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Ein klassischer Irrweg

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Bezwingend sind hier Wahrnehmung und Reflexion also ineinander verschränkt: die unwillkürliche Wahrnehmung von Rhythmus und das ebenso unwillkürlich täuschende Denken über ihn. Der Zwang der je eigenen Rhythmuswahrnehmung zeigt sich wirksam zum einen als Schranke: Weil wir Rhythmus zwingend nach Takten wahrnehmen, können wir uns Rhythmus nicht anders als nach Takten denken. Zugleich aber ist der Zwang wirksam als Übergriff: Wenn wir Rhythmus zwingend nach Takten denken, legen wir unser Taktwesen unwillkürlich auch auf Bereiche, die einer anderen Art von Rhythmus zugehörten; wir hören und denken auch solche Rhythmen danach, die zu ihrer Zeit nichts mit Takten zu tun hatten. Das heißt, wir täuschen uns und fälschen sie.

Das will ich nur ein wenig ausführlicher dokumentieren; denn für alles Folgende liegt sehr viel daran, die Mächtigkeit dieser Täuschung zu erkennen. Wie Canettis Ursprungsmythos ist auch Apels Lehre nur ein Beispiel unter unzähligen, und Apel nicht etwa ein einzeln verloren Irrender, sondern der ganz normale, vollgültige Vertreter einer Wissenschaft, die hier über mehrere Jahrhunderte hinweg nichts anderes hat wissen wollen.

Wie die antiken Verse zu ihrer Zeit gelesen wurden, ist genau überliefert: nach ihrem Rhythmus der zeitlichen Proportionen, nach lang und kurz. Wie aber müssten sie nach dem, was Apel und neben anderen die gesamte Wissenschaft der klassischen Philologie sich anheischig gemacht haben zu beweisen, ein für allemal gelesen werden? Wie in der Neuzeit: indem der alte Rhythmus durch den neuzeitlichen ersetzt wird. Die Abfolge von lang und kurz etwa des antiken iambischen Trimeter empfindet unser neuzeitliches Ohr nicht mehr als rhythmisch; als rhythmisch empfindet es die taktgemäße Abfolge von betont und unbetont. Wie also werden unserem neuzeitlichen Ohr die antiken Verse rhythmisch? Indem wir deren Rhythmus missachten und unseren Rhythmus hineinlegen. Das heißt: indem wir die Grundlage des originalen, des antiken Rhythmus, nämlich die Länge und Kürze der Silben für gleichgültig nehmen und stattdessen das wechselnde betont/unbetont auf die Silben schlagen. Ein Verfahren ist das, als würde sich nun wirklich Canettis bürgerlicher Urmensch aufmachen und mit dem rhythmischen Geräusch seiner Absätze über diese Verse hinwegtrampeln, gleichgültig gegen die Unebenheiten ihres geschmeidigen Bodens, mit seinen Hufen »eine Art von rhythmischer Notenschrift« hineinhämmernd, die es bei Gott nicht immer gab und die sich keineswegs »von selber« diesem »weichen Boden« einprägt, sondern die »der Mensch, der sie las«, nein, der sie neuzeitlich liest, durchaus mit einigem Nachdruck und mit einiger Gewalt erst von sich aus hineinzuzwingen hat: seinem rhythmischen Zwang gehorchend.

Die einzige Freiheit, die ihm der Taktrhythmus dabei lässt, ist die: ob eines oder ob zwei unbetonte Elemente zwischen die betonten treten; auf diese Freiheit werde ich noch zu sprechen kommen. Wenn also ein antiker Vers so lautete:

Parturient montes, nascetur ridiculus mus,

so ist sein originaler Rhythmus nach lang und kurz:

│ — ∪ ∪ │ — — │ — — │ — — │ — ∪ ∪ │ — — │

und die Wortakzente, die ja rhythmisch indifferent waren, verteilen sich so auf die Silben:

Par.tú.ri.ent món.tes, nas.cé.tur ri.dí.cu.lus mús.

Wir aber, neuzeitlich und taktrhythmisch, machen daraus:

PAR.tu.ri.ENT mon.TES, nas.CE.tur RI.di.cu.LUS mus.

So wird es uns rhythmisch, und deshalb und auf diese Weise machen wir, nämlich »wir« seit Beginn der Neuzeit, die antiken Verse zu Versen nach dem Taktwesen, nach betont und unbetont. Diejenigen Betonungen, die uns ein Geräusch zu einem rhythmischen machen, legen wir hinein, und die Akzente, welche die Sprache für sich tragen würde, unterdrücken wir – falls sie nicht zufällig, wie bei »nas..tur«, mit den hineingelegten zusammenfallen. So ist die Übung seit Beginn des 17. Jahrhunderts, so lernt es, wer denn noch eine antike Sprache lernt, bis heute in Schule und Universität, und so sind im Laufe der Jahrhunderte wahrlich »Regimenter aus lauter Trommlern« über die armen Hexameter gejagt worden, und jeder hat seine Ikten darauf geschlagen – so heißen diese neuzeitlich hinzugefügten Betonungen: von ictus, der Schlag.

Diese Übung ist historisch aufs brutalste falsch, und dennoch ist sie legitim, verständlich, hat sie ihr unvermeidliches Recht: eben weil wir Rhythmus nunmehr anders empfinden als die Menschen der Antike. Wenn wir ihre Verse also überhaupt noch rhythmisch wahrnehmen wollen, können wir gar nicht anders, als denjenigen Rhythmus daraufzuschlagen, der uns nun einmal als einziger ins Ohr geht – nach jenem Zwang, über den wir nichts vermögen und von dem wir auch nichts weiter wissen. Gerade aber, weil er uns unbewusst bleibt, schlägt er auch alles Wissen, das daran hängt, mit spezifischer Blindheit. Wissenschaft nämlich, die ehrwürdigste klassische Philologie, hat jenes Iktieren ja nicht bloß als einen bewussten Notbehelf empfohlen, um unseren Mangel an antiker Rhythmuswahrnehmung auszugleichen, – und ein solcher Notbehelf ist das Iktieren und als dieser Notbehelf hat es sein Recht –; sondern sie hat behauptet, schon die Griechen und Römer selbst hätten ihre Verse so gesprochen, hätten so iktiert wie wir. Statt nach ihren Längen und Kürzen und ihrem natürlichen Wortakzent zu sprechen:

át.qu’íl.lud pró.no práe.ceps á.gi.tur de.cúr.su,

hätten auch die antiken Dichter so auf ihren Versen herumgetrampelt:

AT.qu’il.LUD pro.NO prae.CEPS a.gi.TUR de.CUR.su.

Man mache sich für einen Moment klar, was damit behauptet ist: Die Griechen und Römer hätten also mühevoll und sorgsam ihre Verse nach Länge und Kürze der Silben gedichtet, kompliziert wie etwa in den vorgeführten Trimetern und so, wie es nun einmal aufs genaueste belegt, überliefert und an den Versen festzustellen ist; aber Rhythmus hätten dieselben Griechen und Römer gerade nicht an diesen Längen und Kürzen empfunden, sondern an irgendwelchen recht unabhängig davon auf die Silben geschlagenen Betonungen – von denen nebenbei absolut nichts überliefert ist. Das ist etwa so, als wollte man die archäologisch eindeutige Feststellung, dass die Römer zur Heizung ihrer Thermen kunstvolle Hypokausten angelegt haben, mit der Behauptung zieren, die Wärme wäre aber von einer Zentralheizung gekommen.

Natürlich ist das Unsinn und, so möchte man meinen, auf Anhieb als Unsinn zu erkennen. Trotzdem ist diese Lehre aufgekommen, und nicht nur aufgekommen, sie war über Jahrhunderte hinweg die geltende wissenschaftliche Doktrin, hartnäckig gegen vereinzelte Kritik verteidigt, blindwütig gegen die antike Überlieferung verfochten, gewaltsam in die antiken Schriften hineingelesen und von angesehenen Oxford-Gelehrten hineingefälscht, und erst vor wenigen Jahren ist es gelungen, diese Lehre mitsamt ihren Fehlschlüssen Stück für Stück so zu widerlegen, dass sie endlich offiziell abgedankt hat – was keineswegs heißt, dass sie nicht allenthalben weiter tradiert würde.13 Einzig aufgrund des Reflexes, der uns »Rhythmus ohne Takt […] nicht denken« lässt, hat sich eine gesamte Wissenschaft gegen die Überlieferung vergangen, hat eine Philologie, die alles schriftlich belegt vorfindet und sich – eben philologisch – an diese Belege zu halten hätte, gegen jedes bessere Wissen verstoßen, hat sie jahrhundertelang allen Scharfsinn aufgeboten, um die einfachste Logik zu verkehren: dass ein Sophokles, der nach dem antiken Rhythmus dichtet, nicht nach dem neuzeitlichen gedichtet haben kann.

Die klassische Philologie ist buchstäblich also dieser historischen Fälschung überwiesen, der falschen Pro- beziehungsweise Retrojektion des neuzeitlichen Taktrhythmus in die früheren Zeiten. Gesprochen, über die antiken Verse gelegt hat man die Ikten seit Beginn des 17. Jahrhunderts, die wissenschaftliche Lehre, dieses betont/unbetont wäre antik, wird aufgestellt, sobald sich die Philologie zu einer eigenen Wissenschaft mausert, kaum einer widerspricht der Lehre, und selbst Nietzsche, der ihren Fehler bereits erkennt, kommt nicht ab davon, trotzdem an die Ewig-Einigkeit des Taktrhythmus zu glauben. Nach jahrhundertelanger Geltung erst hat diese eine unter den Philologien kleinlaut ihre Iktustheorie nun zurückgenommen und hat freundlich anerkannt, dass Griechen und Römer ihre Verse doch wirklich und wahrhaftig so gedichtet und wahrgenommen haben, wie sie Rhythmus empfanden und nicht wie wir es tun. Welch erfreulicher Rückschritt der Wissenschaft!

Die Iktustheorie und ihre Geschichte ist also ein Beleg für die Gewalt, mit der sich unser Denken allgemein und nachhaltig selbst gegen offensichtlichen Unsinn und beschämende Kurzschlüsse immunisiert, wenn es darum geht, denjenigen Rhythmus, den es als einzigen wahrzunehmen vermag, auch als den einzig-ewigen zu behaupten. Und nicht bloß immun zeigt sich hier das Denken, es nimmt die fälschenden Konstruktionen ja nicht bloß passiv hin, sondern führt sie aktiv und gegen erheblichen sachlichen Widerstand von sich aus auf: selbst in der Form wissenschaftlicher, rationaler, zuweilen höchst anspruchsvoller – und trotzdem hinfälliger – Argumente. Der Reflex, die jeweils eigene Rhythmuswahrnehmung für die einzige und notwendig ewig-natürliche zu halten, verdrängt nicht nur mühelos alle Reflexion, die dem entgegenstehen müsste, sondern treibt aktiv noch die mühsam gesuchtesten Reflexionen hervor, damit sie den Widerstand brechen und stattdessen bestätigen: Es muss immer so gewesen sein, wie es für uns ist.

So tief reicht da ein unerkannter, unwillkürlicher Zwang.

Im Takt des Geldes

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