Читать книгу Hinter hessischen Gittern - Esther Copia - Страница 6
Tödlicher Freigang
ОглавлениеZellenkontrolle, eine Aufgabe im täglichen Einerlei als Justizvollzugsbeamtin. Maria zog ihre Handschuhe an und betrat die Zelle II515. Die Gefangenen waren beim Sport, niemand würde sie stören. Schon beim Betreten des Raumes nahm sie den Alkoholgeruch wahr. Das Zellenfenster war mit der braunen Wolldecke, die jeder Insasse beim Einzug erhielt, verhängt. Nicht ungewöhnlich bei Außentemperaturen von 35 Grad Celsius, jedoch war hier etwas anders, sie spürte Gefahr. Sie ging auf das Fenster zu, um die Decke abzunehmen, da sah sie ihn, den zerbrochenen Einwegrasierer, aus dem die Klinge entfernt worden war. Augenblicklich war sie in Alarmbereitschaft. Sie spürte etwas ganz nah hinter sich, fuhr herum und musste den Kopf in den Nacken legen. Sergej Supulev starrte ihr direkt in die Augen.
»Warum bist du nicht beim Sport?«, sagte sie leise. Der Kahlköpfige mit den eingefallenen Wangen stand direkt vor ihr, in blauer Knastarbeitshose und weißem Feinrippunterhemd. Eine riesige Spinne war vom Schlüsselbein über den Hals bis zum Ohr tätowiert.
Sie prüfte seinen Blick, um zu erkennen, ob er gerade auf Heroin war. Jahrelange Arbeit mit süchtigen Gefangenen hatte ihre Wahrnehmung geschult. Maria erfasste die Situation sofort, er war betrunken, die Alkoholfahne schlug ihr ins Gesicht, seine Feindseligkeit war spürbar, sie strömte geradezu aus seinen Poren, doch da war es schon zu spät. Ohne Vorwarnung griff Supulev nach ihrem Zopf und riss brutal ihren Kopf nach hinten. Sie verlor das Gleichgewicht und taumelte zur Seite. Mit ihrer rechten Hand konnte sie sich auf dem Bett abfangen, mit der linken schaffte sie es, das Funkgerät aus der Halterung an ihrem Gürtel herauszuziehen. Schnell warf sie es unter das Bett. Supulev hatte sie derweil von hinten umklammert. Sein linker Arm umfasste ihren Oberkörper. Dabei drückte er so fest zu, dass Maria einen stechenden Schmerz in den Brüsten verspürte. In seiner rechten Hand befand sich eine Zahnbürste. Die Borsten waren abgeflammt, und stattdessen klemmte im Plastik die Rasierklinge aus dem Einwegrasierer. Sie konnte das Wort HASS auf seinen Fingern eintätowiert lesen. Langsam näherte sich diese Hand ihren Augen, um dann blitzschnell nach unten zu verschwinden. Er drückte ihr die Klinge an den Hals. Sein fürchterlicher Atem, eine Mischung aus Zigaretten, Alkohol und verfaulten Zähnen, drang in Marias Nase. Der Gestank in Verbindung mit seinem Körpergeruch war kaum zu ertragen. Bilder einer Vergewaltigung jagten durch ihren Kopf. Nur nicht panisch werden, ruhig bleiben. Sie atmete bewusst tief durch und entspannte ihren Körper. Gegenwehr war eindeutig zwecklos.
»Hey, Supulev, was ist los mit dir?« Sie versuchte, freundlich zu klingen und ihn abzulenken.
Sie spürte seinen feuchten Atem an ihrem Hals. Heiser keuchte er ihr ins Ohr: »Ich bin kein Verräter.«
Maria war bewusst, dass ein Russe womöglich dem Tod geweiht war, wenn er von seinen Landsleuten als Verräter beschimpft wurde.
Maria sprach langsam, um ihn zu beruhigen. Sie zwang sich, locker zu wirken und zählte innerlich die Sekunden, bis die Zentrale sie anfunken würde.
»Mann, Supulev, jeder weiß: Du bist niemand, der mit uns Beamten reden würde. Wo ist dein Problem?«
»Heute in Freistunde hat Kollege gesagt, ich würde mit euch reden. Du weißt, was passiert mit Verrätern bei uns? Sie machen mich tot.
Endlich versuchte die Zentrale, Maria zu erreichen.
»Burg 48 für Burg.« Burg 48, das war Maria. Burg war der Funkname der Zentrale.
Supulev begriff nicht, was gerade ablief.
»Beruhige dich, das können wir klarstellen. Wenn du willst, verlegen wir dich in einen anderen Knast.«
»Was soll das bringen? Du weißt, Saletti, Russenfunk geht von Knast zu Knast. Ich bin noch nicht dort, und alle wissen, Verräter kommt.« Maria wusste das, aber sie hatte gehofft, ihn so zu beruhigen.
»Burg 48 für Burg.« Rolf Kleins Stimme wurde nachdrücklicher.
Maria flehte: »Komm, Supulev, wir beide hatten nie Stress miteinander. Lass uns reden.«
Supulev entspannte sich ein wenig, aber sie spürte weiterhin die Klinge an ihrem Hals.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte sie Rolf Klein durch das Funkgerät rufen: »Alarm auf Station II5. An alle: Alarm auf Station II5!« Ein Ruck durchfuhr Supulevs Körper. Er hatte die Situation erfasst.
»Das ist Scheiße, Saletti. Wenn kommen deine Kollegen, ich mach dich tot.« Mit diesen Worten drückte er die Rasierklinge noch fester an Marias Hals, doch noch ehe er weitermachen konnte, hörten sie hinter sich die Stimme von Jan Gerber. Der Sicherheitsdienstleiter muss sich in der Nähe der Station aufgehalten haben, als der Alarm ausgelöst wurde.
»Jetzt, Maria!«
Das war der Startschuss zur Befreiung. Gerber schlug mit einem Schlagstock exakt auf den Nacken von Supulev. Gleichzeitig konnte Maria ihren rechten Ellenbogen in Supulevs Rippen schlagen und gekonnt nach unten wegtauchen. Sie war der Umklammerung entkommen. Jan ergriff blitzschnell Supulevs rechten Arm, drehte ihn auf den Rücken und drückte ihn nach oben. Supulev schrie vor Schmerz auf, ließ die Zahnbürste fallen, zeigte aber keinerlei Gegenwehr. Maria atmete auf. Die Anspannung wich langsam aus ihrem Körper. Wie konnte das passieren? Wieso war er nicht beim Sport? Hatte er sich beim Ausrücken zur Sporthalle irgendwo versteckt? Das würde sie klären müssen, damit so etwas nie wieder vorkam. Sie hatte das Gefühl, als wiche all ihre Kraft aus ihrem Körper. Schnell hielt sie sich am Stuhl in der Zelle fest. Sekunden später waren im Stationsflur etwa zehn Kollegen aus der Schicht versammelt. Die Schmerzensschreie nutzten Supulev nichts. Gerber und zwei weitere Beamte nahmen ihn in die Mitte und drückten ihn zu Boden. Er wurde peinlich genau abgetastet, und erst nachdem sichergestellt war, dass er nicht noch weitere gefährliche Gegenstände bei sich trug, sagte Jan Gerber:
»Ab mit ihm in die B-Zelle. Und ruft sofort einen Notarzt, die Kollegin ist verletzt.«
Erst da bemerkte Maria, dass ihr Diensthemd blutverschmiert war. Sie stellte sich vor den Spiegel in der Zelle. Aus einer kleinen Wunde an ihrem Hals sickerte Blut. Sofort kam Panik in ihr auf. Wenn die Klinge schmutzig war, hatte sie zwar den Angriff überstanden, aber sich vielleicht mit einer todbringenden Krankheit angesteckt.