Читать книгу Hinter hessischen Gittern - Esther Copia - Страница 9
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ОглавлениеIrgendetwas störte sie. Ein Geräusch, das nicht in die Ereignisse passte. Maria driftete langsam in die Wirklichkeit. Gerade eben noch war sie in der Zelle des Geiselnehmers, sie spürte noch den feuchten, ekelhaften Atem an ihrem Hals. Diese Angst, die sie fast lähmte. Sie versuchte, Luft zu bekommen, aber sie atmete so schwer, als würde etwas auf ihrem Brustkorb liegen. Wieder und wieder vernahm sie das sonore Brummen des Weckers. Sie hatte nur geträumt, Gott sei Dank. Sie zwang sich, ihre Augen zu öffnen und nahm die letzten Gedanken des Traums mit in die Wirklichkeit. Ihre Hand ertastete den leeren Platz neben sich im Bett. Da war sie sofort wieder, die Traurigkeit und Leere, wenn sie an ihren Ex-Freund David dachte. Mühsam richtete sie sich auf. Bleiplatten schienen auf ihren Schultern zu lasten. Er hatte ihr nach dem Angriff im Gefängnis unmissverständlich klargemacht, dass er mit ihr nur zusammenbleiben konnte, wenn sie diese Arbeit aufgab. Er sagte, er könne die Angst, die er täglich hatte, wenn sie in der JVA war, nicht länger ertragen. Maria liebte David, sie konnte seine Befürchtungen auch verstehen, aber sie wollte ihre Arbeit nicht aufgeben. Nicht, dass sie die Arbeit in der JVA besonders liebte. Sie hatte schon einige brenzlige Situationen erlebt und empfand bei manchen Gefangenen echte Abscheu, aber sie hatte so für diese Arbeit gekämpft und war auch ein wenig stolz, dass sie es als Tochter von italienischen Einwanderern geschafft hatte, Beamtin zu werden. Diese Anstellung machte sie finanziell unabhängig, eine Tatsache, die für Maria sehr wichtig war. Sie hatte erlebt, wie sehr ihre Mutter nach der Trennung von ihrem Vater hatte kämpfen müssen. Keinesfalls wollte sie jemals von einem Mann abhängig sein. Beamtin zu sein, war für sie der Inbegriff der finanziellen Sicherheit, außerdem hätte sie umschulen müssen. Welchen neuen Beruf wollte sie denn erlernen? Nein, eine berufliche Veränderung kam für sie nicht infrage. So hatten sie die Beziehung nach fast sechs Jahren, in denen sie mehr oder weniger glücklich miteinander gewesen waren, beendet.
Wie sehr sie diese Trennung schmerzen würde, hatte Maria unterschätzt. Es verging keine Stunde, in der sie nicht an David dachte. Ihre gemeinsamen Abende, an denen sie gekocht und von einer glücklichen Zukunft mit Kindern geträumt hatten, fehlten ihr sehr. Sie vermisste ihn mehr, als sie vor sich selbst zugeben wollte. Erschwerend kam hinzu, dass sie nicht wusste, wo sie einen anderen Mann kennenlernen sollte. Im Knast ganz sicher nicht. Sie war schüchtern und hatte es schon früher nicht geschafft, einen Mann anzusprechen. Online Dating war für sie nichts, da sie befürchtete, an einen ehemaligen Gefangenen zu geraten. Alleine ihr Profilbild in solchen Dating Portalen konnte ihr im Job das Leben schwer machen.
Sie zwang sich, die Gedanken zu verscheuchen. Energisch schlug sie die Decke zurück.
Seit einem Jahr musste sie wieder und wieder die furchtbare Situation in der Gefängniszelle durchleben. Eine posttraumatische Belastungsstörung löste sich nicht so schnell auf. Ihr Psychologe, den sie seit dem Angriff alle zwei Wochen aufsuchte, war zuversichtlich, dass es mit der Zeit besser würde.
Fröhliches Vogelgezwitscher drang an ihr Ohr, und die Kirchturmuhr mahnte sie zur Eile. Sie schlüpfte aus dem Bett. Das Morgenrot kündigte die aufgehende Sonne an.
Mit ihren Gedanken war sie schon in der Anstalt. Die letzten Monate hatten sie sehr angestrengt. Sie arbeitete in der JVA Dieburg, einem Männergefängnis, welches sich inmitten der Altstadt von Dieburg befand. Ein Job, der sie jeden Tag vor neue Herausforderungen stellte. Die unterschiedlichen Gefangenen machten die Arbeit spannend. Da gab es die Betrüger, die täglich bewiesen, dass sie studierten Psychologen in nichts nachstanden. Sie erkannten die Schwachstellen der Beamten sofort und verhielten sich bei jedem ein wenig anders, gerade so, wie es die Situation erforderte. Oder auch die gewaltbereiten Gefangenen, die, wenn ihnen die Worte fehlten, einfach zuschlugen. Da gab es diejenigen, die aufgrund ihrer Drogensucht und der damit verbundenen Beschaffungskriminalität einsaßen, und deren Gedanken den ganzen Tag nur um Drogen kreisten und wie sie diese in den Knast schaffen konnten. Und natürlich waren da die Unschuldigen, die aufgrund eines fürchterlichen Justizirrtums verurteilt waren. Viele Knackis erzählten dies so überzeugend, dass Maria manchmal wirklich an den Urteilen zweifelte. Bei genauerem Lesen der Akten erkannte sie jedoch schnell, dass viele Täter die Tat nur vor sich selbst verdrängten, weil sie so schlimm war, dass sie ihr eigenes Handeln nicht begreifen konnten. Dass nicht sein durfte, was nicht sein konnte.
Maria drehte den Wasserhahn auf und trat unter die Dusche, wie immer morgens, ein Wettlauf gegen die Zeit. Nach 20 Minuten war sie soweit. Noch ein kurzer Blick in den Spiegel. In der Uniform gefiel sie sich ganz gut. Die dunkelblaue Hose in Kombination mit der taillierten weißen Bluse brachte ihren durchtrainierten Körper zur Geltung. Sie war schlank, obwohl sie von ihrer Mutter immer noch mit Pasta verwöhnt wurde. Das wöchentliche Karatetraining und auch das tägliche Treppenlaufen in der JVA mit ihren fünf Stockwerken hielten die Figur in Form.
Als sie vor die Haustür trat, lugte gerade die Sonne über die Dächer der Kleinstadt. Sie liebte es, früh aufzustehen und so den Tag zu beginnen. Die Luft war frisch, und die Stadt war noch in ein warmes Licht getaucht. In wenigen Stunden würde es wieder sehr heiß sein, aber um die Uhrzeit war es noch angenehm kühl. Sie hörte die Amseln, die ihr Morgenlied anstimmten, als wollte der eine oder andere Vogel ihr einen schönen Tag wünschen. Den Rucksack gefüllt mit einem Thunfischsandwich und einer großen Flasche Wasser, lief sie die Straße zur JVA entlang. Sie ging mit großen Schritten, denn sie wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Sie stoppte. Von Weitem sah sie eine schwarze Katze, die von links nach rechts über die Straße schlich, als Maria die Groß-Umstädter-Straße entlang ging. Oh nein, nun durfte sie auf keinen Fall weiterlaufen. Pech konnte sie in ihrem Beruf nicht gebrauchen. Sie wartete einige Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen. Endlich fuhr ein Auto an ihr vorbei und nahm den Unglücksfluch mit sich.
Als sie die Anstalt betrat, blickte sie in übernächtigte Gesichter. Die Kollegen der Nachtschicht waren bereits in der Pforte versammelt und warteten auf sie und die anderen Kollegen der Frühschicht. Sie durften erst nach Hause gehen, wenn ein Großteil der neuen Schicht anwesend war.
Vor ihrem Schlüsselfach stand Markus Müller, der sie müde ansah und ihr einige Infos gab.
»Guten Morgen, Maria, du hast wieder auf der II5 Dienst. Der Hattinger geht ab heute in die Schule, er darf um 6.30 Uhr die Anstalt verlassen, damit er seinen Bus erreicht. Er beginnt eine Ausbildung zum Fachinformatiker in Darmstadt.« Müller gähnte.
»Okay, ich werde mal schnell auf der Zentrale mein Funkgerät holen und dann den Hattinger wecken.« Maria öffnete ihr kleines Schlüsselfach und holte den Anstaltsschlüssel heraus. Danach begab sie sich zur hinteren Pfortentür, die zum Anstaltshof führte. Alle Eingangstüren und Tore in der JVA hatten eine Schleusenfunktion und konnten nur durch einen Kollegen in der Pforte per Knopfdruck entriegelt werden. Sie hörte den Summer und konnte die Anstalt betreten. Mit wenigen Schritten überquerte sie den Hof und öffnete die alte Holztür zur Verwaltung. Jede Tür musste sie zuerst auf- und, nachdem sie durchgegangen war, auch wieder zuschließen. Vor der Zentrale angekommen, wartete Maria auf den Einlass, denn auch diese Türen waren mit Schleusenfunktion versehen.
»Guten Morgen, Rolf.« Maria zwinkerte ihm zu. Seit dem Zwischenfall ein Jahr zuvor verstanden sich die beiden bestens. Kein anderer Zentralist hätte so schnell reagiert wie Rolf Klein damals. Dies hatte Maria das Leben gerettet.
»Guten Morgen, heute auch wieder gut gelaunt. Wie machst du das nur?« Rolf war ein Kollege mit über 20 Jahren Diensterfahrung.
»Das ist meine italienische Natur, da kann man nicht anders.« Maria zuckte mit den Schultern.
»Beneidenswert. Ich brauche ungefähr drei Liter Kaffee, um diesem Tag etwas Positives abzugewinnen.« Er nahm das Funkgerät 48 aus der Ladestation und übergab es Maria.
»Und weil es dir so gut geht, hast du heute wieder die Ehre, im Zirkus Maximus die Dompteuse zu spielen. Die ganze Station II5 nur für dich.« Klein grinste sie an.
»Zu gütig. In letzter Zeit bekomme ich immer die Superstars der Anstalt. Bin ich irgendjemandem, ohne es zu wissen, auf die Füße getreten?« Maria sah aus dem Fenster der Zentrale auf den Anstaltshof. Nichts als Tristesse und Beton. Das einzig Farbige war der rote Kunststoffboden in der Mitte des Hofes, der als Fußballplatz diente.
»Ich glaube nicht, aber jeder andere hier drin hat 1.000 Erklärungen, warum er auf einer anderen Station arbeiten möchte.«
Die Station II5 war zweifelsfrei die schwierigste Station der gesamten Anstalt, und obwohl sie die Katastrophe vor einem Jahr hatte erleben müssen, wurde sie fast immer genau da zum Dienst eingeteilt. Nicht nur Frank Hattinger, ein verurteilter Mörder, sondern auch die Chefs der Russenmafia sowie ein ehrenwertes Mitglied der Hells Angels waren hier untergebracht.
»Na, dann werde ich mal loslegen. Nicht, dass Herr Hattinger noch Grund zur Klage hat, weil ich ihm zu spät aufschließe.« Maria schnappte sich das Funkgerät und ihren Rucksack, während Rolf Klein die Schleusentür entriegelte. Mittlerweile stand die Sonne höher, und der hässliche Bau erstrahlte im Morgenrot. Maria blickte auf ihre Armbanduhr: 5.40 Uhr. Sie musste sich beeilen. Der Geruch, der ihr im Gefangenenhaus entgegenschlug, war bei solchen Außentemperaturen im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Wo so viele Menschen auf einem Haufen lebten, entstanden Gerüche wie sonst nirgends. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stieg sie die Treppe bis in den fünften Stock hinauf und schloss die Tür zum Stationsbüro II5 auf. Ein verglastes Büro mit uralten Holzschreibtischen und einem Computer. Der Bezug und die Armlehnen des Stuhls waren abgewetzt. Durch das vergitterte Bürofenster drang die Morgensonne, und Maria konnte den Staub in der Luft tanzen sehen. In einer Ecke befanden sich ein altes Waschbecken und davor noch ein kleiner Tisch, auf den Maria ihren Rucksack warf. Sie machte das Fenster weit auf und nahm einen tiefen Atemzug, dann schaltete sie die Notrufanlage ein, sodass ihre Durchsage in jeder Zelle dieser Station gehört werden konnte. Die Notrufanlage war für die Gefangenen die einzige Möglichkeit, mit einem Beamten Kontakt aufzunehmen, wenn sie unter Verschluss waren. Ebenso konnte der diensthabende Beamte vom Büro aus Kontakt mit einem oder allen Gefangenen über die Notrufanlage herstellen.
»Guten Morgen, es ist 5.45 Uhr, bitte aufstehen. Aufschluss zur Arbeit um 6.30 Uhr.« Sie ging zur Stationsgittertür, öffnete diese und begab sich zur Zelle des Hausarbeiters. Dragan Savic, ein freundlicher Zeitgenosse, war als Hausarbeiter einstimmig von allen Kollegen auf dieser Station eingesetzt worden. Ein Serbe, etwa einen Meter 90 groß und schlank. Er verbüßte eine Strafe von drei Jahren wegen Einbruchdiebstahl.
»Guten Morgen, Herr Savic.« Ein Blick in die kleine Zelle genügte für Maria, um zu erkennen, dass Savic schon wieder seit Stunden wach war. Alles war picobello aufgeräumt und sauber, das Bett gemacht, gelüftet, auf dem Boden war kein Krümel zu entdecken. Der Serbe stürmte mit großen Schritten aus der Zelle und rieb sich dabei mit beiden Händen über sein Gesicht.
»Oh Mann, Frau Saletti, der Knast macht mich fertig. Ich kann keine Nacht schlafen. Diese Wahnsinnshitze.« Gemeinsam liefen sie die fünf Etagen nach unten, dann über den Anstaltshof, um den Essenswagen aus der Gefängnisküche abzuholen. Savic war redselig und wusste immer was zu erzählen. Eine echte Frohnatur.
»Na, Frau Saletti, heute so schnell zu Fuß, haben Sie Angst, Sie verpassen den Bus?« Er lachte laut über seinen eigenen Witz.
»Nein, aber ich muss um 6.20 Uhr dem Hattinger aufschließen, damit er pünktlich um 6.30 Uhr an der Pforte steht. Auf geht’s, haide, haide, wir haben keine Zeit.«
»Ihr Serbisch ist heute wieder akzentfrei! Wie Sie jede Sprache doch so schnell lernen, echt der Hammer.« Savic versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen und ihr ein Lächeln zu entlocken, aber Maria rannte geradezu über den Hof.
»Savic, hör auf, mir zu schmeicheln, du willst doch nur wieder für eine halbe Stunde in den Sportraum heute Morgen, oder? Ich kenne deine Tricks schon, vergiss es, schnapp dir den Wagen und los.«
»Oh, Frau Saletti, warum sind Sie so hart zu mir? Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß. Ich brauche Sport, sonst bin ich hier drin nicht ausgelastet.« Maria hatte mittlerweile die Küchentür aufgeschlossen, Savic trabte zum Essenswagen der Station II5. Auch andere Hausarbeiter trafen mit den Beamten ein und holten ihre Wägen ab. Einige Kollegen standen mit müden Gesichtern in der Küche und zählten die Marmeladengläser, die an diesem Tag an die Gefangenen verteilt werden sollten.
»Na, Maria, warst du nicht brav? Oder warum musst du schon wieder bei den Kaputten Dienst machen?« Oliver Schmidt, ein Kollege mittleren Alters, immer Solarium gebräunt und peinlich auf sein Äußeres bedacht, der ganz offensichtlich keine Lust mehr verspürte, sich täglich mit schwierigen Gefangenen herumzuärgern, sah Maria spöttisch an.
»Nein, ich wollte auf die II5, da ist die Aussicht schöner.« Maria lächelte eisig zurück. Auf diese blöden Sprüche hatte sie um diese Uhrzeit keine Lust.
Savic, der den schweren Küchenwagen über den Hof rollte, sah sie an:
»Ist schlecht drauf Ihr Kollege?«
»Ja, Frust gibt es nicht nur bei euch Gefangenen. Wundert mich aber nicht, wann erlebt man im Dienst mal was Positives? Der eine oder andere Gefangene ist hier zum dritten oder vierten Mal. Wie soll man da noch glauben, dass man mit engagierter Arbeit bei euch eine erfolgreiche Resozialisierung erreichen kann?« Savic senkte den Kopf, auch er war zum dritten Mal in Haft.