Читать книгу Hinter hessischen Gittern - Esther Copia - Страница 14
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ОглавлениеVor einem Jahr hatte sich Marias Leben schlagartig verändert. Immer wieder tauchten vor ihrem inneren Auge diese Bilder auf, wie sie in der Zelle die Rasierklinge an ihrem Hals spürte. Der Überfall hatte Spuren hinterlassen. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie so ihre düsteren Gedanken vertreiben. Zellenkontrollen standen an, und so zog sie ihre Handschuhe an und klopfte an die Zelle II523 und schloss sie auf.
»Guten Morgen!«, rief Maria laut in Anbetracht der Tatsache, dass der Insasse noch in seinem Bett lag und schlief.
Walter Schneider richtete sich auf und blinzelte Maria müde an. Mürrisch fragte er: »Was gibt es denn?« Die Gardine war halb vor das Fenster gezogen, und ein unbeschreiblicher Gestank schlug Maria entgegen. Mit einem offenen und einem zugekniffenen Auge versuchte der Gefangene Schneider, in der Wirklichkeit anzukommen. Er spiegelte das Klischee eines Knackis wider. Seit Tagen unrasiert, die Haare wie auch der gesamte Körper hatten wer weiß wann das letzte Mal Wasser gesehen, und auch das T-Shirt, welches unter der Bettdecke hervorlugte, stand vor Dreck.
»Bitte stehen Sie auf, ich komme in zehn Minuten, dann möchte ich Ihre Zelle kontrollieren.« Maria war schon im Begriff zu gehen, da bekam sie die Antwort: »Sie können mir mal ’nen Kaffee bringen, dann klappt das auch.«
Mit einem leisen Grunzen drehte sich Schneider noch einmal entspannt in seinem Bett um und zog sich die Bettdecke über die Schulter. Maria kannte derlei Allüren schon von anderen Gefangenen. Leise flüsterte sie zuckersüß: »Sie glauben wohl, ich bin der Roomservice? Sie verwechseln das hier mit einem Hotel?« Dann erhob sie ihre Stimme: »Schauen Sie mal aus dem Fenster.«
Schneider setzte sich abrupt in seinem Bett auf und sah sie verblüfft an.
»Ja, sehen Sie mal raus.«
Schneider setzte sich blitzartig auf und tat, wie ihm befohlen.
Maria lächelte süffisant. »Na, was sehen Sie da? Gitter, oder? Sie träumen nicht, Sie sind im Knast. Ich bringe Ihnen auch keinen Kaffee, sondern ich bringe Ihnen mal Manieren bei. Aufstehen, und in zehn Minuten sind Sie angezogen. Alles klar? Ach, und ganz wichtig, lüften Sie mal Ihren Raubtierkäfig!« Maria hielt die Luft an, damit sie nicht noch mehr Duft von Herrn Schneider einatmen musste. Dann trat sie mit zwei großen Schritten an das Fenster und öffnete es weit. Sie verließ die Zelle und verschloss die Tür lauter, als es notwendig gewesen wäre.
Zellen zu kontrollieren, diese Arbeit widerstrebte ihr zutiefst. Dabei musste sie Dinge in die Hand nehmen, die dermaßen schmutzig und versifft waren, dass sie manchmal direkt Brechreiz verspürte. Ab und zu hatte sie noch ein mulmiges Gefühl, wenn sie eine Zelle betrat. Sie spürte den Schweiß auf ihren Handflächen und merkte, wie ihr Herz zu rasen begann. Durch das Mantra einatmen und ausatmen, einatmen und ausatmen beruhigte sie sich selbst ein wenig. Auf keinen Fall durfte ein Kollege oder gar ein Gefangener bemerken, wie es um sie stand.
Die wenigen Quadratmeter waren für einige Gefangene der Lebensraum für viele Jahre. Sie wusste, wie wichtig Zellenkontrollen für alle waren. Nur so konnte man sicherstellen, dass keine gefährlichen Gegenstände innerhalb der Anstalt kursierten. Der eine oder andere war sehr erfindungsreich, wenn es darum ging, Gegenständige des täglichen Gebrauchs in Waffen umzufunktionieren. Sie hatte schon eine Gabel gefunden, die rundgebogen und die Zacken so nach vorne gebogen waren, dass sie wie ein Schlagring eingesetzt werden konnte. Auch Glasscherben an einem Kleiderbügel, mithilfe von zerrissenen Baumwolltüchern fixiert, konnten zur lebensgefährlichen Waffe werden. Eine mit einer Rasierklinge versehene Zahnbürste wäre ihr selbst fast zum Verhängnis geworden. Es war wichtig, diese Dinge zu finden und aus dem Verkehr zu ziehen. Leider kannten nur die wenigsten Insassen Sauberkeit und Hygiene. Einige fühlten sich offensichtlich in ihrem eigenen Dreck wohl.
Auf ihrer To-do-Liste für den heutigen Tag stand noch die Zelle II510, die Zelle von Karl-Heinz Kurz, einer armen Socke von 60 Jahren, der wegen Fahren ohne Führerschein einsaß. Da sie mit seiner Zelle sicherlich schnell fertig sein würde – er gehörte zu den arbeitenden Insassen – beschloss sie, die Durchsuchung seiner Zelle dazwischenzuschieben. Denn Schneider würde noch einige Minuten brauchen, außerdem hoffte sie, dass in der Zwischenzeit der Gestank aus der Zelle etwas abgezogen war.
Sie schloss die Zelle auf. Karl Heinz Kurz war offenbar ein Mann, der wusste, wie man Ordnung hielt. An der Wand über seinem Bett hing ein Foto von einem kleinen Mädchen, ansonsten wirkte die Zelle geradezu spartanisch. Maria begann links oben in der Zelle, dort befand sich ein kleines Wandregal, auf dem zwei Bücher standen. In den Büchern, die sie durchblätterte, fand sie nichts. Rechts neben dem Regal war das Waschbecken mit einem Spiegel darüber. Sie nahm den Spiegel ab, aber auch hier war auf der Rückseite des Spiegels nichts festgeklebt. So ging sie im Uhrzeigersinn weiter vor. Sie hatte ihre schnittfesten Handschuhe an und tastete vorsichtig in den Spind hinein. Immer schwang ein wenig die Angst mit, in eine Spritze zu greifen. Viele Drogensüchtige tauschten innerhalb einer JVA die wenigen Spritzen miteinander, sodass man davon ausgehen konnte, dass mehr oder weniger alle, die Heroin drückten, an HIV oder Hepatitis erkrankt waren. Nachdem sie auch im Schrank und unter dem Bett nichts fand, nahm sie sich noch die Sportschuhe vor, die ordentlich unter dem Bett standen. Als sie die Sohle innen befühlte, bemerkte sie, dass diese nicht voll verklebt war. Sie zog sie vorsichtig heraus und fand ein kleines Tütchen mit einem bräunlichen Pulver darin. Wahrscheinlich Heroin. Im zweiten Schuh fand sie nichts. Sie steckte das Tütchen in ihre Hosentasche. Danach untersuchte sie noch alle weiteren Hohlräume der Zelle, und nachdem sie unter großer Kraftanstrengung auch den Bezug der Matratze abgezogen hatte, gab sie einen Funkspruch an Jan Gerber durch. »Burg 46 für die 48«, ein Signalton ertönte. »Burg 46 hört«, gab Gerber als Antwort.
»Bitte mal zur Zelle II 510 kommen.«
»Burg 46 hat verstanden, bin sofort da.« Jan Gerber brauchte für die zwei Stockwerke, die zwischen seinem Büro und der Station II5 lagen, keine Minute. Mit großen Schritten kam er den Stationsflur entlang. Ihr Vorgesetzter war ein interessanter Mann, groß, blond, gutaussehend, mit einem gewinnenden Lächeln. Man nannte ihn in der gesamten Anstalt Miami, von der US-Fernsehserie Miami Vice, in der in jeder Folge dieser Serie Drogen eine Rolle spielten. Und da Jan Gerber wie ein Terrier in der Anstalt Drogen suchte, hatte er schnell den Spitznamen weg. Maria fühlte sich in seiner Gegenwart wohl, er sah sie als gleichwertige Kollegin an. Auch fragte er sie oft nach ihrer Meinung, ein Umstand, der in einer reinen Männerhierarchie nicht selbstverständlich war. Immer wieder musste Maria bei anderen Kollegen um Anerkennung kämpfen.
»Na, Maria, was gibt es?« Jan Gerber kam nun in die Zelle und sah sie fragend an.
»Ich habe hier dieses Tütchen in den Turnschuhen gefunden«, Maria übergab ihren Fund an Gerber, der ihn kurz gegen das Licht hielt.
»Könnte Heroin sein. Ich mache in meinem Büro gleich einen Schnelltest. Wer ist in der Zelle untergebracht?«
»Karl-Heinz Kurz, Fahren ohne Führerschein«, antwortete Maria prompt.
»Ist er schon einmal wegen Drogen aufgefallen?« Gerber sah Maria fragend an.
»Nicht, dass ich wüsste, aber er ist in letzter Zeit sehr nervös, ich habe ihn die letzten Tage beim Einrücken von der Arbeit reden hören. Er spricht ohne Punkt und Komma. Früher war er eher zurückhaltend, scheinbar hat er Stress.« Maria schnappte sich die Schuhe, und gemeinsam verließen sie die Zelle.
»Na, dann schreibe bitte den Bericht. Ich lasse den Kurz von der Arbeit holen. Wir treffen uns in meinem Büro, mal sehen, was er uns zu erzählen hat.« Mit diesen Worten machte Jan Gerber auf dem Absatz kehrt und ging über den Stationsflur in Richtung Büro. Maria verschloss noch die Zellentür und folgte ihm. An der Stationstür angekommen sagte sie: »Das ist ’ne arme Socke, ich denke, den haben sie hier unter Druck gesetzt.« Maria blickte nachdenklich auf den Turnschuh.
»Da kannst du recht haben, aber ich will wissen, wer ihn unter Druck setzt.« Gerber steckte das Herointütchen in die Brusttasche seines Hemdes und lief die Treppe runter zu seinem Büro.