rhythmisch! oder: Mich empfinde und beurteile um Himmels willen keinesfalls als rhythmisch! Eine solche Unterscheidung geht nicht von den Dingen aus, sondern notwendig von den Menschen, die sie vornehmen. Und die Erkenntnis, dass es sich mit dergleichen so verhält, ist inzwischen steinalt; nur just beim Rhythmus hat sie sich noch keinmal einstellen wollen. Seltsam genug.

Indem Canetti von der Entstehung eines spezifisch rhythmischen Klangs schreibt, hat er notwendig die Unterscheidung zwischen rhythmischen und nicht-rhythmischen Geräuschen getroffen, und er muss sie treffen: eben weil unsere Empfindung es tut. Sie nimmt diese Unterscheidung nicht bloß begrifflich, sondern ohne Unterlass real vor, indem sie auf einen Klang, den sie als rhythmisch wahrnimmt, in einer Weise reagiert, die sich bei anderen Klängen nicht einstellt. Deshalb ist kein Ton, kein Geräusch, kein Ereignis je als solches rhythmisch, keines kann es von sich aus sein. Man muss sie schon als rhythmisch empfinden, damit sie überhaupt erst zu Rhythmus werden, nämlich bestimmt werden. Andererseits: Was liegt daran? Ob er jetzt im Klang selbst liegt oder erst des Subjekts bedarf, das ihn dann erst im Klang wahrnimmt – was ist damit gewonnen? Denn eines ist doch ganz sicher nicht zu bestreiten, nämlich dass wir – nur Vorsicht: das »wir« ist ein verfängliches Pronomen –, dass also wir das Geräusch von Schritten tatsächlich als rhythmisch empfinden. Geradeso wie Canetti. Zu fragen ist deshalb vor allem, welche Art von Klang oder Geräusch wir als rhythmisch empfinden. Wodurch ist jener Klang charakterisiert, dass sich bei uns diese Empfindung einstellt – und zwar derart fraglos und »ursprünglich«, dass jedermann die Annahme zwingend erscheint, »der Mensch« und »jeder Mensch« müsse es von den Ursprüngen an stets genauso empfunden haben wie wir?

Canetti beschreibt es so: Erstens, der Mensch »geht«, indem er »immer wieder« mit den Füßen »am Boden aufschlägt« – das also ergibt eine Folge von Tönen, die mit etwa gleichem Zeitabstand erklingen. Zweitens: Der Mensch geht »auf zwei Beinen«, »abwechselnd« mit dem einen und mit dem anderen Fuß auftretend, aber mit dem einen »nie mit genau derselben Kraft« wie mit dem anderen – die Töne werden also zweiwertig nach ihrer Stärke geschieden, stärker der eine und schwächer der andere, und sie folgen in dieser Abstufung stärker/schwächer abwechselnd aufeinander. Und drittens besteht noch die Möglichkeit unterschiedlicher Tempi, Pausen und Modulationen. Canettis Ursprungsmythos vom Rhythmus beschreibt also das folgende »Geräusch«: eine modulierbare Folge von Tönen in gleichen Zeitabständen, die nach stärker und schwächer betont abwechseln.

Diese Art Klang ist in unseren Ohren zweifellos rhythmisch, wir empfinden ihn als rhythmisch, er geht uns als Rhythmus ein, so unwillkürlich, wie uns eben das tok tok gehender Füße mit einem leichten Abwechseln nach tik und tak ins Ohr geht. Aber: Was wir auf diese Weise als rhythmisch empfinden und was Canetti auf diese Weise beschreibt, das – der Leser mag es mir zunächst einfach glauben – ist nicht etwa ein für allemal Rhythmus, ist nicht Rhythmus im allgemeinen, nicht an und für sich Rhythmus, sondern es ist die einfachste Spielart nur einer ganz bestimmten Art von Rhythmus: des Taktrhythmus. Und diesen gibt es nicht seit Menschen- oder Tieresgedenken, sondern erst seit Beginn der Neuzeit. So spät erst, und zunächst nur in den Gesellschaften Mittel- und Westeuropas, beginnt man dies als Rhythmus zu empfinden, beginnt Taktrhythmus »der« Rhythmus zu werden, setzt es ein, dass Menschen Rhythmus unwillkürlich nach dem tik-tak von betont und unbetont, nach gleichen Zeiteinheiten und das eben heißt: nach Takten hören – so wie Canetti und so wie wir heute recht ausnahmslos alle.

Im Takt des Geldes

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