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1.2.1 Mentalität im Sinne der historischen Mentalitätsforschung
ОглавлениеIn der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts richtete sich das Interesse der Historiker zunehmend auf die konkreten Lebensumstände der Menschen in dem Zeitalter, das sie erforschen wollten (vgl. Burguière 2006: 13). Das Forschungsinteresse der Geschichtswissenschaft fokussierte somit wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte. Alltagsgeschichte, Mikrogeschichte, Kulturgeschichte, Mentalitätsgeschichte und Diskursgeschichte erfuhren innerhalb des Fachs eine Aufwertung. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit mentalitätsgeschichtlichen Aspekten beschränkte sich allerdings zunächst auf den französischen Raum. Auch der wissenschaftliche Terminus mentalité etablierte sich vorerst nur dort (vgl. Chartier 1987: 69).1 Ende der siebziger Jahre wurde die Mentalitätsgeschichte dann auch im deutschsprachigen Raum rezipiert (vgl. Spitzmüller 2005: 56f.). Mentalität ist als ‚Suchbegriff’ zu verstehen (vgl. Hermanns 1995: 73). Bei der Erforschung historischer Ereignisse und Vorgänge soll auch das spezifische Denken der Zeit, welches die menschlichen Handlungen prägte, mitberücksichtigt werden (vgl. ebd.; Küçükhüseyin 2011: 22). Le Goff erklärt, dass
der anfängliche Reiz der Mentalitätsgeschichte gerade in ihrer Unschärfe und in ihrem Anspruch [bestand], den Bodensatz der historischen Analyse, jenes ‚Irgendwo auch’ der Geschichte, ausfindig zu machen (vgl. Le Goff 1987: 18).
Um eine klare Definition von Mentalität formulieren zu können, ist es wichtig, das wissenschaftliche Verständnis des Begriffs klar vom umgangssprachlichen abzugrenzen. Umgangssprachlich bedeutet Mentalität eine „[…] besondere […] Art des Denkens oder Fühlens eines einzelnen Menschen, einer sozialen Gruppe oder eines Volkes […]“ (vgl. Scharloth 2000: 42; 2005b: 44).2 Hervorgehoben werden demnach die charakterlichen Eigenarten eines Menschen, einer sozialen Gruppe oder eines Volkes (vgl. Scharloth 2005a: 120). In der Geschichtswissenschaft wird der Begriff jedoch anders verstanden. Mentalitäten bezeichnen hier die üblichen Denkweisen. Dinzelbacher (1993) definiert das Verständnis des Begriffs aus Sicht der Mentalitätsgeschichte wie folgt:
Historische Mentalität ist das Ensemble der Weisen und Inhalte des Denkens und Empfindens, das für ein bestimmtes Kollektiv in einer bestimmten Zeit prägend ist. Mentalität manifestiert sich in Handlungen (Dinzelbacher 1993: XXIV; Hervorh. im O.).
Die Definition von Dinzelbacher hat sich in der Mentalitätsgeschichte etabliert. Sie deckt sich mit der von Fritz Hermanns (vgl. 1995: 77), die hier an zweiter Stelle angeführt wird, da der Sprachwissenschaftler einen bedeutenden Beitrag zur Übertragung des Mentalitätsbegriffs und der damit verbundenen Konzepte in die Linguistik leistete:3
Eine Mentalität im Sinne der Mentalitätsgeschichte ist, so hat es sich ergeben: 1.) die Gesamtheit von 2.) Gewohnheiten bzw. Dispositionen 3) des Denkens und 4.) Fühlens und 5) Wollens oder Sollens in 6.) sozialen Gruppen (ebd.).
Beide Definitionen weisen Parallelen zum Begriff der sozialen Einstellung auf. So meint Hermanns (2002: 81), dass „[e]ine Mentalität […] die Gesamtheit aller usuellen Einstellungen in einer sozialen Gruppe“ (2002: 81) sei und „[…] insofern […] die Mentalitätsgeschichte auch und insbesondere als Geschichte von sozialen Attitüden“ zu verstehen sei (1995: 77f.). Scharloth (2000: 45) bezieht sich auf Sellin (1985) und meint: „Die Gesamtheit der kollektiven Einstellungen konstituiert danach die gruppenspezifische Mentalität.“4 Ich teile Hermanns (2002: 81) Sicht nicht, wenn er meint, die Mentalitätsgeschichte lasse „sich ohne weiteres ersetzen durch die schlichtere Bezeichnung ‚Einstellungsgeschichte’.“ Der Mentalitätsbegriff erfasst viel deutlicher den kollektiven Wissensbestand, dieses Denken-wie-üblich und das damit verbundene Handeln-wie-üblich innerhalb einer Gesellschaft, als der Begriff der Einstellung.5 So hat der Mentalitätsbegriff eine Doppelstruktur; er ist zugleich Gewohnheit und Disposition. In der historischen und linguistischen Forschung führt dies einerseits zu Arbeiten, die mit einem engen, kategorial-epistemischen Mentalitätsbegriff arbeiten und andererseits zu Anwendungen eines weiten, substanziellen Mentalitätsbegriffs (vgl. Scharloth 2005a: 121). Arbeiten, die einen substanziellen Mentalitätsbegriff applizieren, versuchen das Alltagswissen zu erfassen, suchen nach den Inhalten des üblichen Denkens (vgl. ebd.). Kategorial-epistemische Arbeiten versuchen die kollektiven Weisen der Wissensverarbeitung und der Wissensorganisation zu erschließen (vgl. ebd.). Mentalitäten sind vielschichtiger als kollektive Einstellungen und scheinen diesen konzeptuell übergeordnet zu sein. Sie werden empirisch anhand von Einstellungsäußerungen sichtbar.6 Ich betrachte kollektive Einstellungen also in gewisser Weise als Teilmengen von Mentalitäten.7
Der Einfluss des Mentalitätenwissens auf das individuelle Handeln variiert. Es ist in jeweils unterschiedlichem Ausmaß eine Hilfe bei der Entscheidung, wie man sich in diversen sozialen Situationen zu verhalten hat (vgl. Dinzelbacher 1993: XXIX). So stellt es beispielsweise abrufbare Informationen darüber bereit, ob bestimmte Handlungen in der Gesellschaft erwünscht sind. Mentalität ist, in Anlehnung an Lucien Febvre, ein outillage mental und beinhaltet als solches „die Summe der Orientierungsangebote, die in einem Kollektiv jeweils aktuell sind“ (vgl. ebd.: XXIXf.). Der Einzelne ist nicht nur Träger einer Mentalität mit einer Summe x an Orientierungsangeboten des kollektiven Denkens, Fühlens, Sollens und Wollens, sondern ist Träger von multiplen Mentalitäten mit multiplen Orientierungsangeboten und Deutungsmöglichkeiten, die in unterschiedlichem Ausmaß genutzt werden. Somit greift jeder Mensch nicht nur auf das in einer Mentalität gespeicherte Wissen zurück, „Mentalitäten gibt es nicht nur auf einer Komplexitätsebene, in einer bestimmten Konsistenz und immer denselben Ausdrucksformen“, sondern auf eine Vielzahl, die auf den verschiedenen Ebenen des sozialen Zusammenlebens entstehen (Kuhlemann 1996: 183). Da das Individuum in einer Pluralität von Mentalitäten denkt, benutze ich Mentalität auch stets im Plural. Je nach Situation werden jeweils andere Mentalitätenebenen aktiviert. Die Komplexität von Mentalitäten und die Reichweite ihrer Handlungsvorlagen werden anhand des Mehrebenenmodells von Kuhlemann (vgl. 1996: 193f.) verständlich. Dieser unterscheidet drei aufeinander bezogene Mentalitätenebenen:
Totalmentalität: die epochalen, mehr oder weniger von allen Zeitgenossen (weltweit oder eines Kulturraumes je nach Forschungsperspektive) geteilten Einstellungen und Selbstverständlichkeiten.
Makromentalitäten (Großgruppenmentalitäten): betrifft die Mentalität(en) größerer je nach Forschungsperspektive umgrenzter Kollektive (Nationen, Gesellschaften, Konfessionsgruppen …).
Innerhalb der Makromentalitäten können weitere Partikular- bzw. Mikromentalitäten unterschieden werden (etwa Mentalitäten der Inner- oder Teilgesellschaft: Familie, Schule, Peergroup, Partei …) (vgl. ebd.; vgl. Spitzmüller 2005: 60).
Wichtig ist in Bezug auf Mentalitäten von dieser Mehrebenenstruktur auszugehen. Die vorliegende Arbeit richtet sich in erster Linie auf die Ebene der Großgruppenmentalität, berücksichtigt aber immer auch das bestehende Interdependenzverhältnis zwischen den einzelnen Mentalitätenebenen. Der Versuch von einer isolierten Kultur auszugehen und diese mit dem Staat (der Nation) Luxemburg gleichzusetzen, würde die Realität verkennen – gerade in einer Gesellschaft, die von Mehr- und Interkulturalität im besonderen Maße geprägt ist. Darüber hinaus muss nicht darauf hingewiesen werden, dass die Bevölkerung eines jeden Landes, als Teilgemeinschaft einer globalisierten Welt, in einer Pluralität von Mentalitäten denkt.
Menschen unterscheiden sich voneinander. Sie handeln schon aus diesem Grund unterschiedlich und interpretieren Situationen jeweils anders (vgl. Spitzmüller 2005: 59). Trotzdem ist vieles, was als eine individuelle Meinungsäußerung ausgesprochen wird, im Grunde genommen gesellschaftlich (vgl. Rehbein 2011: 97). Mit Bourdieu ist jedes Individuum immer schon gesellschaftlich gewesen (s. a. ebd.: 87 vgl. Krais/Gebauer 2002: 66,). „Was tue ich, was kein anderer Mensch tut?“ und „Was tue ich, was ich nirgendwo erfahren oder gelernt habe?“, fragt Rehbein (2011: 97).
Gegenstand dieser Arbeit ist ein spezifischer Teilbereich von kollektiven Wissens- und Handlungsvorgängen, nämlich diejenigen, die sich auswirken auf die Bewertungen, die Funktionen und die Positionen, die den Sprachen in Luxemburg und der deutschen Sprache im Besonderen zugeschrieben werden. ‚Mentalität’ als Schlüsselelement der Untersuchung erlaubt es eine Brücke zwischen Wissen und Verhalten herzustellen. Die Sozialpsychologie betrachtet den Einfluss von Einstellungen auf das Verhalten kritisch (vgl. Scharloth 2000: 45). Eine eingehendere Betrachtung des sozialpsychologischen Konzepts der Einstellung kann Auskunft darüber geben, inwieweit Mentalitäten tatsächlich in das Handeln des Einzelnen einfließen.