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Werte und Tugenden

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Christa ist eine Frau, die in einer einfachen, aber schönen Wohnung lebt und wochenlang ihre Schwester Helga, die wie sie Witwe ist, zu Besuch hat. Es sind zwei Frauen, die gern und viel lachen und aus ihrem Glauben an Gott Kraft zur Überwindung gesundheitlicher Handicaps schöpfen. Für beide zählen in erster Linie innere Werte wie Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit und Zuwendung.

Im Zusammenhang mit dem Begriff „Werte“ fällt mir eine Episode ein, die ich in der Wohnung meines Bruders anlässlich einer Geburtstagsfeier hatte. Man muss wissen, dass mein Bruder ein teures und dank meiner Schwägerin R. sehr geschmackvoll eingerichtetes Haus hat.

An diesem Tag also war auch mein Enkel Moritz dabei und es passierte ihm, dass er mit einem Sofakissen eine Bierflasche vom Wohnzimmertisch warf, die glücklicherweise nicht kaputtging und auch keinen anderen Schaden anrichtete. Meine Schwägerin R. ließ sich nach diesem Vorfall zu der Bemerkung hinreißen: „Nein, diese Werte!“ und hatte nichts Besseres zu tun, als ihrem Mann, der mit anderen Familienmitgliedern im Garten saß, davon zu berichten. Meine jüngste Schwester erzählte mir später, dass sich mein Bruder folgendermaßen lautstark äußerte: „Ich schmeiße diese Familie raus, alle.“ Ich bin eigentlich ein Mensch, der sich nicht so schnell provozieren lässt, es sei denn, ich fühle mich ungerechtfertigt angegriffen. Mir ging diese Situation durch Mark und Bein, weil es sich um meinen Enkel handelte, der mit einem Kissen warf, weil sich wahrscheinlich niemand mit ihm beschäftigte. Meine Reaktion auf die Werteäußerung meiner Schwägerin war sicher auch nicht die feine Art, doch es platzte einfach aus mir heraus: „Die muss doch eine Schraube locker haben!“ Sie hat es allerdings nicht gehört, da sie nicht mehr im Zimmer war.

Ich muss heute noch über die Banalität dieser Situation lachen, und für die anderen Familienmitglieder ist der „Wertesatz“ meiner Schwägerin längst Kult geworden und wird bei jeder sich passenden Gelegenheit ins Gespräch geworfen. Meine Schwägerin arbeitet übrigens in einer Schraubenfabrik. Eigentlich entspricht diese Art verbaler Äußerungen nicht meinem Niveau, da ich eher ein harmoniebedürftiger Mensch bin. Aber diese Reaktion hat mich so beschäftigt, weil es um meinen Enkel Moritz ging, der damals drei Jahre alt war.

Heute ist meine Schwägerin auch Oma und ich wünsche ihr nicht, dass ihre Enkel nur in der Sofaecke sitzen und keinen Dreck machen, denn was wären das für Kinder?

Herr Sarrazin, in Ihrem Buch schreiben Sie, dass wir aus der Glücksforschung wissen, „dass der Mensch dazu neigt, die Glück stiftende Wirkung materieller Güter zu überschätzen und die Glück fördernde Wirkung sozialen Austauschs oder produktiver Tätigkeit zu unterschätzen. Er neigt also dazu, das Haben über das Sein zu stellen. Dabei erwächst das Glück, das die materiellen Güter jenseits des absoluten Mangels spenden, weniger aus dem absoluten Versorgungsniveau als aus der durch den Versorgungsgrad ausgedrückten Rangposition gegenüber anderen.“ (S. 169)

Dem stimme ich vorbehaltlos zu und betrachte es als Entschuldigung für die Überreaktion meiner Schwägerin. An anderer Stelle sagen Sie: „Das Reich der Arbeit ist das Reich der Sekundärtugenden: Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Genauigkeit, Ordnungsliebe, Frustrationstoleranz, Ein- und Unterordnung.“ (S.170)

Ich muss ehrlich sagen, dass ich niemanden kenne, der alle diese Eigenschaften besitzt. Und wenn ich an die Schüler des Förderschulteils am BSZ in Freiberg denke, dann sehe ich schwarz für die Zukunft Deutschlands in Bezug auf die von Ihnen formulierte Schlussfolgerung, „dass die Sekundärtugenden für jede Art von nachhaltiger Leistung, gerade auch der kreativen Leistung, unerlässlich sind.“ Meinen Kinder habe ich versucht, diese Sekundärtugenden anzuerziehen und bin mir sicher, dass mir das zum großen Teil auch gelungen ist.

Meine älteste Tochter Kristina arbeitet zum Beispiel als Berufsschullehrerin, meine mittlere Tochter Anett ist selbstständige Firmeninhaberin und meine jüngste Tochter Sandy studiert an der Berufsakademie in Plauen Gesundheits- und Sozialmanagement. Von Sozialleistungen musste ich zum Glück noch niemals leben und wünsche mir auch, es nie zu müssen. Meine Arbeit als Lehrerin für Deutsch als Zweit- bzw. Fremdsprache macht mir sehr viel Spaß, weil ich täglich mit Menschen arbeite, die von mir etwas erwarten, sei es die Vermittlung von Sprachwissen oder Unterstützung bei der Bewältigung ihrer Alltagsprobleme. Das Feedback spüre ich noch am selben Tag und ich kann mich motiviert auf den folgenden Unterricht vorbereiten.

Natürlich gibt es auch jugendliche Migranten, die dem Unterricht aus verschiedenen Gründen tagelang fernbleiben oder ihn sogar unterbrechen. Khaled zum Beispiel ist ein halbes Jahr nicht erschienen, weil er, wie er sagt, lange krank war und außerdem in einer anderen Stadt gewesen ist. Er gestand mir, dass er es sehr bereut, die Schule nicht trotzdem fortgesetzt und die Prüfung nicht gemacht zu haben. Jetzt hat er das Problem, dass er schon 26 Jahre alt ist und die Altersgrenze für Kursteilnehmer zurzeit bei 25 Jahren liegt. Seine Hoffnung besteht in einer Ausnahmeregelung, die in der Bildungsagentur erteilt werden muss. Oder Ali aus dem Libanon, der die Mittelschule besucht und öfter keinen Bock auf Schule hat. Er lebt mit seiner Mutter seit zwei Jahren im Asylbewerberheim und hat wie auch seine Mutter wenig Aussicht, eine Aufenthaltsgestattung zu bekommen.

Wenn ich Besuche bei Heimbewohnern mache, treffe ich manchmal mit seiner Mutter zusammen, die kaum Deutsch spricht, es aber unbedingt lernen möchte. Sie verdeutlichte mir, dass sie nur einmal in der Woche bei einer Lehrerin Unterricht in der deutschen Sprache bekommt und das sei zu wenig. Ich kann ihr leider nicht helfen, wie auch einem 35-jährigen Mann aus dem Iran, dem es genauso ergeht. Muchtar hat einen Bruder, der ein gutgehendes Geschäft in Freital besitzt und sehr gut Deutsch spricht. Dieser ist sehr daran interessiert, seinem Bruder zu helfen, damit auch er sich eine Zukunft in Deutschland aufbauen kann.

Zeitweise habe ich Muchtar sogar in den Ferien Privatunterricht gegeben. Doch da ihm das Lernen nicht gerade leicht fällt, hat er bald aufgegeben und fristet nun weiterhin sein beschäftigungsloses Dasein zwischen seinem Leben im Heim und der Wohnung seines Bruders in Freital.

Meine Antwort auf Ihr Buch, Herr Sarrazin

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