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2 Herausbildung und Bestand eines domänenspezifischen Sprachgebrauchs

Soziolinguistische Ansätze: Diglossie, Bilingualismus, Domäne

Die Bevölkerung, die 1839 nach dem Wegfall des wallonischen Sprachgebiets übrigblieb, sprach einen moselfränkischen Dialekt. Ihr wurde beigebracht, sich schriftlich nicht im Dialekt, sondern auf Hochdeutsch und Französisch zu äußern und ganz allgemein für formelle Kontexte eher die Standardsprachen und vorzugsweise die französische Sprache zu benutzen. Aufgrund der historischen Entwicklungen hat sich, mithilfe des Bildungssystems, eine Dreisprachigkeit (Deutsch-, Französisch- und Luxemburgischkenntnisse) entwickelt. Diese drei Sprachen werden nicht willkürlich, sondern nach bestimmten Regeln eingesetzt. Solange das Land nicht durch jene verstärkte Immigration gekennzeichnet war, die es gegenwärtig erfährt, konnte das Sprachverhalten der Bevölkerung relativ einfach entschlüsselt und beschrieben werden: Luxemburgisch wird in der mündlichen Interaktion zwischen Luxemburgern verwendet, Deutsch und Französisch teilen sich die schriftsprachlichen Domänen (vgl. Gilles 2009: 187; Gilles 2011: 43). So schreibt Hoffmann (1996: 107), dass das Besondere an der luxemburgischen Sprachensituation seit jeher „in the discrepancy between oral and written modes of communication“ liege und Horner (2004: 1) argumentiert in ihrer Dissertation:

The spoken/written distinction has always been pivotal to understanding language use in Luxembourg, with spoken functions being dominated by the use of Luxembourgish and written functions carried out primarily in French and German.

Dieses ‚Sprachhandlungswissen’, das von der Sprachgemeinschaft geteilt wird, kann soziolinguistisch als diglossisch, bzw. aufgrund der drei Sprachen Luxemburgs, als triglossisch bezeichnet werden. Das Diglossie-Konzept geht zurück auf Charles A. Ferguson (1959) und wurde anschließend mehrfach erweitert und verändert. Ferguson beobachtete, dass in Sprachgemeinschaften in manchen Situationen die Non-Standard-Varietät erwünscht ist und in anderen Situationen eine ihr übergeordnete standardisierte Varietät (vgl. Dittmar 1997: 139). Die Non-Standard-Varietät bezeichnete er als Low-variety (= die Sprache der niedrigen Funktionen bzw. L-Varietät, Volkssprache), die Standard-Varietät als High-variety (= Sprache der hohen Funktionen bzw. H-Varietät) (vgl. Clyne 1994: 261; Sinner 2001: 126). Die H-Varietät wird in formellen Kontexten eingesetzt, die L-Varietät dagegen in informellen Kontexten, in mündlicher, intimer und ungezwungener Atmosphäre (vgl. Clyne 1994: 265; Sinner 2001: 126; Fasold 2004: 35). H- und L-Varietät sind bei Ferguson Varietäten einer einzigen Sprache oder zweier genetisch eng verwandter Sprachen (vgl. Kremnitz 2004: 159). „The attitude of speakers in diglossic communities is typically that H is superior, more elegant, and more logical language“, so Fasold (2004: 36). „L is believed to be inferior even to the point that its existence is denied“, erklärt er weiter (ebd.). Eine Wertung, die lange Zeit kennzeichnend für das Verhältnis der Luxemburger gegenüber ihrer Muttersprache war.1 Joshua Fishman entwickelt um 1964 den Ansatz von Ferguson weiter. Unter Bilingualismus versteht er eine Charakterisierung des persönlichen (individuellen) Sprachverhaltens, während Diglossie für ihn eine sprachliche Ordnung auf soziokultureller Ebene ist (vgl. Sinner 2001: 126). Er lässt die Bedingung der genetischen Verwandtschaft fallen und spricht stattdessen allgemein von zwei verschiedenen Sprachformen (vgl. ebd.).2 Auch in Fishmans Diglossie-Modell gibt es also eine H-Varietät für formellere Zwecke und eine L-Varietät für weniger formelle und private Zwecke (vgl. Fasold 2004: 43). Er verbindet diese Überlegungen mit dem soziolinguistischen Begriff der Domäne, einem Begriff für den kontextspezifischen Sprachgebrauch (vgl. Clyne 1994: 261). Die Kategorisierungshilfe der Domäne wird von Iwar Werlen (2004: 335) folgendermaßen definiert:

Domänen (engl. domains) des Sprachgebrauchs oder der Sprachwahl sind definiert als abstrakte Konstrukte, die durch zu einander passende Orte, Rollenbeziehungen und Themen bestimmt sind […]; sie bestimmen die Wahl einer Sprache oder einer Variante in einer mehrsprachigen Sprachgemeinschaft mit. Beispiele für Domänen sind Familie, Nachbarschaft, Arbeitsplatz, Kirche und staatliche Verwaltung. Art und Anzahl der Domänen können je nach Sprachgemeinschaft und Kultur variieren.

Domänen können somit für die Sprachwahl verantwortlich sein (vgl. ebd.: 338). Sprecher tendieren dazu in mehrsprachigen Ländern (in denen die Sprachenverwendung nicht primär regional zu erklären ist), basierend auf ihrem Wissen über das erwünschte Verhalten in der Gesellschaft, die einen Sprachen/Sprachvarietäten „in one kind of circumstance [zu benutzen und] another variety [/Sprache] under other conditions“, so Fasold (2004: 34). Er schlägt in The Sociolinguistics of Society (2004) eine breite Definition des Diglossie-Begriffs vor:

BROAD DIGLOSSIA is the reservation of highly valued segments of a community’s linguistic repertoire (which are not the first to be learned, but are learned later and more consciously, usually through formal education), for situations perceived as more formal and guarded; and the reservation of less highly valued segments (which are learned first with little or no conscious effort), of any degree of linguistic relatedness to the higher valued segments, from stylistic differences to separate languages, for situations perceived as more informal and intimate (ebd.: 53).

Für das berufliche und private Vorankommen kann es entscheidend sein, über das passende Sprachverhalten in den verschiedenen Gesellschaftsdomänen Bescheid zu wissen. Es ist davon auszugehen, dass unter den Bewohnern Luxemburgs ein solches Domänenwissen besteht, das ihnen bei der Entscheidung hilft, welche Sprache sie in welchem Kontext vorzugsweise auswählen sollen. Entscheidende Entwicklungen haben jedoch dazu geführt, dass dieses Wissen, von außen betrachtet, nur noch schwer zu dechiffrieren ist. Luxemburgisch ist nicht mehr ohne Weiteres als L-Varietät einzustufen, da die Sprache in H-Domänen (wie etwa der Politik) zum Einsatz kommt und der sprachsystemische Ausbau mittlerweile so weit vorangeschritten ist, dass sie sich zunehmend auf den Schriftbereich ausweitet. Die französische Sprache ist mit der demographischen Entwicklung des Landes zu einer lingua franca geworden, der im mündlichen und im schriftlichen Bereich eine hohe kommunikative Reichweite zugeschrieben wird. Neben dem Standardfranzösischen, das in schriftbasierten H-Domänen verwendet wird, hat sich, aufgrund der verstärkten nationen- und milieuübergreifenden Verwendung, auch eine standardferne Varietät des Französischen ausgebildet, die als Umgangssprache, als L-Varietät, im Land gesprochen wird.3 Stellenwert und kommunikative Reichweite der deutschen Sprache werden, aufgrund des hohes Anteils an Zuwanderern, die die französische Sprache als Kommunikationssprache in Luxemburg auswählen, vermehrt angezweifelt. Auf den einzelnen Feldern der Gesellschaft bewegen sich verschiedene Sprachgruppen, die über jeweils unterschiedliche Sprachkenntnisse verfügen und auf der Basis ihrer Kompetenzen individuelle Strategien entwickeln, um sich in Luxemburg mitzuteilen. Sie lernen die Kontexte kennen, in denen eine H-Varietät verwendet werden muss und in denen eine L-Varietät verwenden werden kann. Es hängt von ihrer Sprachbiographie und ihrem Sprachrepertoire ab, ob sie die erwünschte Sprache bzw. lediglich eine ‚tolerierte’ auswählen können. Durch ihre Strategien verändern sie die sprachliche Ordnung auf der soziokulturellen Ebene.

Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Koch/Oesterreicher)

Verschiedene Sprachen (und nicht mehr nur die drei Sprachen ‚Luxemburgisch, Deutsch, Französisch’) tauchen gegenwärtig in der alltäglichen mündlichen oder schriftlichen Kommunikation in Luxemburg auf. Welche Positionen, Bewertungen und Funktionen dabei der deutschen Sprache zuteil werden, wird diese Arbeit Schritt für Schritt aufzeigen. Um die komplexe funktionale Verteilung der Sprachen erfassen zu können, wird im weiteren Verlauf an einigen Stellen auf die Terminologie von Peter Koch und Wulff Oesterreicher (1985; 1994) zurückgegriffen. Koch/Oesterreicher haben den Begriffen ‚mündlich’ und ‚schriftlich’ mehr Trennschärfe verliehen. Sie unterscheiden zwischen der medialen Realisierung von Sprache und ihrer Konzeption. Medial bezieht sich auf die phonische oder graphische Realisierung des Sprachlichen. Eine Äußerung wird entweder medial-mündlich (mit Lauten, phonisch) oder medial-schriftlich (mit Schriftzeichen, graphisch) übermittelt. Von der medialen Realisierung zu unterscheiden ist die in einer Äußerung gewählte Ausdrucksform. Unabhängig davon, ob sie phonisch oder graphisch realisiert wird, kann sie eher mündlich, d.h. eher informell, oder stärker schriftlich, d.h. formell, konzipiert werden. Während der phonische Kode klar vom graphischen Kode zu unterscheiden ist, weist die Konzeption einer Äußerung zahlreiche Abstufungen auf (vgl. Koch/Oesterreicher 1985: 17). Am äußersten Pol konzeptioneller Mündlichkeit liegt etwa das Alltagsgespräch unter Freunden, am äußersten Pol konzeptioneller Schriftlichkeit zum Beispiel der Gesetzestext, dazwischen verschiedene Text-/Gesprächssorten (vgl. Gilles 2011: 50). Kommunikationssituationen können wie folgt gestaltet sein:

 Medial-mündlich und konzeptionell-mündlich (z.B. Telefongespräch unter Freunden)

 Medial-mündlich aber konzeptionell-schriftlich (z.B. Vorlesung an der Universität)

 Medial-schriftlich und konzeptionell-schriftlich (z.B. Bewerbungsschreiben)

 Medial-schriftlich aber konzeptionell-mündlich (z.B. Grußkarte aus dem Urlaub)(vgl. ebd.: 48).

Für diese verschiedenen Kommunikationssituationen kommen in Luxemburg unterschiedliche Sprachen/Varietäten infrage. Die Sprachwahlentscheidung fällt abhängig von der Sprecherkompetenz, der Sprachbiographie und basierend auf dem Domänenwissen, das auch Wissen über die Sprachkompetenzen möglicher Rezipienten beinhaltet.

Nähe-Sprache, Distanz-Sprache

Ein weiteres Begriffspaar, das Koch und Oesterreicher (1985) eingeführt haben, ist das der Sprache der Nähe und der Sprache der Distanz. Die Endpole konzeptionell-schriftlich und konzeptionell-mündlich wurden mit Hilfe dieser Begriffe markiert (vgl. ebd.). Für konzeptionelle Schriftlichkeit sprechen die Kommunikationsbedingungen ‚Monolog’, ‚Fremdheit der (Gesprächs-)Partner’, ‚raumzeitliche Trennung’, ‚Themenfixierung’, ‚Öffentlichkeit’, ‚Reflektiertheit’, ‚Situationsentbindung’, ‚Objektivität’ und die Versprachlichungsstrategien ‚Endgültigkeit’, ‚Informationsdichte’, ‚Kompaktheit’, ‚Elaboriertheit’, ‚Planung’, ‚Komplexität’ etc. (vgl. Koch/Oesterreicher 1985: 23).

Den Mündlichkeitspol kennzeichnen demgegenüber die Kommunikationsbedingungen ‚raum-zeitliche Nähe’, ‚Privatheit’, ‚Vertrautheit’, ‚Emotionalität’, ‚Situations- und Handlungseinbindung’, ‚kommunikative Kooperation’, ‚Spontaneität’ etc. (vgl. Koch/Oesterreicher 1994: 588). Folgende Versprachlichungsstrategien kennzeichnen den Nähebereich: ‚Prozesshaftigkeit’, ‚Vorläufigkeit’, ‚geringere Informationsdichte’, ‚geringe Kompaktheit’, ‚geringe Elaboriertheit’, ‚geringere Planung’, ‚geringere Komplexität’ etc. (vgl. Koch/Oesterreicher 1985: 23). In der vorliegenden Arbeit wird das Begriffspaar Sprache-der-Nähe/Sprache-der-Distanz vor allem metaphorisch verwendet unter dem Teilaspekt der sozialen, emotionalen Nähe und Vertrautheit (vgl. Koch/Oesterreicher 1994: 588). Es wird deutlich werden, dass Sprachen in bestimmten Situationen als vertraute Nähesprachen eingestuft werden und in anderen Situationen aus bestimmten Gründen emotional in die Distanz rücken.

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