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Migratio

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In meiner ersten Klasse am Berufsschulzentrum in Freiberg waren drei junge Männer aus Pakistan, die seit sieben Jahren in Deutschland sind und vier Jahre davon im Asylbewerberheim in der Chemnitzer Straße 50 wohnten. Sie hatten bis dahin keine Möglichkeit, die deutsche Sprache zu erlernen, außer der Aneignung des sogenannten Straßendeutsch, mit dessen Hilfe sie mir von ihrer Reise ins Ungewisse erzählten. Ich erfuhr, dass die Jugendlichen aus relativ wohlhabenden Familien stammen und in ihrem Heimatland große Landflächen besitzen. Asim ist einer von ihnen, der mit den politischen Verhältnissen in seinem Land nicht einverstanden ist. Nach wie vor kommt es seit der Machtergreifung des Reformpolitikers Musharraf zu Übergriffen der Sicherheitskräfte und Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen Bereichen, vor allem gegenüber Inhaftierten, Frauen und religiösen Minderheiten. Um seine Reise nach Deutschland zu finanzieren, hat Asims Familie einen Teil ihres Landbesitzes an einen Onkel verkauft. In unserem reichen Land angekommen, lebt er jetzt seit vier Jahren als Geduldeter im Asylbewerberheim. Sein Taschengeld bessert er sich durch Schwarzarbeit auf mit dem ständigen Risiko, von der Polizei kontrolliert zu werden. Er ist unendlich dankbar, in die Schule gehen zu dürfen, um seine Chance eines dauerhaften Aufenthalts in Deutschland zu erhöhen. Im März erfährt Asim von seiner Hepatitis-Krankheit, die für die anderen Heimbewohner eine Ansteckungsgefahr bedeutet. Für ihn beginnt eine Odyssee, die ihn von Behörde zu Behörde und von einem Arzt zum anderen führt. Sein Hausarzt und die Gesundheitsbehörde werden aktiv und informieren den Heimleiter und die Ausländerbehörde. Eine Vertreterin des Sächsischen Flüchtlingsrates hat sich außerdem darüber informiert, dass Hepatitis C in Pakistan nicht erfolgreich zu behandeln ist, um eine eventuelle Abschiebung des pakistanischen Flüchtlings zu verhindern. Im Juni fahre ich mit Asim nach Chemnitz ins Küchwald-Krankenhaus, wo er sich behandeln lassen muss und im Juli eine längere Therapie zur Überwindung seiner Krankheit beginnt. Ich formuliere für ihn einen Antrag an das Landratsamt für eine Wohnungsberechtigung, der auch bewilligt wird. Zusammen suchen wir im Internet nach einer Wohnung und erkundigen uns bei der Städtischen Wohnungsgemeinschaft in Freiberg danach. Leider haben wir keinen Erfolg, da zurzeit ein Mangel an Einraumwohnungen besteht, die in dem Mietpreislimit von 250 Euro liegen müssen. Überraschend erhält Asim Anfang Juli die Ablehnung seiner Wohnungsberechtigung durch das Landratsamt. Die Odyssee beginnt von vorn. Bei der Suche nach Hilfsangeboten erhält der Jugendliche aus Pakistan den Rat, sich an die damalige Landesvorsitzende der Linken im sächsischen Parlament Cornelia E. zu wenden. Ich formuliere einen Brief mit der Bitte an sie, sich für eine Wohnungsgenehmigung für ihn einzusetzen. Es dauert nicht lange und Asim kann eine Einzimmerwohnung in Brand, einem Ortsteil von Freiberg, beziehen. Nach ein paar Wochen besuche ich ihn dort und er berichtet mir, dass seine Krankheit weitestgehend geheilt ist und er eine Arbeitserlaubnis bekommen hat.

Warum verlassen Menschen ihre Heimat mit dem Risiko, in einem fremden Land nicht willkommen zu sein? Die Antwort ist so einfach und kompliziert zugleich und wird für jeden Menschen anders ausfallen. Einfach deshalb, weil die Menschen schon immer gewandert oder umgezogen sind, ob freiwillig oder unter Zwang. Das Wort „Migration“ stammt von dem lateinischen Wort „migratio“ ab und bedeutet so viel wie „(Aus-)Wanderung, Umzug“. Wenn ich in meinem Bekanntenkreis die Frage nach meiner Tätigkeit damit beantworte, dass ich Migranten unterrichte und betreue, wird oftmals nachgefragt, wodurch diese sich von Ausländern unterscheiden. Und ich erkläre es allgemeinverständlich so, dass ein Ausländer auch ein Urlauber sein kann, ein Migrant aber hier lebt bzw. auf einer Zwischenstation in ein anderes Land ist. Kompliziert zu beantworten ist die Frage nach den Gründen für Auswanderungen, weil sie so unterschiedlich wie die Menschen selbst sind. Der eine wurde in seinem Land aus politischen Gründen verfolgt, er ist ein Asylmigrant, der andere ist ein sogenannter „Konventionsflüchtling“, der in seinem Heimatland aufgrund seiner Rasse, Religion, Staatszugehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe bedroht wird, aber nach dem Grundgesetz nicht asylberechtigt ist. Viele leben in Deutschland auch als „De-facto-Flüchtlinge“, das heißt, sie sind nur geduldet, können aber aus verschiedenen Gründen nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden.

Eine andere Gruppe ist die der Bürgerkriegsflüchtlinge, Kontingentflüchtlinge und heimatlosen Ausländer, die vor allem aus humanitären Gründen aufgenommen werden. Relativ unbürokratisch werden seit 1990 jüdische Flüchtlinge aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion aufgenommen, um sie vor dortigen antisemitischen Übergriffen zu schützen. Dazu kommt eine Zahl von schätzungsweise hunderttausend „illegalen“ Zuwanderern, die in keine dieser Gruppen passen. Unabhängig davon, in welche „Schublade“ sich diese Menschen alle einordnen lassen müssen, gehören sie zu den mehr als 150 Millionen Menschen, die aktuell weltweit als Migrant in einem anderen als ihrem Ursprungsland leben.

Seit Januar 2011 ist Arian, ein Palästinenser aus Syrien, in meiner Klasse. Er lebt seit einigen Monaten in Deutschland und hat acht Geschwister, von denen ein Bruder in Berlin wohnt und die anderen in Syrien zu Hause sind. Seine Adresse ist das Asylbewerberheim in Freiberg, das er aber wie viele seiner Mitbewohner manchmal illegal verlässt, um in einer anderen Stadt zu arbeiten oder Verwandte zu besuchen. Dazu braucht er normalerweise eine Erlaubnis der Ausländerbehörde, umgangssprachlich „Urlaubsschein“ genannt. Wie ich von ihm erfahre, hatte er diesen aber nicht, als er für ein paar Wochen bei seinem Bruder in Berlin war, der dort bei einer GmbH arbeitet. Dort hat er sich einige Euro verdient, um seinen Rechtsanwalt zu bezahlen, der ihm bei der Durchsetzung seiner Aufenthaltsgestattung in Deutschland helfen soll. Bisher besitzt Arian nur ein sogenanntes Identitätspapier, das ihn zum Aufenthalt in Deutschland berechtigt. In Berlin wurde er bei Kontrollen durch die Polizei erwischt und muss nun eine Strafe von 157 Euro für unerlaubten Aufenthalt außerhalb des Kreises Mittelsachsen bezahlen. Dieses Geld hat er natürlich nicht bzw. kann er nicht mit einem Mal bezahlen, da seine finanziellen Leistungen durch die Ausländerbehörde dafür nicht ausreichen, und das verdiente Geld bekommt ja sein Rechtsanwalt. Arian ist sehr intelligent, er spricht mehrere Sprachen, so außer seiner Muttersprache Arabisch noch Türkisch, Griechisch, Russisch und Englisch. Deutsch kann er ein bisschen sprechen, schreiben und lesen. Aber das Ausfüllen von amtlichen Formularen bzw. Antworten auf Zahlungsaufforderungen fällt ihm schwer, da er ja erst einmal das Amtsdeutsch verstehen muss, worin viele Deutsche ja auch ihre Schwierigkeiten haben. So habe ich für ihn einen Antrag geschrieben, mit der Bitte, den Betrag für die Strafe monatlich in Raten zu 10 Euro zu bezahlen.

Dafür hat er sich mehrmals bedankt und seine Erleichterung über die Verbesserung seiner finanziellen Situation zum Ausdruck gebracht. Für mich war dies eine kleine Mühe, für ihn eine große Hilfe.

Solche Erlebnisse sind für mich wichtig, weil mir eine menschliche Reaktion auf eine Unterstützung wichtiger ist als Geld.

Meine Antwort auf Ihr Buch, Herr Sarrazin

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