Читать книгу Meine Antwort auf Ihr Buch, Herr Sarrazin - Evelyn Kreißig - Страница 13

Verurteilung

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Als meine Großmutter 1997 im Alter von 87 Jahren einen Schlaganfall mit den Folgen einer halbseitigen Lähmung erlitt, nahm ich sie in unser Haus auf und pflegte sie vier Jahre lang. Bis zu diesem Alter führte sie noch ihren eigenen Haushalt und half auch mir bei der Bewältigung meiner häuslichen Aufgaben. Da ihre Wohnung von meiner nicht weit entfernt lag, kam sie fast täglich, um mir die eine oder andere Arbeit rund um das Haus abzunehmen. Oft waren, wenn ich nach der Arbeit nach Hause kam, schon die Betten gemacht, die Wäsche gebügelt oder das Geschirr abgewaschen. Ich erinnere mich noch an die Enttäuschung meiner Großmutter, als wir uns einen Geschirrspüler kauften, da sie befürchtete, jetzt weniger zu tun zu haben. Ihr Leben war fast ausschließlich ausgefüllt durch Arbeit, da sie es von Kindheit an nicht anders kannte. Sich selbst hat sie nur wenig gegönnt und immer zuerst an andere gedacht. Finanziellen Reichtum hat sie nie erlebt, doch an menschlichen Eigenschaften war sie reicher als mancher Bankier, Manager oder Politiker. Eines Tages sitze ich mit ihr wie so oft am Küchentisch, als sie die mehr rhetorische Frage stellt, was wohl mit ihr im Krankheitsfall werden wird. Spontan versichere ich ihr, dass ich sie bei mir aufnehmen und sie, wenn notwendig, pflegen werde. Bis zu dem Tag, der ihr und mein Leben verändern sollte, kamen wir nie wieder darauf zu sprechen. Es war an einem Nachmittag, als ich mit ihr meine jüngste Tochter von der Schule abholte. Meine Oma ging in der Zwischenzeit zum Bäcker, um Kuchen zu holen, den sie so gern aß. In dem Moment, als sie bezahlen wollte, erlitt sie einen Schlaganfall und fiel zu Boden. Da die Verkäuferin sofort die Dringende Medizinische Hilfe anrief, konnte ihr Leben gerettet werden, das von nun an ohne fremde Hilfe nicht mehr möglich war. Es begann eine Odyssee über Krankenhausbesuch, Rehakur in Thüringen bis zu Physiotherapie bei mir zu Hause. Meine Oma war nie eine gläubige Frau, doch in den letzten Wochen und Monaten betete sie häufig und rief nach Gott.

Meine älteste Tochter war gerade ausgezogen, so dass wir ein Zimmer in der oberen Etage frei hatten und meine Oma in unser Haus aufnehmen konnten. Da sie lange Zeit bis über das Rentenalter von damals 60 Jahren hinaus gearbeitet hatte, bekam sie eine relativ hohe Rente und außerdem eine passable Witwenrente. Davon hat sie uns die Pflege bezahlen können und vor allem meiner jüngsten Tochter Sandy immer ein paar Scheine zugesteckt. Während dieser Zeit arbeitete ich verkürzt und war ständig unter Zeitdruck zwischen der Erfüllung meiner beruflichen Pflichten und denen zur Pflege meiner Großmutter. Die Mittelschule meines Wohnortes, in der ich arbeitete, ist nur zehn Minuten Fußweg bzw. zwei Minuten Fahrweg mit dem Auto entfernt, so dass ich schnell von A nach B kam. Persönliche Interessen wie Kino- oder Theaterbesuche, sportliche Aktivitäten wie Joggen, Schwimmen oder Skifahren traten in den Hintergrund, da meine Oma ans Bett und ich dadurch ans Haus gefesselt war.

Wenn ich mich heute recht erinnere, besuchte mein Bruder seine Großmutter während dieser Zeit vier- bis fünfmal. Als sie 2001 starb, bekam ich von ihm vorgeworfen, mich an ihr bereichert zu haben. Und außerdem wäre ich schon immer geldgierig gewesen und habe nur deshalb unsere Großmutter gepflegt.

Eine andere Bemerkung von ihm war die, dass ich sie in einem „Loch“ als Zimmer leben ließ, das einer dringenden Renovierung bedurft hätte. Dafür hätten wir lieber eine Terrasse gebaut und mit Aktien spekuliert. Dieses „Loch“ war allerdings ein ganz normales Zimmer, das wir in dem gleichen Jahr, als meine Tochter aus- und meine Oma einzog, renovierten. Die Telekom-Aktien, die wir damals für 1000 Euro kauften, hatten wir übrigens in den sprichwörtlichen Sand gesetzt.

Vier Jahre hat meine Großmutter nur im Bett gelegen, da sie halbseitig gelähmt war und das Zimmer aus eigenen Kräften nicht verlassen konnte. Einmal pro Jahr haben wir veranlasst, dass sie zur Kurzzeitpflege in ein Pflegeheim kam.

Meine Antwort auf Ihr Buch, Herr Sarrazin

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