Читать книгу Deutsch in Luxemburg - Fabienne Scheer - Страница 19
2.3 Äußerungen, Aussagen, Mentalitäten
Оглавление„Wir müssen uns nicht einbilden, dass uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet, welches wir nur zu entziffern haben“ (Foucault 1974/2007: 34).
Mit Foucault kann davon ausgegangen werden, dass ein als ‚Diskurs über die deutsche Sprache in Luxemburg’ re-konstituiertes Formationssystem, Einblicke in das ‚Spiel der Regeln’, in die Mentalitäten, in die Wissenssegmente verschafft, die in dieser Diskursgemeinschaft darüber befanden und befinden, welche Bedeutung der deutschen Sprache in verschiedenen Teilbereichen der luxemburgischen Gesellschaft zugestanden wird und über die Bedeutung und Funktionen von Sprache(n) entscheiden. Dieses Formationssystem, das man sich als „Fluss von Wissen durch die Zeit“ vorstellen kann, wird nur über seine Spuren, über die Äußerungen der jeweiligen Diskursteilnehmer, für eine Analyse zugänglich. Selbstverständlich umfasst es mehr als sprachliche Äußerungen und mehr als solche Äußerungen, in denen es explizit um die deutsche Sprache in Luxemburg geht. Denn Sprache hat nicht nur dort Bedeutung oder keine Bedeutung, wo man sich explizit auf sie bezieht. Ein erster Schritt wird darin bestehen, sämtlichen Hinweisen nachzugehen, die Informationen über dieses Mentalitätenwissen liefern, das bestimmt in welcher Sprache vorzugsweise geredet wird, welches Sprachwissen gefordert ist und welche Denkmuster an Sprache geknüpft werden.
Wer die Wissenssegmente aufspüren wolle, die über ein bestimmtes Thema in einer gegebenen Gesellschaft bestünden, müsse den Diskurs begreifen als das, was er sei, nämlich eine Menge von verstreuten Ereignissen, so Foucault (vgl. ebd.: 894). Ereignisse sind hier ganz allgemein Tatsachen, die ihren Ausdruck in Äußerungen finden (vgl. Jäger/Zimmermann 2010: 30). Die Unterscheidung zwischen Äußerungen (énonciations) und Aussagen (énoncés) ist bei Foucault zentral und wichtig für die methodische Vorgehensweise in diesem Buch.
Die Äußerung ist ein einmaliger Vorgang, der sich nicht wiederholt. Es ist ein Geschehnis mit spezifischen räumlichen, zeitlichen und personalen Koordinaten (vgl. Foucault 1981/2013: 148; Maingueneau 2000: 15). Wenn sich sprachliche Äußerungen, die im Geflecht diskursiver Beziehungen1 fallen, einer besonderen Funktion zuordnen lassen, und dementsprechend für die Wissensordnung eines Diskurses relevant werden, dann erlauben sie als sprachliche Manifestation Rückschlüsse auf die Aussagen, bzw. Wissenssegmente, ebendieses Diskurses:
Ganz allgemein kann man sagen, dass eine Sequenz von sprachlichen Elementen eine Aussage nur dann ist, wenn sie in ein Aussagefeld eingetaucht ist, wo sie dann als ein besonderes Element erscheint (Foucault 1981/2013: 144; eigene Hervorh.).
Keller (2011: 234) definiert die Aussage in Anlehnung an Foucault als „der typisierbare und typische Gehalt einer konkreten Äußerung bzw. einzelner darin enthaltener Sprachsequenzen, der sich in zahlreichen verstreuten Äußerungen rekonstruieren lässt“. Die Aussage ist gewissermaßen die Quintessenz, die in der Äußerung, dem Satz, Satzteil, Text, Textteil, in den Textbeziehungen, im Wort stecken kann, hinter ihnen waltet und sie verwaltet – kurz die Funktion(-en), die die sprachlichen Einheiten übernehmen (vgl. Busse 2013: 164).
Es handelt sich weniger um […] einen auf einer bestimmten Ebene der Analyse feststellbaren Ausschnitt, es handelt sich vielmehr um eine Funktion, die in Beziehung zu diesen verschiedenen Einheiten sich vertikal auswirkt und die von einer Serie von Zeichen zu sagen gestattet, ob sie darin vorhanden sind oder nicht. […] [S]ie [Anm. die Aussage] ist eine Existenzfunktion, die den Zeichen eigen ist und von der ausgehend man dann durch die Analyse sagen kann, ob sie einen ‚Sinn ergeben’ oder nicht, gemäß welcher Regel sie aufeinanderfolgen und nebeneinanderstehen, wovon sie Zeichen sind und welche Art von Akt sich durch ihre (mündliche oder schriftliche) Formulierung bewirkt findet. Man braucht also nicht zu staunen, dass man für die Aussage keine strukturellen Einheitskriterien gefunden hat. Das liegt daran, dass sie in sich selbst keine Einheit ist, sondern eine Funktion, die ein Gebiet von Strukturen und möglichen Einheiten durchkreuzt und sie mit konkreten Inhalten in der Zeit und im Raum erscheinen lässt (Foucault 1981/2013: 126; eigene Hervorh.).
Foucault bezeichnet die Aussagen auch als die „Atome des Diskurses“ (Foucault 1969/2013: 117). Sie sind die diskursbestimmenden und handlungssteuernden Wissenssegmente eines bestimmten Diskurses und werden analysierbar, wenn sie in Form von mündlichen oder schriftlichen Formulierungen zu einer Äußerung werden:
Die Aussagenanalyse kann niemals sich auf etwas anderes beziehen als auf gesagte Dinge, auf Sätze, die wirklich ausgesprochen oder geschrieben worden sind, auf Bedeutungselemente, die geschrieben oder artikuliert worden sind – und genauer auf jene Besonderheit, die sie existieren lässt […] (Foucault 1981/2013: 159).
Die Diskursanalyse analysiert dementsprechend die Möglichkeitsbedingungen für Äußerungen und deren Gestalt. Sie untersucht, warum etwas genau so und nicht anders gesagt wurde, welche Funktion eine Äußerung hat, welchem Aussagesystem sie gehorcht und was sie für den Diskurs bzw. für das Wissen über ein Thema bedeutet. Damit gelangt die Analyse zu den zentralen Aussagen, zu den Wissens- und Denkmustern, eines Diskurses. Man kann in Bezug auf Aussagen durchaus von Denk- und Handlungsmustern sprechen, schließlich betont Foucault, dass ein Kennzeichen der Aussage ihre Wiederholbarkeit sei (vgl. ebd.: 149). Wenn eine Aussage einen bestimmten Diskurs kennzeichnet, wird sie reproduziert werden. Foucaults Aussagenbegriff erscheint Angermüller (2007: 65) wie „eine Art Zwitter von Sprechakt und wiederholbarem Zeichen zu sein.“ Einerseits wird der Handlungscharakter der Aussage betont: die Aussage ist ein Fakt, hinterlässt Spuren im Diskurs und bestimmt das kollektive Wissen im Diskurs nachhaltig, konstituiert es und schreibt es weiter. Andererseits wird die Beständigkeit von Aussagen herausgestellt: als wiederkehrendes Zeichen verweist die Aussage auf anhaltende Denkmuster in einer Gesellschaft. Solche habituellen Muster des Denkens und Handelns wurden zuvor als Mentalitäten definiert.2
Die diskursive Praxis ist im Grunde genommen die Art und Weise, wie der Diskurs funktioniert bzw. funktionieren darf. Sie wird mit dem Vorwissen der Diskursteilnehmer fortgeführt und durch die Progression des Diskurses gefestigt oder verändert:
Sie [Anm.: die diskursive Praxis] ist eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierenden Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben (Foucault 1981/2013: 171).
Die Rolle, die eine Aussage in einem Diskurs einnimmt oder einnehmen darf, ihr „Anwendungsfeld“ und ihre Gültigkeit, können sich mit der Zeit verändern (vgl. ebd.: 150; 152). Der Status ‚diskursbestimmende Aussage’ „ist nie definitiv, sondern modifizierbar, relativ und kann immer in Frage gestellt werden“, schreibt Foucault (ebd.: 149).
Ein Mentalitätenwandel findet dementsprechend selten übergangslos statt und setzt dann auch nicht alle diskursiven Regeln und Verhaltensmuster auf einmal außer Kraft (vgl. Wengeler 2003: 65).3 Vielmehr werden einige Aussagen gefestigt, andere verändern sich, verlieren an Gültigkeit oder bleiben davon gänzlich unberührt. So zeigt sich die Beständigkeit von bestimmten Denkweisen darin, dass sie über einen längeren Zeitraum hinweg im Diskurs als Argumentationsmuster toleriert werden und in verschiedenen Äußerungen angebracht werden, um Positionen darzulegen (ebd.). Veränderungen in der Argumentation der Diskursteilnehmer deuten auf einen Wandel des Mentalitätenwissens hin. Dieser Wandel ist oft die Folge von so genannten diskursiven Ereignissen, die den einzelnen bei seiner routinemäßigen Einordnung in ein habituelles Bezugsschema stutzig werden und ihn über eine Neuauslegung des Mentalitätenwissens nachdenken lassen (vgl. Schütz/Luckmann 2003: 38f.). Foucault selbst definiert diskursive Ereignisse als Zäsuren, welche die bestehenden Wissenssegmente infrage stellen:
Wenn die diskursiven Ereignisse in homogenen, aber zueinander diskontinuierlichen Serien behandelt werden müssen – welcher Status ist dann diesem Diskontinuierlichen zuzusprechen? Es handelt sich dabei ja nicht um die Aufeinanderfolge der Augenblicke der Zeit und nicht um die Vielzahl der verschiedenen denkenden Subjekte. Es handelt sich um die Zäsuren, die den Augenblick zersplittern und das Subjekt in eine Vielzahl möglicher Positionen und Funktionen zerreißen (Foucault 1974/2007: 37; eigene Hervorh.).