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Flüchtlinge

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An einem Vormittag im April war Rohan, der vor vier Jahren aus Pakistan nach Deutschland gekommen war, zu Besuch in der Schule. Er ist ein intelligenter junger Mann, der in seinem Heimatland mit einem Biologiestudium begonnen hat, das er in Deutschland fortsetzen wollte. Da er jedoch nur den Aufenthaltsstatus einer Duldung besitzt, ist das nicht möglich und er muss in einem Dönerladen als „Mädchen für alles“ arbeiten. In seiner Freizeit geht er in ein Fitnessstudio oder beschäftigt sich mit seiner 15-monatigen Tochter, die er zusammen mit einer deutschen Frau hat.

Jetzt träumt er von einer gemeinsamen Zukunft mit der Mutter seiner Tochter, die er heiraten möchte und mit der er in eine Wohnung in einem Nachbarort von Freiberg ziehen will. Leider hat er den Deutschkurs vorzeitig abgebrochen, weil er viele persönliche Dinge in Zusammenhang mit seiner Aufenthaltsgestattung zu regeln hatte. Ich ermöglichte es ihm allerdings, die Prüfung am Anfang des Schuljahres 2008/09 nachzuholen, die er mit der Note „zwei“ bestand. Leider bekam er aber nachträglich kein Zeugnis, da er zu dem regulären Prüfungstermin im Juni nicht erschienen war. Ich traue ihm ohne weiteres zu, aufgrund seines Wissens und seiner Fähigkeiten ein deutsches Abitur zu machen und zu studieren.

Eines Tages besuche ich Rohan in seiner Wohnung, wo ich auf seinen Landsmann Bara treffe. Er erzählt mir seine spektakuläre Flucht von Pakistan nach Deutschland:

„Es ist das Jahr 2006. Das Flugzeug landet in Nishninowgorod, wo ich mich mit einem Landsmann als Student anmelde und zwei Tage dorthin gehe. Dort wollen wir jedoch nicht bleiben und wir machen einen Fluchtplan. Wir rufen einen Mann aus Pakistan an, der uns für unser restliches Geld ein Zugticket nach Moskau besorgt, wo wir acht Stunden später ankommen. Als wir aus dem Zug aussteigen, werden wir sofort gefangen genommen und müssen mit 60 weiteren Flüchtlingen in einem Zimmer von ca. 10-12 qm Größe zubringen. Nachts liegen wir dicht nebeneinander und können uns kaum bewegen. Zu essen bekommen wir jeden Tag eine kleine Menge Reis. Nach 52 Tagen kommt ein LKW mit einer Ladung Kartoffeln und Zwiebeln. Wir werden mit 14 Leuten in den hinteren Teil gepfercht und kommen 30 Stunden später mit einer Pause von ca. fünf Minuten in Weißrussland an. Dort warten bereits 14 Männer und eine halbe Stunde später kommt ein kleines Auto, in das acht pakistanische und acht indische Männer einsteigen sollen. Nach einer Stunde ist die Fahrt zu Ende und zwei Soldaten fordern uns auf, auszusteigen und schnell zu laufen. Ein Mann kann nicht mehr, weil er starke Bauchschmerzen hat. Um ihn anzutreiben, wird er mit einer großen Holzstange in die Bauchgegend geschlagen. Da er nicht mehr gehen kann, müssen ihn zwei Männer tragen. Nach drei Stunden Fußmarsch kommen wir an einen Teich mit schwarzem, schmutzigem Wasser, durch den wir neun bis zehn Stunden laufen müssen. Insgesamt sind es jetzt 72 Menschen, die zusammengekommen sind. Nach einer Weile sollen alle kurz untertauchen, um nicht entdeckt zu werden. Ein Mann spuckt Blut und wird abwechselnd von sechs Leuten getragen. Wer nicht mehr laufen kann oder will, wird brutal geschlagen. Nach fünf Stunden kommt ein großes Armeeauto, in das alle einsteigen müssen. Der kranke Mann muss Wasser lassen und bekommt eine leere Colaflasche, die er zu diesem Zweck benutzen soll. Als diese jedoch voll ist, hört der Strahl nicht auf, da wahrscheinlich seine Blase geplatzt ist. Wir sollen den Mann zurücklassen, was jedoch niemand will. Seine Kraft ist am Ende, trotzdem bekommt er unaufhörlich die Holzstange zu spüren. An einer Bahnschiene angekommen, sagt man uns, dass hier die Grenze zwischen Russland und der Ukraine verläuft. Wir weigern uns, die zwei Kranken in Russland zu lassen und bezahlen 400 Euro für ihre weitere Mitnahme. Inzwischen kommt ein weiteres Auto, in dem nacheinander 16 Leute transportiert werden. In einem kleinen Dorf angelangt, bleibt das Auto plötzlich im Schlamm stecken und alle, außer den Kranken, müssen schieben. Die meisten Flüchtlinge haben keine Haare, keine Schuhe oder nur einen Schuh. Wieder führt uns unser Marsch durch Wasser, das sich unter einer Brücke befindet und uns bis zur Gürtelhöhe reicht. Den Schmutz kann ich ein halbes Jahr nicht abwaschen, so hat er sich an meinem Körper festgefressen. Die Schleuser lassen uns jetzt allein und geben uns ein Handy, auf dem wir angerufen werden sollen. Drei Stunden vergehen, ohne einen Anruf zu erhalten, der uns über unseren Weitertransport informieren soll.“

Die Odyssee der Flucht ging wochenlang weiter, bis der Zielort Deutschland erreicht wurde. Diese Angaben sind alle bei den entsprechenden Behörden schriftlich niedergelegt. Ich kenne Bara und lernte ihn als einen liebenswerten jungen Mann kennen, der in Deutschland nur eins will: ein besseres Leben als das in seinem Heimatland. Noch immer hat er nur den Aufenthaltsstatus einer Duldung. Das heißt, seine Abschiebung wurde vorübergehend ausgesetzt und er darf den Landkreis Mittelsachsen nicht ohne triftigen Grund verlassen. Damit besitzt der junge Mann aus Pakistan keinen rechtmäßigen Aufenthaltstitel, der u. a. keine Arbeitserlaubnis enthält. Mit dem Risiko einer Strafanzeige, die seine Abschiebung zur Folge haben kann, arbeitet er dennoch in der Firma seines Bruders.

Auch Bilal ist aus Pakistan, der sich in vier Jahren seines Aufenthalts in Deutschland schnell einen umfangreichen deutschen Wortschatz angeeignet hat. Er hat zwei Brüder und zwei Schwestern, sein Vater ist nach einem Arbeitsunfall gestorben. Im vorigen Jahr hat Bilal eine russische Spätaussiedlerin geheiratet, die zwei Kinder mit in die Ehe gebracht hat. Zu der Hochzeit mit ca. zehn Gästen war ich auch eingeladen und erlebte, wie man auch mit bescheidenen finanziellen Mitteln ein schönes Fest organisieren kann.

Meine Antwort auf Ihr Buch, Herr Sarrazin

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